Archiv für die Kategorie ‘Allgemeines’

Der Glanz von Messias Blocher verblasst

Hugo Stamm am Montag den 24. Oktober 2011

Durch die Abwahl aus dem Bundesrat wurde er kurzfristig zum Märtyrer, doch verblasste der Glanz bald: Christoph Blocher.

SVP-Alt-Bundesrat Christoph Blocher hat in den letzten zwei Jahrzehnten die Schweizer Politik geprägt wie kein zweiter. Viele konservative und fremdenfeindliche Bürgerinnen und Bürger sahen in ihm einen Heilsbringer. Dies nicht nur, weil er einer strenggläubigen Pfarrersfamilie entstammt, sondern weil er sich wie ein Erlöser gebärdete, der die Schweiz vor fremden und bösen Mächten schützen oder gar retten wollte. Für viele war er der Übervater der Nation, ja fast eine Art Schutzheiliger. Wer ihn charakterisieren wollte, griff gern zu einem Vokabular, das religiöse Attribute enthielt.

Politik hat aber nur selten mit spirituellen Syndromen zu tun. Es ist die unbeherrschbare Kunst des Möglichen – oder oft Unmöglichen. Weil Politik in der Regel mit säkularen Problemen konfrontiert ist, die in den weltlichen Niederungen entstanden sind, tun wir gut daran, diese mit entsprechen Instrumenten zu lösen: Pragmatisch, sachlich, frei von Vorurteilen. Verhängnisvoll wird es, wenn wir mit ideologischen oder religiösen Prämissen ans Werk gehen. Dann überhöhen wir die politischen Interessen und Gegenstände und geben ihnen eine pseudoreligiöse Bedeutung, die (vermeintliche) Heilsbringer erst ermöglichen.

Genau dies hat Blocher getan. Er sah fremde Mächte am Werk, welche die Schweiz zerstören wollten. Die UNO war des Teufels, die EU ohnehin. Er malte aber auch den Feind im Innern an die Wand: Inserate sprachen von Geheimplänen der Classe politique. Überall lauerten angeblich Gefahren, die geradezu nach einem Erlöser schrien. Das ideologische Konzept der SVP war darauf ausgerichtet, den Boden für einen Heilsbringer vorzubereiten. Und der Nährboden war gut: Ein beträchtlicher Teil des Volkes dürstete in den Krisenzeiten nach einer starken Hand.

Das Rezept hat lange Zeit funktioniert. Der Erfolg der auf Blocher fokussierten SVP zeichnete sich in allen Wahlen seit 1991 ab. Die logische Konsequenz war die Wahl Blochers in den Bundesrat.

Dann begann der Abstieg. In der Realpolitik, vor allem in der Exekutive, scheitern eben auch Heilsbringer. Mit ideologischen Beschwörungsformeln lassen sich keine Probleme lösen. Auch Blocher konnte die Schweiz nicht von den Ausländern befreien, wie seine Wähler erwarteten. Er war eingebunden in ein Gremuim und konfrontiert mit komplexen Sachproblemen, die sich nicht mit einem Machtwort des Heilsbringers zum Verschwinden bringen liessen. Vor allem zeigte sich, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Das Volk erlebte die Diskrepanz der simplen Heilsbotschaften und der realpolitischen Umsetzungen.

Blocher wurde als Messias entzaubert. Durch die Abwahl wurde er kurzfristig zum Märtyrer – auch dies eine religiöse Metapher -, doch verblasste der Glanz bald. Und die SVP erhielt am Wochenende die Quittung dafür, dass sie auf einen Heilsbringer gesetzt hat: Die SVP wurde zurückgebunden, Blocher bei den Ständeratswahlen gedemütigt und bei den Nationalratswahlen vom Leichtgewicht Nathalie Rickli, gestartet von Platz 7, vom ersten Platz verdrängt.

Hoffentlich ziehen die SVP und ihre Wähler die richtigen Schlüsse daraus: Heilsbringer sollen auf dem religiösen Parkett bleiben; sie haben in der Politik nichts verloren.

Ein Staat braucht keinen Gott

Hugo Stamm am Donnerstag den 6. Oktober 2011

Für Völker gibt es Wichtigeres, als sich bei der Frage nach der Existenz Gottes aufzureiben: Ein Atheist demonstriert vor dem Vatikan.

Für das Individuum ist die Frage nach Gott von zentraler Bedeutung. Der Glaube prägt das Bewusstsein und das Weltbild entscheidend. Es macht einen Unterschied, ob ich an einen personalen Gott, an ein polytheistisches Konzept oder an eine gottlose Realität glaube.

Für Völker ist diese Frage untergeordnet. Kollektive Systeme funktionieren besser, wenn sie sich vom Einfluss religiöser Systeme befreien. Völker tun gut daran, sich nach klaren Kriterien zu orientieren. Es wäre nur belastend, sich mit einer Frage zu befassen, die niemand beantworten kann: Gibt es einen Gott? Und wenn ja: Wie sieht das Verhältnis Mensch – Gott aus? Nimmt Gott Einfluss auf den Lauf der Welt?

Für Völker gibt es Wichtigeres, als sich bei der Frage nach der Existenz Gottes aufzureiben. Religiöse Konflikte führen immer wieder zu Spannungen zwischen verschiedenen Glaubensgemeinschaften eines Staates. Für das Zusammenleben braucht es keinen Glauben an einen Gott. Deshalb haben moderne Staaten die Glaubens- und Kultusfreiheit eingeführt. Für die Bildung einer Demokratie ist es meist von Vorteil, wenn religiöse Prämissen die staatlichen Strukturen nicht belasten. Prägt beispielsweise die Scharia das juristische System, sind demokratische Prozesse nur schwer voranzutreiben.

Völker brauchen auch keine moralischen und ethischen Werte von Religionen und Glaubensgemeinschaften. Staaten sollten sich von moralischen Ansprüchen emanzipieren. Verfassungen, Gesetze und Verordnungen sollten das Zusammenleben auf pragmatische Weise regeln. Es droht kein Wertezerfall, wenn wir die religiöse Moral in die Schranken der Kirchen verweisen. Respekt, Rücksicht und Einfühlungsvermögen vermag eine Gesellschaft aus sich heraus zu erzeugen.

Moral braucht es für das Zusammenleben durchaus, wir dürfen sie aber nicht abhängig machen vom Glauben an einen Gott, den niemand beweisen kann. Religionen sind eine unsichere und relative Basis für die Bildung einer stabilen Gesellschaft und eines gesunden Staates. Verschiedene arabische Länder führen uns vor Augen, wie unheilvoll der religiöse Einfluss auf die staatliche Entwicklung sein kann.

Spiritualität gibt es auch ohne Gott

Hugo Stamm am Montag den 26. September 2011

Ein Sonnenaufgang kann auch ohne esoterisches Drumherum ein spirituellen Erlebnis sein: Meditierender.

Spiritualität wird bei uns fast immer mit religiösen Vorstellungen in Verbindung gebracht. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass Glaubensgemeinschaften die Deutungsmacht über den Begriff für sich beanspruchen. Sie strahlen das Selbstverständnis aus, dass man nur in einem religiösen Kontext wahre spirituelle Gefühle entwickeln und erleben kann.

Das entbehrt nicht einer gewissen Anmassung. Spiritualität kommt von Geist oder Geistigkeit. Geist ist ein wertfreier Begriff. Eine Verbindung zum Transzendentalen oder zur göttlichen Dimensionen haben Geistliche hergestellt. Diese haben so konsequent geistige Lobbyarbeit oder PR betrieben, dass der Durchschnittsbürger heute Spiritualität mit Religiosität gleichsetzt. Ja, die christlichen Kirchen haben die Spiritualität fast okkupiert: Sie definieren Spiritualität weitgehend mit christlicher Geistlichkeit.

In jüngster Zeit bekommen die Kirchen Konkurrenz von den Esoterikern. Diese beanspruchen Spiritualität selbstbewusst für sich. Sie haben den Begriff zum Schlagwort gemacht. Er dient ihnen als schwammiges Schlüsselwort, mit dem alles und jedes bezeichnet wird, das zum höheren Bewusstsein oder zur Erleuchtung führt.

Gemeinsam ist beiden, dass sie Spiritualität in erster Linie als religiöse oder übersinnliche Empfindung verstehen. Spiritualität ist eine emotionale Disziplin und vermittelt starke religiöse oder eben spirituelle Gefühle. Der Geist weht, er atmet, und er widersetzt sich weitgehend der intellektuellen oder rationalen Erfassung.

Deshalb sind ungläubige Menschen für Gläubige geistig amputierte Wesen. Viele «Eingeweihte» glauben, Skeptiker würden die entscheidende Dimension des Menschseins verpassen. Ihre Reaktionen schwanken zwischen Erbarmen und Überheblichkeit.

Doch wer definiert, was spirituelle Empfindungen sind? Offenbar reicht die Fantasie vieler Gläubigen nicht aus, um sich vorzustellen, dass es auch ganz profane spirituelle Empfindungen und Erfahrungen gibt. Ist nicht jede Form von Ergriffenheit ein spirituelles Erlebnis? Ist ein Konzert, das uns in den Bann zieht, nicht wesentlich spiritueller als ein ewig gleicher Gottesdienst? Weckt eine philosophische Erkenntnis nicht ein ähnliches Gefühl wie ein Gebet? Löst ein Sonnenuntergang in einer packenden Bergkulisse nicht stärkere Gefühle aus als eine Meditation?

Wahrscheinlich bewirken säkulare spirituelle Empfindungen stärkere «religiöse» Gefühle als in Routine erstarrte religiöse Rituale.


Erkenntnisse dienen der sinnvollen Lebensgestaltung

Hugo Stamm am Donnerstag den 8. September 2011

Der folgende Impulstext stammt von Ruedi Schmid (Optimus). Vielen Dank.

Thales, Galileo und Einstein.

In welchem Verhältnis stehen Verstand und Wirklichkeit? – Thales, Galileo und Einstein.

Die Unfähigkeit, Naturereignisse zu deuten, führte ursprünglich zur Erfindung der Götter. Inspiriert von seinen Entdeckungen der Geometriegesetze glaubte Thales bereits 600 v.Chr., dass die Wirklichkeit ohne Götter erklärbar ist. Mit seiner Hypothese, dass Wasser der Urstoff allen Seins und Geschehens sei, legte er den Grundstein. 150 Jahre später schrieb der Philosoph Demokrit, dass man durch endlosen Teilungsprozess auf Elementarteilchen stossen müsse und nannte diese Atome. 300 v.Chr. stellte schliesslich der griechische Astronom Aristarchos fest, dass die Erde um die Sonne kreist, die Sterne Sonnen sind und der Mensch nur ein unbedeutender Teil des Universums darstellt.

Danach wurde die Wunderkraft Gottes als Wirklichkeit verkündet. Aber unter dem Argument «Wunder» ist jede noch so utopische Wirklichkeitsfantasie möglich, was zwangsläufig zu Uneinigkeit, abwegigen Sekten, Missbrauch, Ausnützung, Zwang und Denkverbot führen musste. Um der Folterstrafe zu entgehen, liess z.B. Kopernikus seine Nachweise des heliozentrischen Weltbildes erst an seinem Todestag veröffentlichen.
Daraufhin versuchte Galileo im 16. Jahrhundert vergeblich, Rom vom heliozentrischen Weltbild zu überzeugen. Kontaktfreund Kepler war dank grösserer Toleranz im Norden erfolgreicher, musste dann aber vor den Katholiken flüchten und starb dadurch frühzeitig. Durch seine Planetenbahnberechnungen kam er ausserdem zum wegweisenden Schluss, dass im ganzen Universum Gesetze auf der Basis der Mathematik gelten müssen. Danach folgerte Descartes:

«Die Wirklichkeit ist verständlich, weil sie von den Naturgesetzen regiert wird. Welt und Universum funktionieren ohne Gotteshilfe durch die Naturgesetze und Gott hatte keine Wahl, die Naturgesetze anders zu gestalten.»

Das war ein bedeutungsvoller Schritt, aber erst die Gravitation- und Bewegungsgesetze von Newton machten deutlich, dass die Wirklichkeit bei den Naturgesetzen zu finden ist.
Die Naturgesetze machten Vorausberechnungen möglich, ob eine Brücke hält oder ein Flugzeug fliegt. Nur dank dieser Wirklichkeitserkenntnis erlangten wir Menschen die Fähigkeit, all unsere heutigen Errungenschaften, vom Handy bis zum Weltraumflug, zu entwickeln. Das führte zum Realismus und immer mehr Menschen konnten sich die Wirklichkeit ohne Wunder Gottes vorstellen.

Einsteins Relativitätstheorie zeigte dann aber klar, dass wir die Wirklichkeit nicht verstehen können. Dass z. B. Materie nur eine Form von Energie ist und Zeit sich relativ verhält, kann der menschliche Verstand nicht als Wirklichkeit erfassen. Dabei stellte sich heraus, dass unser Verstand auf die Alltagserfahrung beschränkt ist und wir nur einen Hauch der Wirklichkeit wahrnehmen können. Aber dank der Vorstellungskraft fühlen wir uns in einer wirklichen Welt.

Während man Einsteins Relativitätstheorie noch mathematisch erfassen konnte, zeigten sich im subatomaren Bereich (Basis von allem, was existiert) Phänomene, die unserem Wirklichkeitsbegriff völlig widersprechen, deren Experimente aber durch die Wiederholbarkeit nicht einem Wunder Gottes oder dem Zufall zugeordnet werden konnten. Mit der Quantenphysik, die mittlerweile zum Hauptgebiet der Naturforschung geworden ist, gelang es, jenseits von menschlicher Wirklichkeitsvorstellung Gesetzmässigkeiten zu finden. Dabei kommt man zwar der Wirklichkeit immer näher, aber sie entzieht sich immer mehr dem menschlichen Verstand und zwar so weit, dass selbst namhafte Physiker zweifeln, ob es überhaupt eine reale Aussenwelt gibt.

Damit hat uns die Physik die klare Lektion erteilt, dass unser Verstand zum Leben konzipiert ist und nicht dazu, die Wirklichkeit zu verstehen. Und dass die Werte des Lebens nicht bei der Wirklichkeit zu finden sind, sondern bei den Gedanken, die zur Lebensfreude führen. Und dass wir unsere Wirklichkeitsvorstellung nutzen können, um ein wertvolles Leben zu gestalten. Die Philosophie der Ethik (richtiges handeln zum Wohle aller Menschen) wird dadurch zur sinnvollsten Wissenschaft.

Vertreiben die Philosophen Gott?

Hugo Stamm am Montag den 29. August 2011
Das Denken soll durch nichts eingeschränkt werden: Diogenes bittet Alexander, aus der Sonne zu treten.

Das Denken soll durch nichts eingeschränkt werden: Diogenes bittet Alexander, aus der Sonne zu treten. (Gemälde: Nicolas Andre Monsiau, 1818).

Die Philosophie ist die Königin der Geisteswissenschaften. Sie versucht, das Leben, die Zeit, die Metaphysik, die menschliche Existenz und viele essentielle Fragen rund um Sinn, Moral und Ethik zu ergründen. Philosophie erfordert ein hohes Mass an Logik und abstraktem Denken, aber auch an emotionaler Kompetenz und Einfühlungsvermögen. Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sind wichtige Pfeiler der Philosophie.

Philosophen haben das Bewusstsein der Menschheit geprägt wie kaum andere Wissenschaft. Griechische Denker hinterliessen uns ein geistiges Erbe, das unser Denken bis in die heutige Zeit prägt. Es waren die weisen Philosophen, die uns die Welt erschlossen und uns aus der geistigen Dunkelheit geführt haben. Philosophie heisst denn auch Liebe zur Weisheit.

In der Philosophie gibt es keine geistigen Grenzen. Alles, was gedacht werden kann, soll gedacht werden. Das Denken soll durch nichts eingeschränkt werden, Tabus darf es nicht geben. Deshalb ist es entscheidend, dass Philosophen geistig unabhängig sind und nicht im Dienst eines Systems, Interessenvertreters oder gar einer Ideologie stehen. Geistige Offenheit und Unabhängigkeit sind das wichtigste Gut der Philosophie.

Die Philosophie teilt sich verschiedene Themenbereiche mit der Theologie. Beide Disziplinen befassen sich mit der Sinnfrage, der Ethik, der Moral und der Metaphysik. Doch was Weisheit und Wissenschaftlichkeit betrifft, ist die Theologie arg im Hintertreffen.

Nehmen wir ein Beispiel: Sowohl die Theologie als auch die Philosophie befassen sich mit der Frage des Seins. Die Theologen stecken aber in einem geistigen Korsett. Ihr Weltbild und ihr Denken ist begrenzt durch eine religiöse Ideologie. Wo ein Gott im Spiel ist, legt sich das Denken Fesseln an. Wenn eine Form von Glauben das Bewusstsein prägt, wird die Logik oder die Wissenschaftstheorie eingeschränkt. Ich kann nicht glauben und gleichzeitig frei denken, weil der Glaube die Gedanken mehr oder weniger bewusst lenkt.

Ein Philosoph muss sich die Welt auch ohne Gott vorstellen können – und zwar bis zur letzten Konsequenz. Wer eine Welt ohne Glauben und Gott nur als Gedankenspiel oder Hypothese postuliert, kommt der Wahrheit nicht näher. Deshalb findet man unter den Philosophen mehr Weise und grosse Denker als unter den Theologen.

Warum haben denn Theologen – zu denen meist auch Geistliche zählen – mehr Einfluss als Philosophen? Die meisten Menschen wollen klare und einfache Antworten, um sich orientieren zu können. Philosophen stellen aber vor allem Fragen. Und wenn sie eine Antwort geben, ist sie meist so komplex oder kompliziert, dass man sich anstrengen muss, um den Sinn zu erkennen. Geistige Anstrengung ist leider kein Volkssport.

Die Mehrheit hält sich lieber an die Antworten der Theologen. Die sind einfach: Gott hat die Welt erschaffen und den Menschen auf die Erde gestellt, auf dass er ein gutes Leben führe und nach dem Tod in den Himmel komme. Somit sind die Fragen nach dem Woher, dem Wohin und dem Sinn endgültig beantwortet. Wozu braucht es da noch Philosophen, die unbequeme Fragen stellen oder sagen, Gott ist tot.

Am Anfang des Konflikts steht das Wort Gottes

Hugo Stamm am Donnerstag den 14. Juli 2011
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Die aggressivste Missionsstrategie hat das Christentum: Jeremy Irons als Priester in Südamerika im Film «The Mission» (1986).

Die meisten Religionen und Glaubensgemeinschaften sind mit sich und der Welt im Einklang. Sie sind zufrieden, wenn sie in ihrem angestammten Gebiet ungehindert ihre religiösen Ziele verfolgen können. Die Buddhisten, die etwa 6 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, begnügen sich weitgehend damit, sich in Ruhe mit der inneren Leere oder dem Nichts auseinandersetzen zu können. Sie sind sich selbst genug, Expansion gehört nicht zu ihrem Bestreben.

Auch die Hindus (13 Prozent) haben kein Verlangen, Gott oder Allah zu vertreiben und an ihrer Stelle Shiva zu setzen. Den Shintoisten gefällt es in Japan gut, sie haben kein Bedürfnis, sich in China oder sonst wo auszubreiten. Die Stammesreligionen (12 Prozent) sind ohnehin lokale Phänomene. Auch die Nichtgläubigen (12 Prozent) sehen keine Veranlassung, ihre Desinteresse an religiösen Fragen aufzudrängen. Eine gewisse Expansionslust verspüren allenfalls die Atheisten (2 Prozent), doch ihr Engagement beschränkt sich auf das Wort als Aufklärungsinstrument. Die Juden (0,2 Prozent) bleiben ohnehin lieber unter sich, als dass sie sich mit Andersgläubigen auseinandersetzen würden.

Einen ausgeprägten Expansionsdrang spüren einzig das Christentum (33 Prozent) und der Islam (21 Prozent). Es ist wohl kein Zufall, dass die beiden grössten Religionen von ihrem Gott einen Missionsauftrag erhalten haben. Das christliche Gebot («Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium») hat offensichtlich gewirkt. Die Muslime sollen zwar auch die Botschaft Gottes verkünden, in erster Linie aber innerhalb eigenen Gemeinschaft. Deshalb waren sie in der Vergangenheit zurückhaltender, Missionsoffensiven in der christlichen Welt gab es vor der Globalisierung der Welt kaum.

Die aggressivste Missionsstrategie hatte also seit jeher das Christentum. Der Durchbruch gelang, als sich der Klerus im 1. Jahrtausend mit den Staatsherrschern verbünden konnte und politischen Einfluss gewann. Erstaunlicherweise waren es in jüngster Zeit säkulare Entwicklungen, welche die christlichen Grosskirchen Zurückhaltung üben liessen: Kritik an den christlichen Missionaren in Entwicklungsländern, Kolonisation und Menschenrechte verboten aggressive Missionskampagnen. Trotzdem sind die Christen immer noch die erfolgreichsten Missionare: Freikirchen legen sich keine Zurückhaltung auf und missionieren selbst in muslimischen Ländern.

In den letzten Jahren fallen auch Muslime durch ihre Missionstätigkeit in den christlichen Stammlanden auf. Immigranten versuchen ihren Einfluss auszuweiten, Terroristen schüren den Hass. Allerdings sind in erster Linie politisch motivierte Extremisten aktiv. Dies in erster Linie als Reaktion auf die politische Einmischung der westlichen Mächte in muslimisch geprägten Ländern.

Konkret: Auf der christlichen Seite gefährden die religiösen Eiferer, die auch in der katholischen Kirche zu finden sind, mit ihrem Machtdrang den religiösen Frieden. Auf der muslimischen Seite instrumentalisieren politische Hardliner religiöse Fundamentalisten und heizen den Konflikt mit der westlichen Welt an.

Am Anfang der Konfliktspirale steht aber immer noch das Wort Gottes.

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Vom Leben nach dem Tod

Hugo Stamm am Mittwoch den 6. Juli 2011
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Der Trost eines Lebens nach dem Tod ist für Gläubige, Verwandte und Freunde zu treffen: Familie vor einer Lichtquelle.

Die Angst vor dem Tod begleitet uns das ganze Leben. Sterben ist die individuelle Apokalypse. Das Bewusstsein von der Endlichkeit des Seins prägt unser Lebensgefühl. Uns bleibt nur die Hoffnung, dass es nach dem Tod irgendwie weiter gehen wird. Für diese Hoffnung sind die Religionen oder Glaubensgemeinschaften zuständig. Sie vermitteln den Gläubigen die Zuversicht, dass das Leben im Diesseits nur eine Zwischenstation ist. Damit spenden sie den Mitgliedern Trost und nehmen der Todesangst die Spitze.

Wie glaubwürdig sind solche metaphysischen Konzepte oder Versprechen? Die Schwierigkeit beginnt beim Gottesbild. Alle Versuche, Gott zu definieren oder analysieren, scheitern schon im Ansatz. Das haben manche Kirchenväter schon in grauer Vorzeit erkannt und deshalb das Dogma erhoben, wir sollten uns von ihm kein Bild machen. Aber wen soll ich anbeten, wenn ich mir von ihm kein Bild machen kann?

Noch schwieriger wird’s mit dem Jenseitsbegriff. Die Buchreligionen gehen von einer Art Paradies aus, wie es Adam und Eva für kurze Zeit bewohnen durften: Die Trauben wachsen in den Mund, der Löwe spielt mit dem Hirsch. Auf gebildete Menschen, welche die komplexe Beschaffenheit des Universums wenigstens ansatzweise erahnen, wirkt das Bild nicht plausibel. Aber wie sonst sollen wir uns das Jenseits vorstellen?

Wir können uns noch so lang anstrengen, wir werden die Frage nicht beantworten können. Also müssen wir auf ein Leben nach dem Tod hoffen, das völlig im Dunkeln liegt. Aber spendet etwas Trost, das sich uns völlig entzieht? Kann ich mich auf etwas freuen, das auch geistig nicht fassbar ist?

Der hauptsächliche Trost für Gläubige liegt darin, dass sie glauben, ihre Eltern, Lebenspartner, Freunde und später ihre Kinder im Jenseits wieder zu treffen. So jedenfalls erzählen es viele. Und bei den meisten Abdankungen braucht auch der Pfarrer diese tröstlichen Aussagen.

Doch dies sind reine Vermutungen. Das Bild vom Jenseits ist von menschlichen Sehnsüchten geprägt. Wir projizieren Ängste und Hoffnungen in ein Leben nach dem Tod. Damit kultivieren wir kindliche Paradiesvisionen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass das Paradies unseren auf das Diesseits ausgerichteten Vorstellungen entspricht.

Stützen wir uns deshalb auf die religiösen Schriften. Die Christen werden im Himmel zur Rechten Gottes sitzen, der Chor der Engel wird jubilieren. Ich weiss nicht, wie lang uns dies ergötzen wird.

Da haben es die Muslime besser. Die Märtyrer können sich auf 17 oder mehr Jungfrauen freuen. Ich vermute, dass sie nach kurzer Zeit die Flucht ergreifen, wenn die hübschen Frauen um seine Aufmerksamkeit buhlen.

Deshalb: Was soll am Glauben ans Jenseits tröstlich sein, wenn wir ein völlig falsches Bild vom Paradies haben? Ist es nicht ehrlicher zu sagen: Wir wissen nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt? Und wir wissen erst recht nicht, wie dieses Leben aussieht, falls es dieses geben sollte.

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Der Fussball ist ein Gott

Hugo Stamm am Donnerstag den 30. Juni 2011
ARGENTINIEN FUSSBALLCLUB RACING

Beten gegen den Abstieg: Ein Fan des argentinischen Vereins Racing Avellaneda, März 1999. (Bild: Keystone)

Religion hat die Aufgabe, Orientierung zu bieten, Sinn zu stiften, Hingabe zu ermöglichen, emotionale Rückbindung auf ein göttliches Wesen zu schaffen und Trost zu spenden. Gläubige sind in der Regel überzeugt, dass nur der Glaube an einen personalen Gott diese Anforderungen zu erfüllen vermag. Doch: Stimmt dieser Alleinanspruch?

Nein. Es gibt eine scheinbar weltliche Disziplin, die die Anforderungen an eine Religion ebenfalls bestens erfüllt: der Fussball.

Das klingt in den Ohren vieler Gläubiger nach Gotteslästerung. Fussball mit dem Glauben an Gott zu vergleichen, ist für sie blasphemisch.

Treten wir also den Beweis für die Behauptung an.

Ob es Gott tatsächlich gibt, kann niemand beweisen. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod ist eine metaphysische Spekulation. Der Fussball hingegen ist ein reales, sinnstiftendes Objekt. Er ist zwar nur mit Luft gefüllt, aber er bewegt die Welt wie kaum ein anderer Gegenstand. Fussball begründet Gemeinschaft – mehr als leere Kirchen. Fussball stiftet Identität, die klar definiert ist: Meine Farben sind Blau-Weiss, meine Heimat ist das Letzigrund-Stadion, mein Talar sind die Fan-Klamotten, meine Glaubensbrüder finde ich im Fanclub oder der Südkurve. Ich weiss, wer ich bin, ich gehöre zu einer grossen Familie, ich lebe für den Fussball, ich zelebriere das weltumspannende Spiel, ich bin Teil der globalen Fussball-Kultur.

Der katholische Geistliche Josef Hochstrasser, der das Buch «Ottmar Hitzfeld – die Biographie» geschrieben hat, unterstreicht den religiösen Charakter des Fussballspiels ebenfalls – als Mann Gottes muss er es schliesslich wissen: «Der Fussball ist tatsächlich eine Religion. Mögen Kritiker diesen Sport allenfalls als Ersatzreligion durchgehen lassen, ich halte ihn für eine Primärform von Religion.»

Fussball ist gar eine Weltreligion mit einer globalen Heilslehre. Sie verbindet Menschen unterschiedlicher Farben, Ethnien, Weltanschauungen und Kulturen. Es gibt auch im Fussball «Religionskriege», doch diese sind ritualisiert und beschränken sich in der Regel auf 90 Minuten.

Das Fussballspiel kennt auch den Gottesdienst. Das Stadion ist die Kirche, ein Final in der Champions-League ein Hochamt. Das Ritual beginnt ebenfalls mit einem (Fan-)Gesang, der Schiedsrichter amtet als Pfarrer. Seine Glocke ist die Pfeife. Die Fans glauben und hoffen wie die Gläubigen. In heiklen Momenten beten sie zum Fussballgott. Und sie pendeln auch zwischen Halleluja und Hölle. Wenn das Ritual den Höhepunkt erreicht, erheben sie sich wie die Gläubigen in der Kirche.

Mancher Pfarrer würde sich wünschen, seine Gläubigen wären nur halb so ergriffen wie die Fans beim Abspielen der Hymne. Und die Ehrfurcht vor Jesus wäre so stark wie vor ihren Fussball-Idolen. Übrigens: Der Fussball ist eine hoch entwickelte Religionsform. Er kennt wie das monotheistische Christentum nur einen personifizierten Gott: den Fussball.

Kritiker werden einwenden, Fussball sei nur ein Spiel. Wer beweist, dass Religionen mehr sind? Einzig bei der Transzendenz wird es schwierig: Fussball hat wenig mit dem Jenseits zu tun. Aber er kommt auch von einem andern Stern, wenn ihn Fussballgötter wie Lionel Messi spielen.

PS: Dieser Text ist parallel auf dem Blog «Steilpass» aufgeschaltet. Ein Vergleich der Kommentare dürfte sich lohnen.

Journalistische Ehrenrettung für die katholische Kirche

Hugo Stamm am Dienstag den 21. Juni 2011

Der 57-Jährige Autor des deutschen Magazins „Der Spiegel“ hat das Buch „Das katholische Abenteuer: Eine Provokation“ geschrieben und heftige Reaktionen ausgelöst. Mein Kollege David Nauer hat ihn dazu interviewt. Ich habe ein paar Fragen und Antworten zusammengestellt.

Herr Matussek, wann haben Sie das letzte Mal gesündigt?

Das werde ich Ihnen nicht sagen. Sie sind schliesslich nicht mein Beichtvater.
In Ihrem jüngsten Buch* schildern Sie die Welt als Sündenpfuhl. Die Wollust überbordet, Geiz und Neid, wo man hinschaut. Übertreiben Sie nicht etwas?

Nein, im Gegenteil. Nehmen wir die Wollust, ein Begriff, der im Zeitalter von «Youporn» (eine Pornoseite im Internet, Anm. d. Red.) seltsam fremd wirkt. Die Wollust ist so inflationär geworden, dass sie sich aufgelöst hat. Es gibt sie eigentlich gar nicht mehr.

Schon die alten Römer haben sich über den Sittenverfall beklagt.

Ich sage nicht, dass früher alles sittlich gefestigter gewesen wäre. Aber wir leben in einer Zeit, die so merkwürdig schuldlos geworden ist. Wir denken gar nicht mehr über Sünde nach. Wir sprechen, wenn wir von Schuld reden, eigentlich nur noch von einem Gefühl, das der Psychoanalytiker wegtherapieren soll.

Wo ist das Problem?

Das ist ein beängstigender Zustand. Wir sind im Grunde genommen schuldig und steuern gefühlt schuldlos auf eine sehr ungemütliche Welt zu. Uns ist das Koordinatensystem abhandengekommen. Katastrophen häufen sich. Ein bisschen apokalyptisch bin ich schon gestimmt.

Das müssen Sie erklären.

Es gibt eine grössere Form der Enthemmung – am oberen und am unteren Ende der Gesellschaft. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass die Todsünde der Gier sehr wohl verheerende Folgen haben kann, dass sie die Welt an den wirtschaftlichen Abgrund bringt.

Was sind die Ursachen?

Meine Diagnose ist, dass das zu tun hat mit dem Verlust der Bindungskräfte des Religiösen, der Kirchen.
Die Menschen wenden sich von den Kirchen ab, weil sie dort keine Antworten mehr finden auf die wichtigen Fragen der Zeit. Wir erleben eine Kirchenkrise, auch eine Gotteskrise. Es gibt Umfragen, die darauf hinweisen, dass drei Viertel aller Menschen noch gläubig sind. Aber das ist ein stillgelegter Glaube, der im Hintergrund schlummert, der keine Wirkung mehr hat auf den Alltag. Wenn ich sonntags in die Kirche gehe . . .

. . . gehen Sie jeden Sonntag in die Kirche?

Aber sicher. Ich muss sagen, ich gehe gerne. Weil es die Stunde ist, die eine Stunde in der Woche, in der ich mit mir und meiner Seele, mit Gott alleine bin. Das halte ich für das grossartigste Angebot überhaupt, und ich kann nicht verstehen, dass Katholiken oder Leute, die sich katholisch nennen, keinen Gebrauch davon machen.

An Sehnsucht nach Religiosität mangelt es nicht. Im Sommer kommt der indische Guru Sri Sri nach Berlin. Er wird wohl das Olympiastadion füllen.

Die Frage ist: Warum begegnet die Öffentlichkeit diesen Sekten, diesen Gurus so viel unkritischer als der katholischen Kirche? Jeder Bischof, der in einer Talkshow sitzt, muss damit rechnen, dass er mit Häme übergossen wird. Aber ein indischer Guru füllt das Olympiastadion, und die liberalen Medien sind mehr oder weniger entzückt.

Woher kommt das?

Ich finde, nicht unschuldig sind die Katholiken selber. Statt in die Kirche zu gehen, die Messe zu feiern, für die Armen zu sammeln, also den Glauben richtig zu leben, wird ewig debattiert – über den Zölibat, über das Frauenpriestertum, die nächste Reformagenda. Dem Katholizismus ist der Herzmuskel erschlafft.

Sie fordern eine Rückkehr zu den alten Dogmen?

Die Kirche hat ihr Geheimnis verloren. Ihre Botschaft sollte sein: «Ihr müsst euch anstrengen, um zu uns zu kommen, denn wir verhandeln etwas ganz Heiliges. Was wir hier machen, ist gerade nicht die Welt, sondern die Gegenwelt. Hier ist ein Geheimnis, draussen gibt es kein Geheimnis, hier ist Andacht, draussen gibt es keine Andacht, hier ist Versenkung, Stille, Hingewendet-Sein nach oben, hier kann man nicht einfach reinschlurfen und Spass haben.» Ich glaube, damit würden die Leute viel eher in die Kirchen zurückkehren. Stattdessen wird die Schwelle noch tiefer gelegt. Bald gibt es für jeden eine Cola, der kommt. Ein protestantischer Pfarrer liess kürzlich nach dem Gottesdienst sogar den «Playboy» verteilen.

Das glauben Sie doch selber nicht.

Doch, ich schicke Ihnen den Link über diesen Sex-Gottesdienst. Ist es nicht schön, wenn es auch anders geht? Letzten Sonntag war bei uns etwas ganz Tolles. Da hat der Mädchenchor des Kölner Doms zur Pfingstmesse gesungen. Das «Halleluja» war ergreifend, es stieg auf zum Himmel, man hat an den Gesichtern gesehen, wie glücklich die waren. Der Altar wurde eingeräuchert mit Weihrauch, es war eine grosse Feierlichkeit. Jeder Protestant würde sagen: «Es kommt doch nur auf mich, auf Gott und das Wort an, alles andere ist Pipifax.» Ich bin naiver, ich bin katholisch. Ich glaube, dass die Form sehr wichtig ist für die Andacht. Mein Priester in New York sagte etwas sehr Schönes: «Rituale ohne Glauben sind leer, aber ein Glaube ohne Ritual ist gestaltlos.» Der Glaube braucht den Gesang, das Hinknien, das Augenschliessen, er braucht das gemeinsame Vaterunser, diese heiligen Verrichtungen.

Die öffentliche Wahrnehmung der katholischen Kirche ist freilich eher von Skandalen geprägt.

Die Öffentlichkeit ist so vergröbert, dass sie beim Katholizismus am liebsten nur noch über Sex redet, besonders über Kindsmissbrauch. Obwohl nur 0,1 Prozent der Missbrauchstäter aus den Reihen der katholischen Kirche kommen. 99,9 Prozent kommen aus Familien, aus Vereinen, liberalen Schulen, protestantischen Organisationen. Aber jeder denkt bei Missbrauch: katholisch.

Wobei sich die katholische Kirche in Sachen Sex schon sehr weltfremd anstellt. Wenn der Papst lange ausführt, unter welchen Umständen die Benutzung eines Kondoms erlaubt ist, dann kann das ein normaler Mensch nicht nachvollziehen.

Die Kirche hält sich eben in einer Welt auf, in der über Liebe, Treue und Sexualität in einer anderen Form nachgedacht wird, als wir es tun. Sex haben ist doch heute wie ein Schluck Kaffee. Sex ist so trivialisiert, so vollständig zur Ware geworden, dass ihn jeder am Automaten herausziehen kann. Und da kommt nun eine Institution und sagt: Moment. Es wäre schön, wenn sich Liebende treu sind, dann brauchen sie nämlich keine Kondome.

Im Gegensatz zu den Kirchen sind die Moscheen in Deutschland voll. Nehmen Sie den Islam als Bedrohung wahr?

Ich glaube, dass der Islam nicht zu unserer religiösen und kulturellen Identität gehört. Eine Gefahr ist er dann, wenn er sich nicht an die demokratischen Spielregeln hält. Da vermisse ich von den moderaten Muslimen in unserer Gesellschaft ein eindeutiges Bekenntnis.

Sie widmen dem Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen viel Raum. Ist das eine der grossen Fragen unserer Zeit?

Das ist zentral, denn der Konflikt hat eine Echowirkung auf unser eigenes Religionsverständnis. Ich war bei einer Veranstaltung von radikalen Salafisten in Mönchengladbach. Und da gab es folgende Szene. Ein Muslim schwenkte eine zerlesene Bibel vor einem Reporter und sagte: «Ich wette, du kennst deine eigene Religion nicht. Ich wette, du kennst nicht mal die Zehn Gebote.» Tatsächlich: Der Reporter kannte sie nicht. Bei den Muslimen existiert ein intensiver Glaube, auf unserer Seite dagegen Ratlosigkeit, religiöse Unterbelichtung und keine Bereitschaft, dem Islam auf überzeugende Weise zu antworten.

Es ist doch vernünftig, solche Provokateure nicht zu beachten. Diese Gelassenheit unterscheidet uns gerade von religiösen Eiferern.

Ich bin da nicht Ihrer Meinung. Es gibt das religiöse Gefühl, davor sollte man einen gewissen Respekt haben. Ich bin gekränkt, wenn ich sehe, wie Madonna vor einem Kreuz rumhopst. Der Gekreuzigte ist ein gemarterter Mensch, das ist der Erlöser, und diese überdrehte Kabbala-Anhängerin mit falschen Titten trällert einen Popsong – das geht nicht. Kein Mensch getraut sich heute mehr, Witze über Mohammed zu machen. Aber Jesus als Blechbüchse – kein Problem.

Regieren die Bilderberger die Welt?

Hugo Stamm am Montag den 13. Juni 2011

Am Sonntag ist die geheime Konferenz der Bilderberger zu Ende gegangen. Rund 200 Aktivisten haben dagegen demonstriert. Viele von ihnen gehören zu den Verschwörungstheoretikern: Sie behaupten, die Bilderberger strebten die geheime Weltregierung an.

Bestimmen die Bilderberger tatsächlich den weltpolitischen Fahrplan oder sind sie eine elitäre Kast, die es geniesst, hinter verschlossenen Türen ihre Wichtigkeit zu zelebrieren?

Als Hintergrundinformation ein Artikel, den ich im Tages-Anzeiger publiziert habe.

120 internationale Grössen aus Politik, Militär, Industrie, Hochfinanz und Adel haben sich inkognito im Nobelhotel Suvretta House in St. Moritz getroffen. Die Staats- und Konzernchefs suchten für einmal nicht die grosse Bühne, sondern schetuen das Licht. Sie kamen als Privatpersonen und nennen sich Bilderberger.

Bilderberger? Unter diesem Namen kennt sie kaum jemand. Das ist Absicht. Niemand soll wissen, dass sie am Geheimtreffen der handverlesenen Elite teilnehmen. Entsprechend unklar ist, wer am Treffen im Engadin teilnimmt. Über 50 Jahre lang hat das gut funktioniert. Nun zerren Verschwörungstheoretiker, die international vernetzt sind, über die Internetplattform «We Are Change» die Mächtigen der Welt ans Licht. In St. Moritz soll ihnen ein lauter Empfang bereitet werden. Denn die Verschwörungstheoretiker halten die Bilderberger für eine Weltbedrohung. Mehr noch als das Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos. Sie sehen hinter der Konferenz einen Geheimbund, einen Orden der Eingeweihten. Manche sprechen gar von einer geheimen Weltregierung, welche die globale Macht an sich reissen will.

Sind das Phantasmen überspannter Skeptiker, die überall Verschwörungen wittern, wo Mächtige die Köpfe zusammenstrecken? Oder bestimmen die Bilderberger tatsächlich den Fahrplan der globalen Wirtschaft und Politik?

Staatstragende Themen

Die Spurensuche beginnt bei den Teilnehmern. Die erste Konferenz fand 1954 im Hotel Bilderberg in Oosterbeek, Holland, statt. Die Treffen werden seither zwar jährlich an einem andern Ort in den USA oder Europa durchgeführt, der Name aber ist geblieben. Initiiert hat das erste Treffen Prinz Bernhard der Niederlande. Er wollte nach dem Zweiten Weltkrieg die Beziehungen zwischen Westeuropa und den USA mit transatlantischen Diskussionen fördern. Die Teilnehmer müssen sich zur Geheimhaltung verpflichten. Sie sollen in einem informellen Rahmen staatstragende Themen diskutieren können. Es gibt keine Beschlüsse oder Resolutionen. Aber soll man einem Gremium trauen, das sich in abgeriegelten, streng bewachten Hotels trifft?

Die Kritiker behaupten, die Bilderberger beeinflussten Wahlen: Lionel Jospin nahm 1996 am Treffen teil und wurde 1997 französischer Premier. Jack Santer gehörte 1991 zum Kreis und übernahm 1995 das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission. 1999 trat der italienische Bilderberger Romano Prodi in seine Fussstapfen. Tony Blair besuchte das Treffen 1993 und wurde ein Jahr später Chef der Labour Party und dann britischer Premier. Bill Clinton wurde 1991 Bilderberger und kurz darauf Präsidentschaftskandidat in den USA. Bekanntlich gewann er auch die Wahlen.

Wer glaubt, die Konferenz hieve ihre Mitglieder in hohe Ämter, unterliegt jedoch einem Denkfehler: Die meisten Bilderberger gehören zum rechten Lager. Würden sie tatsächlich einen Geheimbund bilden, hätten sie nicht die Linken Blair und Clinton unterstützt, sondern ihre konservativen Gegenspieler. Wie sie die Wähler überhaupt beeinflusst haben sollen, ist eine andere Frage. Im Übrigen ist auch der Grüne Joschka Fischer ein Bilderberger – und der deutsche Ex-Aussenminister steht über dem Verdacht, mit Topbankern und Konzernchefs unter einer Decke zu stecken.

Blocher war wiederholt dabei

Christoph Blocher hat eher das Profil eines typischen Bilderbergers. Der ehemalige SVP-Bundesrat hat schon zweimal an den geheimen Klassentreffen teilgenommen. Selbst der Superdemokrat Blocher, der vorgibt, sich nur dem Volk verpflichtet zu fühlen, akzeptierte die Geheimhaltung.

Das stösst gewissen SVP-Mitstreitern sauer auf. Nationalrat Dominique Baettig hat dazu eine Interpellation eingereicht. Der Jurassier will vom Bundesrat wissen, ob Mitglieder der Regierung an dem undurchsichtigen Anlass teilnehmen und wie er «diesen elitären und undemokratischen Club» beurteilt. «Die Konferenz stellt eine Bedrohung für die Schweiz dar», präzisiert Baettig im Gespräch. «Sie will die Weltpolitik koordinieren. Ich habe Angst, dass Blocher nicht mehr unabhängig ist. Was passiert, wenn St. Moritz ins Visier von al-Qaida gerät?» Auch die Blocher-Spezis Ulrich Schlüer und Oskar Freysinger haben die Interpellation unterzeichnet. Am Wochenende hat Baettig vom Bündner Regierungsrat verlangt, dass er gewisse Bilderberger bei der Einreise in die Schweiz verhaften lässt. Er denkt an «die Herren Bush, Kissinger, Cheney, Perle usw.». Diese hätten Kriege angezettelt, seien verantwortlich für Morde und Terror.

Milliardär Blocher reagiert gelassen auf den Angriff seiner Parteikollegen: «Ich habe nichts zu dieser Interpellation zu sagen. Dass die Bilderberg-Mitglieder unter sich tagen, ist bekannt, dass eine Elite dabei ist, ebenfalls, und ein Club muss ja nicht demokratisch sein.» Er habe zwei interessante Tagungen mit kontroversen Referaten erlebt zu Themen, «die für die Welt von Bedeutung sind». Dass die Bilderberger als «‹geheime Weltregierung› globale, politische und wirtschaftliche Entscheide fällten, wie das Verschwörungstheoretiker behaupten, ist Unsinn». Tatsache ist, dass selbst Blocher, der gern gegen die «Classe politique» wettert, dem Charme des globalen Eliteclubs erlegen ist.

Von Krauer bis Ringier

Ein Blick auf die helvetische Bilderberger-Seilschaft bestätigt die These, dass vorwiegend konservative Führungspersönlichkeiten eingeladen werden. Novartis-Präsident Daniel Vasella und Josef Ackermann, der Chef der Deutschen Bank, sind die aktuellen Topshots; Ackermann gehört sogar zum Lenkungsausschuss, der die Treffen organisiert. Zum erlauchten Schweizer Kreis zählen oder zählten auch Alex Krauer, ehemaliger Chef von Novartis und UBS, David de Pury, Gründer von «Le Temps», Shell-Chef Peter Voser, Michael Ringier vom gleichnamigen Medienkonzern, Hugo Bütler, der ehemalige Chefredaktor der NZZ, und Markus Spillmann, der heutige NZZ-Chefredaktor.

Zu den internationalen Schwergewichten, die in den letzten Jahren zu den Treffen anreisten, gehörten die deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel, der spanische Premier José Luis Zapatero, Javier Solana, einstiger Generalsekretär des EU-Rats, Romano Prodi, italienischer Ex-Premier und Ex-Präsident der Europäischen Kommission, Ex-US-Aussenminister Henry Kissinger und Microsoft-Gründer Bill Gates, Jean-Claude Trichet, der Präsident der Europäischen Zentralbank, und sein amerikanischer Gegenspieler Ben Bernanke, Mitglieder der Königshäuser Grossbritanniens, Spaniens und Belgiens und viele andere mehr – auch Dominique Strauss-Kahn, der gestrauchelte Chef des Internationalen Währungsfonds.

Die Bilderberger haben es sich zu einem guten Teil selbst zuzuschreiben, dass sich die Verschwörungstheoretiker auf sie eingeschossen haben. Die Konferenzteilnehmer sonnten sich mit der Geheimhaltung fünf Jahrzehnte lang im Nimbus, zur Superelite zu gehören, wie Werner A. Perger, «Zeit»-Reporter und selbst ein Bilderberger, bestätigt: Die Teilnehmer trügen gern zum Erhalt des Mythos bei, «weil sie es geniessen, für einflussreich gehalten zu werden».

Nur: Es gibt auch viele andere geheime Treffen der Reichen und Mächtigen. Die Liste reicht heute vom WEF über die Trilaterale Kommission von David Rockefeller, das Boao Forum For Asia und die Münchner Sicherheitskonferenz bis hin zum Council on Foreign Relations von Henry Kissinger, dem European Council von Joschka Fischer und den Carnegie-Treffen für Frieden. Das übersehen die Verschwörungstheoretiker geflissentlich.

In der Schweiz treffen sich Topmanager regelmässig mit ein paar auserwählten Politikern in der Nestlé-Zentrale in Vevey: An der nationalen Rive-Reine-Konferenz, die hoch geheim ist, nehmen neben zwei Bundesräten rund 30 Konzernchefs und Topbanker teil. Die exklusive Teilnehmerliste stellt Ex-Bundesrat, Ex-Nestlé-Verwaltungsrat und jetziger UBS-Präsident Kaspar Villiger zusammen. Für den geistlichen Beistand sorgt der Einsiedler Abt Martin Werlen.

Dass solche Treffen auch Taktgeber für die politische oder wirtschaftliche Agenda sein können, bestreiten nicht einmal die Teilnehmer. Ein konkretes Beispiel: Als das Klima zwischen Russland und den USA nach der Wahl von George W. Bush 2001 frostig wurde, sorgte das Carnegie-Büro in Moskau mit seinen guten Beziehungen dafür, dass die Kommunikationskanäle zwischen den beiden Grossmächten offen blieben.

Allein die Tatsache, dass es so viele inoffizielle Thinktanks gibt, macht aber auch deutlich, dass die Bilderberger keine Unité de Doctrine im Sinn einer globalen Steuerung kennen. Die Teilnehmer lassen sich nicht auf ein einheitliches politisches oder wirtschaftliches Programm einschwören, weil sie ihre Partikularinteressen oder die Positionen ihres Landes oder Konzerns vertreten.

Hinweise auf eine Weltverschwörung vermag auch der Politologe Claude Longchamp nicht zu erkennen. «Die Bilderberger haben keine Macht und können auch keine Forderungen durchsetzen», sagt er. Die Geheimhaltung der Treffen findet er eine «offensichtliche Dummheit». In den Fünfzigerjahren hätten geheime Treffen von Politikern zum Normalfall gehört, heute liessen sie sich nicht mehr rechtfertigen. Er bezeichnet die informellen Clubs der Mächtigen als elitäre Netzwerke. Der Politologe glaubt, dass die Bilderberger durchaus einen gewissen Einfluss auf die internationale Politik ausübten. Dass Meinungsführer ihre Standpunkte unter Ausschluss der Öffentlichkeit offenlegten, könne sinnvoll sein. Als problematisch erachtet er jedoch, dass auch Chefredaktoren und Journalisten teilnehmen und sich zur Geheimhaltung verpflichten.

Der Hamburger Historiker Bernd Greiner, Experte für den Kalten Krieg, relativiert den Bilderberg-Einfluss ebenfalls: «Es gibt dieses eine Steuerungszentrum weder in der Ökonomie noch in der Politik.» Die Krise in Griechenland spiegle gerade die Ratlosigkeit der Politiker. Und der deutsche Soziologieprofessor Hans-Jürgen Krysmanski, der sich intensiv mit internationalen Netzwerken beschäftigt, betont, dass die ganze Vernetzung viel komplizierter sei, als es die Verschwörungstheoretiker sehen.

Noch drastischer formuliert es Sony-Chef Howard Stringer: Mehr als bei solch geheimen Meetings könne er lernen, wenn er seinen Angestellten genau zuhöre.