Archiv für die Kategorie ‘Allgemeines’

Sühneopfer als Tor ins Himmelsreich

Hugo Stamm am Donnerstag den 3. Februar 2011
GERMANY/

Das Sühneopfer Jesu Christi diente der Tilgung der Erbsünde: Passionsumzug in Süddeutschland.

Diesen Impulstext hat der inverse Goliath verfasst:

Nachdem ich mehrfach eine Idee für einen eigenen Leadtext wieder verworfen habe, gibt sich hier durch die beiden letzten Impulstexte rund um den Sündenfall im Garten Eden und die Opferung eines Menschenlebens die gute Möglichkeit, einige Fragen in die Runde zu werfen. Ausserdem geht daraus hervor, wieso ich, wie hier mehrfach erklärt, die Bibel nicht per se als verstaubtes Buch betrachte, sondern den Reichtum der Geschichten und die Symbolik derselben als für mich wertvoll erachte.

Die relativ unbestrittene Kernaussage des Christentums beruht auf dem Kreuztod Jesu Christi. Das Sühneopfer auf Golgatha ermöglichte der Menschheit, laut der christlichen Lehre, sich mit Gott zu versöhnen, die Erbsünde Adams abzulegen und dereinst ins Himmelreich einzugehen. Die These findet sich im Apostolischen Glaubensbekenntnis ebenso wie im Nicäanischen, im Lutherischen und sowie in nahezu jedem Glaubensbekenntnis der Freikirchen. Es steht in den Evangelien, wie auch schon bei Paulus im ersten Korintherbrief. Christus ist für unsere Sünden gestorben und begraben worden und am dritten Tag wieder auferstanden, auf dass wir errettet werden.

Aufgrund verschiedener Bemerkungen, auch hier im Blog, stellen sich mir folgende Fragen:

Wann ist ein Opfer ein Opfer?
Wer hat mit Jesus Kreuzestod ein Opfer gebracht und was bedeutet dieses Opfer?
Was würde es bedeuten, wenn der Tod Christi als Sühneopfer wegfallen würde?

Diese Fragen stellen sich unter der Prämisse der Geschichten, wie sie die Bibel darstellt. Jesus hat gelebt und ist am Kreuz gestorben. Nicht der Kreuztod Jesu soll also angezweifelt werden, sondern der Sinn dahinter.

Die erste Frage dient der Definition. Was stellen wir uns unter einem Opfer vor? Meinem Empfinden nach ist es eine, meist bewusste, Handlung zur Erreichung eines bestimmten Ziels. Im religiösen Zusammenhang ist es also die Bitte an eine metaphysische, übergeordnete Macht, ausgedrückt durch die (rituelle) Darbringung eines physischen oder nicht-physischen Gegenstandes. In unserem Sprachgebrauch sollte diese Handlung etwas enthalten, das einem teuer ist. Ich gebe etwas auf, um etwas (Besseres) zu erhalten. Die Witwe, die all ihr Geld in den Gotteskasten legte, bringt ein Opfer dar, das von Jesus selbst gewürdigt wurde (Markus 12:41). Oder die Frau, die eine alabasterne Flasche voll kostbarer Salbe auf Jesus Haupt goss, worüber sich die Jünger entrüsteten (Matthäus 26:6).

Damit stellt sich in der zweiten Frage, wer mit Jesus am Kreuz ein Opfer dargebracht hat und welchen Stellenwert dies beim Opferbringer darstellt. Laut der Schrift opfert Gott hier seinen menschgewordenen Sohn, um dadurch die Erbsünde Adams zu tilgen. Neben der bewusst vermiedenen Frage, wieso Gott genau diese Art der Sündentilgung wählt und ob ein Gott der bedingungslosen Liebe durch ein blutiges Opfer überhaupt versöhnt wird, stellt sich mir hier Jesus als eine umstrittene Opfergabe dar. Gott ist sich unter der Prämisse seiner Allmacht und Allwissenheit gegenwärtig, dass sein Sohn am Kreuz stirbt, um wieder aufzuerstehen und neben ihm im Himmel zu sitzen. Jesus selber wusste, dass sein Tod unumgänglich war, aber auch, dass er danach wieder vereint mit seinem Vater im Himmel ist. Zudem gibt sich Gott als Opferbringer gleich selbst vor, was ihn zufriedenstellen wird. Ein Zirkelschluss.

Es stellt sich also die berechtigte Frage, wie stark so ein Opfer gewichtet werden kann, in der die Beteiligten selber involviert sind und wissen, dass es ein vorübergehendes Ereignis ist und auf ihr persönliches ‹Leben› weiter keinerlei Auswirkungen hat.

Wenn wir uns aufopfern, um etwas zu retten, das uns teuer ist, dann gehen wir das Risiko ein, nicht zu wissen, ob es etwas nützt. Trotzdem geben wir alles, unter Umständen unser eigenes Leben, um unser Liebstes zu schützen oder in der Hoffnung darauf, dass die Zukunft besser ist. Gott und Jesus gingen dieses Risiko nicht ein. Sie hofften nicht, sie wussten um den Ausgang der Dinge.

Was also ist dieses Sühneopfer wert? Und was bedeutet es, wenn Christus Tod als Opfergabe wegfällt? Jeder darf das für sich selber beantworten. Die Tat verändert sich nicht, wohl aber der tiefere Sinn. Jesus ist immer noch am Kreuz gestorben, nun aber nicht mehr um der Erbsünde willen, sondern aufgrund seiner Lehre. Das Glaubensbekenntnis bekommt eine andere Bedeutung und richtet sich nach dem Inhalt der Lehre Jesu und nicht an der Bosheit der Menschen. Allein dadurch kann sich das Grundempfinden des Christentums ändern, weg vom ewigen Leidens- und Sündenpfad, hin zur Entdeckung der Symbolik hinter den Geschichten und Gleichnissen Jesus. Er ist nicht für unsere Sünden gestorben, sondern durch unsere Sünden. Die Lehre der Erbsünde Adams ist hinfällig. Jesus selber sagt in Johannes 20:23 «Welchen ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben.» Der Opfertod Jesus am Kreuz verändert sich in der Bedeutung und gewinnt durch das zweite Gebot Jesus: «Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.»  (Matthäus 22:39)

Wie viel ist ein Leben wert?

Hugo Stamm am Mittwoch den 26. Januar 2011

TUNESIEN UNRUHEN

Mohammed Bouazizi

Erkämpfte mit seinem Suizid für sein Volk die Freiheit: Mohammed Bouazizi.

In Kairo und andern Städten Ägyptens gingen diese Woche Tausende von wütenden Menschen auf die Strasse, um gegen das Regime von Präsident Hosni Mubarak zu protestieren. Mubarak hat das Land am Nil seit fast 30 Jahren fest im Griff. Den rund 15’000 Demonstranten standen 20’000 bis 30’000 Polizisten gegenüber. Dies sagt viel aus über das Machtgebaren des autoritären Staatschefs und den Umgang mit «seinem Volk».

Der Protestvirus ist von Tunesien auf Ägypten übergesprungen. Ausgelöst hat ihn ein unbekannter 26-jähriger Mann: Mohammed Bouazizi hat sich in seiner Verzweiflung selbst verbrannt und damit die Weltöffentlichkeit auf die katastrophale politische, wirtschaftliche und soziale Situation aufmerksam gemacht. Und auf die Unterdrückung des Volkes.

Mit seinem Suizid rüttelte er weite Teile der benachteiligten Bevölkerung auf. Die Protestwelle fegte den korrupten Autokraten Ben Ali weg. Der junge Tunesier hat kaum geahnt, dass er mit seiner Selbstverbrennung eine bisher erstaunlich friedliche Revolution auslösen würde. Eine Revolution, die vielleicht auch Ägypten erfasst und auf andere arabische Staaten übergreift, die von machtbesessenen Herrschern geführt werden.

Rückblickend ist man geneigt zu sagen, dass der Tod von Mohammed Bouazizi Sinn gemacht hat. Mit seinem Suizid hat er seine Landsleute mindestens teilweise aus der Knechtschaft befreit und die korrupte Familie Ben Alis in die Flucht geschlagen. Politische Gefangene wurden befreit und der politische Bewusstseinsprozess beschleunigt. Was immer auch die neue Regierung tut, sie darf sich keine offensichtlichen Ungerechtigkeiten erlauben, sonst werden die Tunesier wieder auf die Strasse gehen. Und: Vielleicht löst Mohammed Bouazizi mit seiner Selbstverbrennung einen Domino-Effekt aus, vielleicht protestieren noch weitere unterdrückte Länder gegen die Unterjochung.

Doch: Darf man aus ethischer und moralischer Warte einen Menschen «opfern», um eine politische Veränderung herbeizuführen? Wie steht es mit den religiösen Dogmen zu dieser Frage? Laut christlicher Lehre ist Suizid Sünde. Ist es dies auch, wenn damit die Freiheit für ein ganzes Volk erkämpft wird und unter Umständen viele Menschenleben gerettet werden können? Ist die Befreiung eines Landes von der Knechtschaft mehr wert als das Leben von Mohammed Bouazizi und der rund 70 Personen, die bei den Revolten in Tunesien ums Leben gekommen sind?

Die Angst schuf Gott

Hugo Stamm am Dienstag den 18. Januar 2011
Aus dem Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle: Die Erschaffung des Menschen – oder eher die Erschaffung Gottes durch den Mensch?

Aus dem Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle: Die Erschaffung des Menschen – oder eher die Erschaffung Gottes durch den Mensch?

These: Ohne Todesbewusstsein würde der Gottesbegriff nicht existieren.

Wir nähern uns dem Gottesbegriff in aller Regel aus einer religiösen Warte heraus. Gott gehört in die Kategorie des Glaubens. Gott ist aber auch ein psychologisches Phänomen: Wie ist der Mensch auf Gott gekommen? Was fasziniert ihn am Gottesphänomen? Welche psychologische Funktion erfüllt Gott?

Wären Adam und Eva nicht aus dem Paradies gewiesen worden, wäre ihnen Gott vermutlich auf immer verborgen geblieben. Die ersten Menschen – nach christlicher Mythologie – waren glücklich und entbehrten nichts: Es herrschte totaler Friede, sie mussten sich keine existenziellen Sorgen machen. Es war immer angenehm warm, das Essen flog ihnen in den Mund. Ängste kannten sie nicht, Grenzen auch nicht. Und vor allem: Der Tod existierte nicht. Sie lebten eben im sprichwörtlichen Paradies.

Deshalb hatten Adam und Eva schlicht keinen Grund, sich mit metaphysischen und transzendentalen Fragen auseinanderzusetzen. Denn im Paradies braucht es keinen Gott, da genügt der sich Mensch selbst.

Der aktuelle Lebensraum von uns Menschen hat wenig mit einem Paradies zu tun. Wir sind permanent Gefahren und Krankheiten ausgesetzt. Uns begleitet das Bewusstsein des Leidens und der Endlichkeit. In dieser Ohnmacht sind unsere Vorfahren auf die Götter gekommen. Schicksalsschläge erlebten sie als Strafe. Strafe braucht einen Verursacher oder Urheber. Das muss jemand sein, der übernatürliche Kräfte und Macht über das Leben besitzt. So kam der Mensch auf ein allmächtiges Wesen – eben Gott.

Und weil sich unsere Ahnen nicht vorstellen konnten, wie das kolossale Universum entstanden ist, erschufen sie ebenfalls die Götter – und später den monotheistischen Gott – der gleich noch für die Erschaffung des Kosmos verantwortlich ist.

Gott entstand – psychologisch gesehen – aus Angst, Ohnmacht, Unwissen. Alle Phänomene, die wir kognitiv begrenzten Menschen nicht erklären können, schieben wir auf eine übersinnliche Ebene. Davon profitiert Gott. Lebten wir immer noch im Paradies, käme kein Mensch auf die Idee, sich mit Gott zu beschäftigen.

Viele Christen glauben nicht an personalen Gott

Hugo Stamm am Dienstag den 28. Dezember 2010

Mein Redaktionskollege Guido Kalberer hat ein bemerkenswertes Interview mit Michael Schmidt-Salomon geführt. Der deutsche Philosoph ist Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung. Ich stelle jenen Teil des Interviews zur Diskussion, das sich mit den Fragen der neuen Religiosität und der Kritik am Christentum befasst.

Die meisten Kirchenmitglieder sind (Tauf-)Schein-Mitglieder: Michael Schmidt-Salomon.

Die meisten Kirchenmitglieder sind (Tauf-)Schein-Mitglieder: Michael Schmidt-Salomon.

Die Wiederkehr der Religionen heute muss ein Schock für einen Religionskritiker wie Sie sein.

Nicht unbedingt, ich habe diese Entwicklung schon Anfang der Neunzigerjahre prognostiziert. Es war ersichtlich, dass die Säkularisierung kein linearer, sondern ein ambivalenter Prozess ist. Es gibt also nicht nur einen Trend weg von der Religion, sondern auch eine Bewegung hin zur Religion. In Westeuropa ist der Säkularisierungstrend allerdings stärker: Eine Umfrage in Deutschland zum Beispiel ergab, dass nur noch 23 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder an einen personalen Gott glauben – was immerhin eine Grundvoraussetzung dafür ist, um sich redlicherweise als Christ bezeichnen zu können.

Ist die Säkularisierungswelle noch grösser als die Religionswelle?

Für Europa gilt dies zweifellos. So gibt es in Deutschland bereits mehr konfessionsfreie Menschen als Katholiken oder Protestanten. Zudem stimmt die Mehrheit der Kirchenmitglieder nicht mehr mit den zentralen Dogmen des christlichen Glaubens überein. Die meisten Kirchenmitglieder sind bei genauerer Betrachtung Schein-Mitglieder, genauer gesagt: Taufschein-Mitglieder. Man hat sie als Säuglinge getauft, weshalb man sie religiösen Institutionen zurechnet. Doch die zentralen Auffassungen dieser Institutionen teilen sie nicht.

Was hält die Leute religiös denn noch bei der Stange?

Eine interessante Frage: Was hält Menschen in einer Institution, die sie Geld kostet, wenn sie zentrale Elemente der Vereinssatzung ablehnen? Dafür gibt es vor allem soziale und ökonomische Gründe. Immerhin sind Caritas und Diakonisches Werk die grössten nicht staatlichen Arbeitgeber Europas. Jemand, der im sozialen oder medizinischen Bereich arbeitet, als Psychologe, Arzt oder Krankenpfleger, kann es sich in bestimmten Regionen gar nicht leisten, aus der Kirche auszutreten. Denn die Kirchen, die grössten Arbeitgeber auf diesem Gebiet, nutzen noch ihr Recht zur weltanschaulichen Diskriminierung, obwohl die Dienstleistungen, die sie erbringen, weitestgehend öffentlich finanziert werden. Solange es bei dieser verfassungswidrigen Regelung bleibt, sind weite Teile der Bevölkerung zwangskonfessionalisiert.

Wie ordnen Sie die Gläubigen ein, die wieder selbstbewusster zu ihrer Religion stehen?

Parallel zum Säkularisierungstrend gibt es einen Trend zur Verschärfung religiöser Bekenntnisse. Entweder werden die Menschen konsequenter religiös oder konsequenter areligiös. Das erklärt, warum der aufgeklärte Protestantismus an Bedeutung verliert, während die evangelikalen Kirchen zulegen. Die akademische Theologie hat ihre Pointen verloren. Die Erlösungstat Jesu ist ohne Voraussetzung von Hölle und Teufel so packend wie ein Elfmeterschiessen ohne gegnerische Mannschaft. Wenn der Teufel zum Spiel gar nicht mehr antritt, wird die biblische Erzählung belanglos. Übrig bleibt ein «religiöser Dialekt», der fromm klingt, es aber nicht mehr so meint. Menschen, die wirklich glauben wollen, befriedigt das nicht.

Kommt es zu einer Polarisierung?

Ja. Der aufgeklärte Glaube verliert seine Funktion als Vermittlungsinstanz zwischen konsequentem Säkularismus und religiösem Fundamentalismus. Das ist, wie es scheint, ein unaufhaltsamer Prozess, den man nicht ignorieren sollte.

Wie schätzen Sie den Islam ein?

Im Unterschied zum europäischen Christentum war der Islam nicht gezwungen, durch die Dompteurschule der Aufklärung zu gehen. Insofern musste er sich keine zivileren Umgangsformen angewöhnen. Es gab zwar im neunten und zehnten Jahrhundert eine bemerkenswerte Hochphase der Aufklärung innerhalb der muslimischen Kultur, aber das ist schnell abgewürgt worden. Und so werden wir heute mit unaufgeklärten Formen des Islam konfrontiert, was für Mitteleuropäer eine recht ungewohnte Erfahrung ist. An Light-Christen gewöhnt, sich wir nicht geübt, mit religiösen Kräften umzugehen, die sich selbst noch todernst nehmen.

Das Christentum hat das Stahlbad der Ironie ja schon hinter sich.

Man hat das Gefühl, dass in Europa selbst Bischöfe das, was sie predigen und zelebrieren, nicht immer ganz ernst nehmen. Beim Islam ist das anders. Zwar gibt es viele säkulare und liberale Muslime, aber eben auch erschreckend viele Gläubige, die den Koran so ernst nehmen, dass sie unter Umständen ihr Leben im Diesseits für ein fiktives Leben im Jenseits opfern. Deshalb greifen unsere Drohgebärden nicht. Sie gründen ja auf der säkularen Annahme, dass letztlich nur dieses eine, irdische Leben zählt.

Was hilft in diesem Konflikt denn weiter?

Der kulturelle Relativismus, den viele Europäer heute vertreten, ist in diesem Konflikt keine Hilfe. Im Gegenteil. Die postmoderne Haltung «leben und leben lassen» führt dazu, dass viele ihr Leben lassen müssen. Wenn im Iran Frauen wegen Ehebruchs gesteinigt werden, schauen wir meist ratlos zu, statt die universellen Werte von Humanismus und Aufklärung entschieden zu verteidigen.

Die Frau – ein Missgriff der Natur

Hugo Stamm am Donnerstag den 9. Dezember 2010
PASSION PLAY

Die Frau als Dienerin des Mannes: Maria Magdalena und Jesus Christus, Passionsspiele Oberammergau.

Die traditionsbewussten christlichen Gläubigen – inklusive Klerus – sind stolz auf ihre Kirchengeschichte. Sie geben zwar ein paar Ausrutscher mehr oder weniger willig zu – Kreuzzüge, weltlicher Machtmissbrauch der Kirche bis in die jüngere Zeit, Inquisition -, doch sie verweisen auf die ungleich segensreicheren Errungenschaften ihrer Kirche: Nächstenliebe, ethische und moralische Normen, Bedeutung des Individuums, das von Gott grenzenlos geliebt wird.

Mit Stolz erfüllt sie auch, dass der Ursprung der grössten Religion von einem einst unbedeutenden Wanderprediger ausgegangen ist. Er, der lediglich ein paar Jünger um sich geschart hatte, erfuhr nach seinem Tod eine weltweite Verbreitung. Viele Gläubige erkennen darin das Werk Gottes; sie werten die Ausbreitung des Christentums als indirekten Gottesbeweis.

Die Geisteskraft, die vom christlichen Glauben ausgeht, erkennen viele Christen auch im Werk berühmter Kirchenväter: Thomas von Aquin, Franz von Assisi, Augustinus und in der jüngeren Geschichte Martin Luther. Diese christlichen Denker und Mystiker haben zwar durchaus bedeutende und tiefsinnige Erkenntnisse gewonnen, doch ihre Weisheit stiess auch an Grenzen. Vor allem dort, wo sie im Zeitgeist gefangen waren. Besonders deutlich lässt sich dies am Frauenbild dieser Herren ablesen.

Für Augustinus ist das Weib ein minderwertiges Wesen, das von Gott nicht nach seinem Ebenbild geschaffen wurde. Es entspreche der natürlichen Ordnung, dass die Frauen den Männern dienen würden.

Franz von Assisi etwa sagte, wer mit dem Weibe verkehre, beflecke seinen Geist. Mit den Tieren ist der Kirchenvater pfleglicher umgegangen.

Thomas von Aquin bezeichnete die Frau als ein Missgriff der Natur, als eine Art verstümmelter, verfehlter, misslungener Mann. Die volle Verwirklichung der menschlichen Art sei nur der Mann.

Und für Luther, der doch ein paar Jahrhunderte später wirkte, ist die grösste Ehre des Weibes, dass die Männer durch sie geboren werden. Der Tod im Kindbett sei nichts weiter als ein Sterben im edlen Werk und Gehorsam Gottes.

Diese weisen Kirchenlehrer hätten sich nur an Jesus und seine Lehre erinnern müssen, um ihre geistigen Ausfälle zu verhindern. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Und sie hätten beobachten können, dass Frauen fürsorgliche Mütter sind, die ihre Söhne, Vertreter des edlen Geschlechts, mit Liebe grossziehen. Oder es hätte ihnen auffallen können, dass die „minderwertigen Frauen“ die Existenz der Männer entscheidend sicherten und im Bett für wohlige Wärme sorgen. Es wäre noch einfacher gegangen: Frauen sind Geschöpfe Gottes wie die Männer.

Doch die werten Herren liessen sich von der ideologisch motivierten Unterdrückung der Frau anstecken. Sie hatten ein offenes Herz für Gott und die Tiere, aber für das Wichtigste und Naheliegendste fehlte ihnen der Sinn. Hätten sie nur einen Monat lang ohne Frauen leben müssen, wäre ihnen ihre Dummheit wohl selbst aufgefallen.

Mythos Seele

Hugo Stamm am Freitag den 26. November 2010

Der nachfolgende Impulstext hat Ronald Wild alias «ungläubiger Katechet» verfasst.

DEU AUSSTELLUNG CRANACH

Wo war seine Seele seit der Kreuzigung? Die Auferstehung Christi, Altarbild von Lucas Cranach d. Ä. (Bild: Keystone/Bayrische Gemäldesammlung

Was fast allen Religionen oder spirituellen Philosophien gemeinsam ist, ist der Glaube an eine unsterbliche Seele. Also ein «feinstoffliches», geistähnliches Etwas, das unseren biologischen Tod überdauert.

Je nach Religion oder spiritueller Ausrichtung geht die Seele nach dem irdischen Tod ein in ein Paradies respektive Himmelreich oder Hölle oder wird wiedergeboren in einem neuen Menschen oder sogar einem «heiligen» Tier.

Für all diese Transformationen unserer Seele gibt es aber in keiner Religion einen handfesten Beweis. Sie beruhen auf Behauptungen von spirituellen Führern und Propheten wie Jesus, Mohammed, Krishna, etc.

Was mich speziell von denjenigen, die an ein „Leben nach dem Tod» glauben, interessieren würde, ist, wie sie sich diese Existenz vorstellen. Und wie diese unsterbliche Seele beschaffen sein soll.

Meiner bescheidenen Meinung nach müsste die Seele folgende Eigenschaften besitzen, damit sie überhaupt die Transzendenz wahrnehmen kann. Sie müsste eben eine Wahrnehmung haben, damit sie weiss, was mit ihr geschieht und wo sie sich befindet (Himmel oder Hölle, etc.). Sie müsste ein Bewusstsein haben, damit sie weiss, in welchem Körper sie zuvor gelebt hat. Zudem müsste sie eine Empfindung haben, damit sie die Freuden eines Paradieses oder die Qualen der Hölle wirklich erleben könnte.

Um die Existenz der Seele beweisen zu können, berufen sich viele auf die zahlreichen Schilderungen von Nahtoderfahrungen. Dass die Seele den Körper bereits vor dem eigentlichen Tod (Ausfall aller Hirnfunktionen) verlässt und dann wieder in den Körper zurückkehrt, ist für mich nicht plausibel. Die Nahtoderfahrungen sind neuronale Abläufe im Gehirn, die entstehen durch die Todesangst bei Herzstillstand.

Der einzige «göttliche» Mensch, der uns wirklich über seine Erfahrungen nach dem Tod hätte berichten können, wäre Jesus nach seinem Tod am Kreuz gewesen. Er hat zwar über das Himmelreich seines Vaters gesprochen, wo sich aber seine Seele bis zur Auferstehung befand, darüber finden wir in der Bibel keine Aussagen.

Zudem sagte er zu einem der Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt wurde: «Jesus antwortete ihm: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.» (LK 23)
Aber als Jesus am dritten Tag wieder auftauchte, sagte er seinen Jüngern und Getreuen nur, dass er wirklich lebe, und auch der ungläubige Thomas konnte sich anhand seiner Wunden überzeugen, dass er wirklich Jesus war.

Ich gehe davon aus, dass der Menschensohn Jesus nach seiner Abnahme vom Kreuz nicht tot war, sondern lediglich in einem tiefen Koma, aus dem er nach der Grablegung erwacht ist. Darauf deutet der folgende Bibeltext von Markus 15 hin:

«Da es Rüsttag war, der Tag vor dem Sabbat, und es schon Abend wurde ging Josef von Arimathäa, ein vornehmer Ratsherr, der auch auf das Reich Gottes wartete, zu Pilatus und wagte es, um den Leichnam Jesu zu bitten. Pilatus war überrascht, als er hörte, dass Jesus schon tot sei. Er ließ den Hauptmann kommen und fragte ihn, ob Jesus bereits gestorben sei: Als der Hauptmann ihm das bestätigte, überließ er Josef den Leichnam. Josef kaufte ein Leinentuch, nahm Jesus vom Kreuz, wickelte ihn in das Tuch und legte ihn in ein Grab, das in einen Felsen gehauen war. Dann wälzte er einen Stein vor den Eingang des Grabes. Maria aus Magdala aber und Maria, die Mutter des Joses, beobachteten, wohin der Leichnam gelegt wurde.»

Der Todeskampf am Kreuz konnte damals 24 Stunden und mehr dauern und darum war Pilatus erstaunt, dass Jesus bereits nach 6 Stunden tot sein soll (siehe Vers 44).
Fazit: Noch niemandem, auch nicht Jesus, ist es gelungen, die Existenz einer «unsterblichen» Seele plausibel zu erklären oder zu beweisen.

PS: Ich bin bis zu Weihnachten in den Ferien und habe nicht immer Empfang, um den Blog zu verfolgen. In den «toten Zeiten» übernimmt eine Kollegin vom Newsnetz den Part. Ich wünsche allen eine gute Adventszeit. (Neue Impulstexte werde ich selbstverständlich rechtzeitig von unterwegs aufschalten.) Hugo Stamm

Atheisten wissen mehr

Hugo Stamm am Mittwoch den 10. November 2010

In den USA sind Glaube und Religiosität so weit verbreitet wie kaum in einem andern westlichen Land. Der Einfluss der Gläubigen auf Gesellschaft und Politik ist trotz offizieller Trennung von Kirche und Staat erstaunlich gross. Kandidaten für politische Ämter buhlen stets um die Gunst der Gläubigen. Ein Atheist hätte keine Chance, in ein höheres Amt gewählt zu werden. Spielt bei uns die Religionszugehörigkeit bei Wahlen selten eine Rolle, muss ein Kandidat in den USA quasi öffentlich ein Bekenntnis ablegen.

Der Glaube ist in den USA im Alltag wichtig, das Wissen aber rudimentär. Eine Umfrage bei 3412 Amerikanern zu Bibel, Christentum, anderen Weltreligionen, berühmten religiösen Figuren und Religionsgeschichte hat erstaunliche Resultate ergeben.

Nicht die Gläubigen, die in den USA besonders häufig Gottesdienste besuchen, haben am besten abgeschnitten, sondern Personen, die mit Religion nichts am Hut haben. Konkret: Am schlechtesten beantwortet haben die Fragen weisse evangelikale Protestanten, gefolgt von weissen Katholiken und lateinamerikanische Katholiken. Diese beantworteten nur jede dritte der 32 Fragen richtig.

Unter den Gläubigen schnitten die Katholiken oder Protestanten am besten ab. Sieger wurden die Atheisten: Sie beantworteten durchschnittlich 20,9 der 32 Fragen korrekt. Knapp dahinter folgen die Juden und Mormonen.

Wissen über Religion macht Menschen zu Atheisten

Mormonen und evangelikale Protestanten wussten bei Fragen über die Bibel und das Christentum am besten Bescheid. Atheisten und Juden konnten vor allem bei Fragen über Weltreligionen wie dem Islam, Buddhismus, Hinduismus und Judentum punkten.

Dass Atheisten mehr über Religionen wissen als die Gläubigen erstaunt Dave Silverman, den Präsidenten der amerikanischen Atheisten, nicht. «Atheismus ist die Folge dieses Wissens, nicht das Fehlen des Wissens. Ich gab meiner Tochter eine Bibel. So macht man aus jemandem einen Atheisten.» Je mehr man über Religion wisse, desto eher werde man sie als Mythologie verwerfen, sagte er gegenüber FoxNews.com.

Wenig Wissen über die eigene Religion

Viele Interviewte mussten auch bei Fragen über ihre eigene Religion passen. 53 Prozent der Protestanten hatten keine Ahnung, dass Martin Luther die protestantische Reformation begründet hatte. 45 Prozent aller Katholiken wussten nicht, dass für die katholische Kirche Brot und Wein beim Abendmahl keine Symbole sind, sondern tatsächlich zum Körper und Blut von Jesus Christus werden.

Weniger als die Hälfte (43 Prozent) der Amerikaner wussten, dass der Dalai Lama ein Buddhist ist. Und nur 38 Prozent konnten Vishnu und Shiva mit dem Hinduismus in Verbindung bringen. 43 Prozent der Juden wussten nicht, dass Maimonides – einer der führenden rabbinischen Autoritäten und ein Philosoph – ein Jude war. Die Frage zu Maimonides war diejenige, die von allen am wenigsten korrekt beantwortet wurde. 51 Prozent wussten aber, dass Joseph Smith ein Mormone war und für 82 Prozent der Befragten war klar, dass Mutter Teresa dem römisch-katholischen Glauben anhing.

Zu den Fragen gehörte in der Untersuchung unter anderem: Wo wurde Jesus geboren? Was ist der Ramadan? Wessen Schriften inspirierten die protestantische Reformation? Welche biblische Figur führte den Exodus aus Ägypten? Welche Religion hat der Dalai Lama? Die Mutter Teresa? Meist war eine Antwortauswahl vorgegeben.

Es drängen sich Fragen auf:

Führt die geistige Auseinandersetzung mit religiösen Phänomenen dazu, dass man Widersprüche entdeckt und dem Glauben entsagt?
Sind Atheisten gebildeter als Gläubige?

Kümmern sich Gläubige nicht um die Wurzeln ihres Glaubens oder die Zusammenhänge ihrer Heilslehre?
Ist für Gläubige vor allem die soziale Einbettung und die emotionale Berührung in den Gottesdiensten wichtig?

Exorzisten immer gefragter

Hugo Stamm am Mittwoch den 3. November 2010

Die katholische Kirche bildet Priester zu Exorzisten aus. Das ist war früher so, das ist heute nicht anders. Aufhorchen lässt allerdings, dass die katholischen Exorzisten von Jahr zu Jahr mehr angeblich Besessene behandeln müssen. Im letzten Jahr suchten im Bistum Lausanne, Genf und Freiburg rund 550 Menschen Exorzisten auf, weil sie glaubten, vom Satan bedrängt zu werden. Dies schreibt die welsche Zeitung «Le Matin».

Auffällig sind die Steigerungsraten: In den letzten vier Jahren hat sich die Rate verdreifacht. Eine ähnliche Tendenz ist in der übrigen Schweiz zu beobachten.

Im Kanton Waadt ist der Priester Luigi Griffa für Teufelsaustreibungen zuständig. Es gehe darum zu verstehen, was diese Menschen bewege. «Das Problem bleibt aber, wenn diese Leute ihre Sicht der Welt nicht ändern können und auf ein Wunder warten», sagte er gegenüber der Zeitung. In den schlimmsten Fällen seien die Betroffenen im Besitz des Satans. Der Teufel wolle den Mensch schlecht machen und von Gott wegführen. Dies könne in wiederholten Unglücken oder Krankheiten zum Ausdruck kommen.

Die eigentliche «Liturgie zur Befreiung vom Bösen» komme erst dann zum Zuge, wenn die Priester-Exorzisten zur Erkenntnis gelangten, dass die Hilfe suchenden Personen tatsächlich Opfer des Teufels geworden seien. Beim Exorzismus wird mit Gebeten und rituellen Handlungen unter Anrufung der Macht Gottes die Abwehr des Bösen erfleht. Exorzismus ist aber nicht immer ungefährlich: «Für sensible Menschen kann Exorzismus eine traumatisierende Wirkung haben», sagte der auf Religionen spezialisierte Psychiater Samuel Pfeifer «Le Matin».

Das wirft Fragen auf:

Hat der Satan seine Bemühungen verstärkt?

Ist die vermehrte Umtriebigkeit des Teufels Ausdruck der beginnenden Apokalypse, wie sie in der Bibel prophezeit worden ist?

Nehmen die Teufelsaustreibungen parallel zur Zunahme der psychischen Krankheiten, vor allem Depressionen, zu?

Wird der Teufel heute häufiger ausgetrieben, weil die katholische Kirche wieder vermehrt Exorzisten ausbildet?

Will die katholische Kirche den Satan vermehrt als Disziplinierungsinstrument benutzen?

Übrigens: Bei einer Umfrage von Newsnetz befürworteten 19 Prozent der Leser die Teufelsaustreibung durch die katholische Kirche, 81 Prozent lehnten dies ab.

Die Angst des Klerus vor dem Machtverlust

Hugo Stamm am Mittwoch den 27. Oktober 2010

Den folgenden Impulstext hat der Blogger Michael Bamberger verfasst:

Klerikale Furcht betreffend Infragestellung von kirchlichen Glaubenswahrheiten ist nicht neu. Schon vor, aber vermehrt seit Beginn des offiziellen Christentums, das anlässlich der konstantinschen Wende per Dekret zur Staatsreligion erklärt wurde, lässt sich die kontinuierliche Festmeisselung kirchlich dogmatischer Glaubenswahrheiten beobachten, bei gleichzeitiger Verfolgung und Ausschaltung von allem und jedem, was und wer diesen Glaubenswahrheiten entgegenstand oder nicht entsprach.

Mittelalterliche Kreuzzüge und sonstige Missionierungsaktionen mit dem Schwert, die Verfolgung von Ketzern und Andersgläubigen, die Hexenjagd und die lodernden Scheiterhaufen der heiligen Inquisition, die unzähligen Judenpogrome, sowie die kirchliche Legitimierung und Einverleibung der Sklaverei, die Zwangschristianisierung und Zwangstaufen, die unheilvollen und unzähligen Religionskriege, die Unterstützung von grausamen Herrschern, die Kolonialisierung, das Paktieren mit etlichen faschistischen Diktaturen, etc., illustrieren die kirchlichen Ängste vor Machtverlust und die direkt daraus entstandenen Grausamkeiten quer durch die Geschichte.

Immer noch, im heutigen 21. Jahrhundert, perpetuieren sich, vornehmlich in der katholischen Kirche, zynische Edikte und inhumanes Vorgehen, wie das Kondomverbot im Zeitalter von Aids und – je nach Erdteil – Probleme der Überbevölkerung, die Vertuschung von Verbrechen pädophiler Kleriker, die Doppelmoral des Zölibats, die abwertende Behandlung der Frauen, sowie Ausgrenzung von homosexuellen und von geschiedenen Menschen, um nur wenige Beispiele zu nennen, ausformuliert durch die vatikanische Glaubenskongregation (einem Euphemismus für die frühere Bezeichnung „Heilige Inquisition“), der, vom Jahr 1981 bis 2005 Kardinal Josef Ratzinger (ab 2005 Papst Benedikt XVI.), vorstand.

Die katholische Kirche verschanzt sich weiterhin, wie sie es immer tat, in dogmatischer Manier via die Glaubenkongregation, hinter dem alleinigen Wahrheitsanspruch und ihrer „einzigartigen“ Auserwähltheit. So ist z.B. dem katholischen Katechismus, Absatz 107 zu entnehmen: „…ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte.“ Und im Absatz 119 steht: „…alles das nämlich, was die Art der Schrifterklärung betrifft,…[…]. ..letztlich dem Urteil der Kirche, die den göttlichen Auftrag und Dienst verrichtet, das Wort Gottes zu bewahren und auszulegen.“

Wenn in unseren westlichen Breitengraden, wo zum Glück säkulare Demokratie im Vordergrund der Politik steht, ein Staatsoberhaupt es nur ansatzweise wagen würde anzudeuten, er plane seine Gesetze auf Prinzipien analog zu solchen Ideologien aus dem katholischen Katechismus zu definieren, der nächste Sturm auf die Bastille wäre vorprogrammiert.

PS: Wer selbst einen Impulstext verfassen möchte, kann mir den Beitrag mailen: hugo.stamm@tagesanzeiger.ch

Gentest entlarvt Familienstellen

Hugo Stamm am Mittwoch den 20. Oktober 2010

Nach der schmerzlichen Trennung von ihrem Freund fiel Anna Täuber (Name geändert) in ein Loch. Ein Bekannter lud sie an ein Wochenendseminar einer bekannten Familienstellerin ein, die nach der Methode von Bert Hellinger arbeitet. Das kurze Ritual führe zu überraschenden Erkenntnissen und raschen Problemlösungen, wurde Anna erklärt. Beim Familienstellen nach Hellinger glauben die Teilnehmer, dass alle Wesen – auch Tiere – durch ein allumfassendes Energiefeld seelisch miteinander verbunden seien. Die Stellerin sprach von einem «morphogenetischen Feld», Hellinger benutzt den Begriff der Familienseele.

Die Theorie dahinter: Wer dieses Feld ins Gleichgewicht bringe, könne die eigenen psychischen Schwierigkeiten besser lösen. Denn die Wurzeln vieler persönlicher Probleme und Traumata seien in der Familiengeschichte zu finden, sagte die Stellerin zu Anna. Die junge Frau liess sich überreden und verfolgte das Familienstellen mit einer gewissen Skepsis. Beim Ritual mussten die Teilnehmer die Familienmitglieder von Anna spielen. Niemand kannte Annas Familie. Die junge Zürcherin verteilte die Mitspieler intuitiv so im Raum, dass für sie das Familienbild stimmte. Angeleitet wurde sie von der spirituellen Leiterin.

Kollektive Begeisterung

Anna erlebte das erste Familienstellen nicht als grosse Offenbarung. Als sie selber eine fremde Person spielen musste, spürte sie nichts von deren Gefühlen oder der Familienseele. Hingegen berührte sie die intensive emotionale Atmosphäre. Als beispielsweise der Grossvater einer Teilnehmerin – gespielt durch einen Kursteilnehmer – seine Kriegserlebnisse schilderte, nahmen alle Teilnehmer Rauchgeruch wahr. Die kollektive Begeisterung übertrug sich auf Anna. Als sie den Trennungsschmerz überwinden konnte, begann sie an die Kurztherapie zu glauben.

Beziehungen abgebrochen

Bei einem weiteren Stellen wurde sie mit der Erkenntnis konfrontiert, sie sei ein Kuckuckskind, gezeugt von einem Onkel. Anna konnte es anfänglich kaum glauben, doch sie erinnerte sich bald an Familienereignisse, welche die Erkenntnis plausibel erscheinen liessen. Zum Beispiel hatten ihre Familie und die Familie des Onkels einst intensive Beziehungen gepflegt, die eines Tages abrupt abgebrochen wurden. Trotzdem war Anna unsicher und wollte Gewissheit haben. Die Kursleiterin riet ihr aber, die schmerzliche Erkenntnis zu akzeptieren. Das Energiefeld werde die tief verwurzelten Probleme lösen.

Ihr Ex-Freund, dem Anna das Ergebnis des Familienstellens schilderte, wurde stutzig und riet ihr, mit einem DNA-Test Klarheit zu schaffen. Mit ihrem Erbgut und demjenigen ihres Bruders gelang es, einwandfrei nachzuweisen, dass das Familienstellen – oder die Kursleiterin – ein falsches Resultat geliefert hatte: Ihr Vater ist wirklich ihr Vater. Anna hat es bisher nicht gewagt, ihre Familienstellerin damit zu konfrontieren. Sie ist weiterhin davon überzeugt, dass diese nur ihr Bestes wollte.

Missbrauch suggeriert

Ähnliche Missbräuche sind beim Familienstellen an der Tagesordnung. So behaupten Familiensteller immer wieder, die Klientinnen seien von ihrem Vater sexuell missbraucht worden, obwohl sie keine konkreten Hinweise besitzen. Die sensiblen Informationen beziehen die Hellinger-Anhänger angeblich von der Familienseele oder dem Energiefeld. Der unbelegte Vorwurf an den Vater hat schon oft zu unlösbaren Familienkonflikten geführt.

Auch Ärzte und Psychologen glauben ans Stellen

Über ein Drittel der mehreren Hundert Familiensteller stammen aus dem Kanton Zürich. Es vergeht kaum ein Wochenende, ohne dass hier Workshops durchgeführt werden. Seminarleiterinnen sind wie bei vielen esoterischen Angeboten in erster Linie Frauen. Ein lukrativer Zweig sind die Seminare, die Steller in Firmen, Behörden und Organisationen durchführen.

Obwohl die Kurztherapie des Familienstellens nach Bert Hellinger umstritten ist und therapeutischen Standards nicht zu genügen vermag, wird es nicht nur von esoterisch verblendeten Kursleitern praktiziert. Auch mehrere Ärzte, Psychologen und Psychotherapeuten wenden das Ritual an und glauben an die magische Wirkung der «Familienseele». Da die Teilnehmer nach dem meist aufwühlenden Ritual nicht betreut werden, kommt es immer wieder zu Kurzschlusshandlungen. Verzweifelte Klienten haben auch schon Suizid begangen.
Beim Stellen mit meist Dutzenden von Klienten herrscht eine massensuggestive Atmosphäre. Hoffnungen und Erwartungen sind bei allen Teilnehmern hoch: Die Akteure erwarten sehnlichst eine Instant-Lösung ihrer schmerzlichen psychischen Probleme, die Zuschauer werden Zeuge angeblicher «magischer Wunder» und werden als Voyeure in den Bann der dramatischen Familiengeschichte der gestellten Person gezogen. Meist brechen die Akteure in Tränen aus und verursachen ein kollektives Schluchzen. Solche starken Emotionen werden dann irrtümlicherweise als Wirkung der Familienseele gewertet.

Einen grossen Einfluss hat auch die Kursleiterin: Die Teilnehmer glauben, sie habe besondere spirituelle Fähigkeiten, weshalb sie als Autorität betrachtet wird. Das hochemotionale Ritual überlagert Vernunft und Verstand. Die oft verblüffenden Reaktionen der gestellten Personen wirken wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen und verstärken den Glauben an die Wirkung des Stellens. Dagegen sind langwierige, schmerzhafte Psychotherapien eine unsinnliche Tortur. Dass es sich beim Familienstellen meist um eingebildete oder gruppendynamische Effekte handelt, realisieren die Kursteilnehmer meist nicht.