Archiv für die Kategorie ‘Allgemeines’

Ist Glaube nur Placebo?

Hugo Stamm am Sonntag den 7. Oktober 2012
Religion bedient sich sehr oft der Massensuggestion: . (Foto: Reuters)

Religion bedient sich sehr oft der Massensuggestion: Moslems in Kaschmir verfallen bei einem Schrein mit einem Barthaar des Propheten Mohammed in Ekstase. (Foto: Reuters)

Kürzlich rieselte im Post-Verteilzentrum in Schlieren weisses Pulver aus zwei Briefen. Anthrax, befürchteten die Angestellten sofort. Als dann ein Mitarbeiter über Übelkeit klagte, brach eine Hysterie aus. Bald sagten mehrere Dutzend Mitarbeiter, sie litten unter Kopfweh, Juckreiz, Atemproblemen und Husten. Einzelne mussten erbrechen. Ein Grossalarm wurde ausgelöst, das Gebäude evakuiert. Die Opfer der vermuteten Giftattacke wurden ärztlich betreut, 34 hospitalisiert.

Als sich herausstellte, dass es sich beim «Gift» um ein harmloses Stärkepulver handelte, war die Überraschung gross.

Das Beispiel zeigt: Angst ist ansteckend. Allein schon die Befürchtung, kontaminiert worden zu sein, führt zu echten körperlichen Reaktionen. Das ist nicht Placebo, bei der von einem Scheinmedikament eine positive Wirkung erwartet wird, sondern Nocebo: Im Glaube, einer Gefahr ausgesetzt zu sein, treten negative Reaktionen auf.

Wenn Angst ansteckend ist, dann auch der Glaube. Bei massensuggestiven Ritualen und charismatischen Gottesdiensten tritt ein Placebo-Effekt auf. In Erwartung einer Erweckung, Erleuchtung oder eines Heilserlebnisses machen sich entsprechende Glaubenssymptome bemerkbar. Die Gläubigen interpretieren dann ihre starken Gefühle, ihre Visionen oder ihre Euphorie als reale Gotteserfahrung. Dass aber lediglich die suggestive Atmosphäre ihre Hochgefühle hervorgerufen hat, realisieren sie nicht. Vielmehr glauben sie, von Gott berührt worden zu sein. Damit ist seine Existenz für sie eine unumstössliche Realität. Und ihr Glaube zu einem schönen Teil Placebo.

Religion im Bann von Geld und Macht

Hugo Stamm am Dienstag den 4. September 2012
Massenhochzeit mit 5000 Paaren. (Foto: Keystone)

Der göttliche Führer hat die Ehepartner willkürlich zusammengewürfelt: Massenhochzeit der Moon-Sekte mit 5000 Paaren. (Foto: Reuters)

Die Domäne von Religionsgemeinschaften sind Ethik, Moral und Metaphysik. Kirchen versuchen, das Gute im Menschen zu fördern und ihn auf die übersinnlichen oder spirituellen Werte des Daseins zu fokussieren. Sie wissen, dass der Geist oft willig, das Fleisch aber sündig ist und kennen das weltliche Repertoire der Versuchungen. Die Maxime heisst denn auch häufig: Wer betet, sündigt nicht. Das Säkulare ist oft der Feind des Spirituellen. Deshalb mauern sich Klöster ein und sperren die Versuchung aus.

Doch auch Glaubensgemeinschaften und vor allem ihre Exponenten unterliegen der Versuchung oft. Geld, Macht und sexuelle Eskapaden sind Themen, mit denen die meisten Glaubensgemeinschaften zu kämpfen haben. Ein Blick auf die katholische Kirche und den Vatikan macht es deutlich. Auch Geistliche können Machtdrang und Raffgier oft nicht zügeln. Geschweige denn die Lust an sexuellen Abenteuern. Strenggläubige sind selten die besseren Menschen als der Durchschnittsbürger.

Musterbeispiel eines Religionsführers mit weltlichen Ansprüchen ist der Gründer der Vereinigungskirche Sun Myung-moon. Mit ihm ist einer der letzten grossen Sektenführer gestorben. Er nahm wie David Berg (Kinder Gottes), Ron Hubbard (Scientology), Osho (Bhagwan-Bewegung) und Prabhupada (Hare Krishna) die Illusion mit ins Grab, ein Welterlöser zu sein. Hinzu kam wie bei Hubbard ein ausgeprägtes Machtstreben. Moon bemühte sich gar nicht erst, die religiösen, weltlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereiche zu trennen. Alles, was Ruhm, Geld und Macht versprach, erklärte er zur Religion. Und seine Adepten mussten sich dafür aufopfern.

Der stramme Antikommunist strebte letztlich die Weltherrschaft an. Bis zu seinem Tod arbeitete er am eigenen Mythos: Weil Jesus versagt habe, müsse er das göttliche Werk vollenden, sagte er seinen rund drei Millionen Anhängern, die in gegen 200 Ländern wirken. Ihnen präsentierte er sich als der «wahre Vater». Nun müssen die Moon-Gläubigen verkraften, dass ihr «Gott» an menschlichem Organversagen (Nieren und Leber) gestorben ist, ohne seine Mission zu vollenden. Der 1920 in Korea geborene Moon legitimierte sein messianisches Wirken mit einer göttlichen Erscheinung und entsprechendem Auftrag. Zitat: «Gott lebt in mir, ich bin seine Inkarnation.» 1954 gründete er die Unification Church, die Vereinigungskirche. Der Name war Programm: Der Koreaner glaubte, alle Religionen unter einem Dach – und vor allem unter seiner Führung – vereinen zu können. Zu diesem Zweck gründete er den «Rat für die Religionen der Welt». Die Allmachtsfantasien prägten sein Bewusstsein – eine Eigenschaft, die er mit vielen Sektenführern teilte.

Aussergewöhnlich war, wie konsequent Moon sein religiöses und wirtschaftliches Imperium aufbaute. Seine Anhänger, Munis genannt, missionierten und bettelten bis zum Umfallen. So kam ein Vermögen zusammen, das es dem Sektenführer erlaubte, einen globalen Konzern aufzubauen, das die Zeitung «Washington Times», das Hotel New Yorker in Manhattan, eine Autofirma, mehrere Finanzinstitute und vieles mehr umfasst. Dank des politischen Arms der Sekte gelang es ihm immer wieder, Audienz bei Spitzenpolitikern zu erhalten und Weltfriedenskonferenzen mit politischen Schwergewichten zu organisieren. Seine Ideologie nannte er «Gott-ismus».

Berühmt waren auch die Massenhochzeiten. Moon traute Zehntausende von Anhängern gleichzeitig, die er mit göttlicher Eingebung wild zusammenwürfelte. Zum Wohl der Menschheit mussten sie «reine Kinder» zeugen, die angeblich frei vom Fluch der Erbsünde waren. In den 80er-Jahren war die Schweiz ein europäischer Stützpunkt der Munis. An getarnten Politseminaren nahmen auch Politiker aus dem rechten Lager teil. Doch in den 90er- Jahren verlor die Sekte hier Einfluss und Mitglieder, heute gibt es bei uns nur noch kleine Splittergruppen.

Die Vereinigungskirche wird den Tod des religiösen Autokraten überleben. Hunderttausende sind gefangen in seinem geschlossenen religiösen und sozialen System. Zudem hinterlässt Moon – im Gegensatz zu Osho, Hubbard und Berg – eine funktionierende Machtstruktur. Mit seiner letzten Frau gründete Moon die «heilige Familie» und zeugte 14 Kinder. Der jüngste Sohn, Hyung Jin-moon, wurde vor vier Jahren als sein Nachfolger bestimmt. Der 32-Jährige dürfte rasch vom «reinen Kind» zum «wahren Vater» aufsteigen und seinen leiblichen Vater kopieren.

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Religiöser Machtmissbrauch

Hugo Stamm am Montag den 27. August 2012
Kritische Fragen sind nicht erwünscht: Kruzifix in einem Klassenzimmer. (Bild: Keystone)

Kritische Fragen sind nicht erwünscht: Kruzifix in einem Klassenzimmer. (Bild: Keystone)

Wenn ich grundsätzliche Kritik an Glaubensgemeinschaften übe, treffen mich oft ungläubige Blicke. Manchmal kommt es mir vor, als zweifelten meine Gesprächspartner grundsätzlich an meinem intellektuellen Vermögen. Der Gedanke, religiöse Betätigung könnte allenfalls auch für sie negative Auswirkungen haben, übersteigt ihr Vorstellungsvermögen. Da für sie der Glaube das Heilsprinzip per se ist und sie überzeugt sind, im Glauben oder in Gott aufgehoben zu sein, passen kritische Einwände nicht in ihr Denkschema. Offenbar löst allein schon die Idee, Kritik an Heilsvorstellungen zu üben, Angst aus, sündig zu werden. Womit wir ja schon mal ein Beispiel dafür haben, dass Glaubensfragen Ängste auslösen und negative Wirkungen erzeugen können.

Ich möchte das unheilvolle Syndrom an einem Beispiel aufzeigen. Einen religiösen Missbrauch erlitt ein heute 21-jähriger Argentinier, der seit drei Jahren in der Schweiz lebt. Er wuchs in einem kleinen argentinischen Dorf auf und war 14, als die Lehrerin im Biologie-Unterricht den Darwinismus behandelte und auf die Entstehung der Erde zu sprechen kam. Sie handelte verschiedene Theorien ab, wie es der Lehrplan verlangte, sagte aber zum Schluss, dass es nur eine wahre Lehre gebe, nämlich die Schöpfungslehre, wie sie in der Bibel dargestellt sei.

Der besagte Schüler streckte auf und fragte die Lehrerin ohne Hintergedanken, weshalb sie mehrere Theorien darlege, wenn es doch eine einzige gesicherte Erkenntnis gebe.

Die Lehrerin fühlte sich angegriffen, wurde zornig und gab ihm eine Ohrfeige. Der Schüler war sprachlos. Er verstand damals nicht, weshalb ihn die Lehrerin wegen einer einfachen Frage bestrafte. Sonst lobte sie doch Schüler, die Fragen stellte.

Was dann geschah, tat dem Schüler viel mehr weh, als die Ohrfeige. Die Lehrerin tratschte im Dorf herum, der Schüler sei besessen, denn nur der Satan habe ihm eine solche gotteslästerliche Frage einflüstern können.

Die Konsequenzen waren fatal. Die Nachbarn mieden den Knaben, die Freunde liessen ihn fallen. Am meisten schmerzte ihn, dass sich auch die Mädchen, bei denen er stets gut angekommen war, nicht mehr getrauten, in der Öffentlichkeit mit ihm zu sprechen.

Eine intelligente Frage hatte den 14-Jährigen zum Aussenseiter gemacht. Der Glaube – oder eher: der Aberglaube – brachte das Dorf gegen ihn auf. Er wurde ausgegrenzt und wusste nicht einmal, warum. Er galt als störrisch und besessen. Als er von der Möglichkeit des Schüleraustausches hörte, sah er endlich eine Möglichkeit, aus dem Dorf zu flüchten. So kam er in die Schweiz.

Man kann einwenden, dass ein solch krasser Fall bei uns nicht passieren könne. Das trifft sicher zu. Doch in harmloseren Varianten gibt es auch bei uns – vor allem in ländlichen Gegenden – ebenfalls religiöse Stigmatisierungen. Und es ist noch nicht allzu lang her, dass auch bei uns Menschen ausgegrenzt wurden, die sich religionskritisch gaben oder als Ungläubige galten. Ich bin zum Beispiel als Katholik im protestantischen Schaffhausen aufgewachsen. Wenn wir am Sonntagmorgen jeweils in den Gottesdienst gingen, wurden wir manchmal von Gleichaltrigen auf dem Weg zur Kirche verprügelt.

Dass bei uns die Toleranz gewachsen ist und die Religionsfreiheit besser greift, haben wir nur bedingt den Religionsgemeinschaften zu verdanken, denn diese gaben ihre Vormachtstellung und Privilegien nicht freiwillig ab. Es ist vielmehr das Verdienst der kritischen Geister im Land, die mit Aufklärungsarbeit auf die Missstände aufmerksam gemacht und das Denken breiter Kreise beeinflusst haben. Durch diese Sensibilisierung wuchs der Druck auf die Glaubensgemeinschaften, ihre Machtpositionen zu überdenken und die verfassungsmässig verankerte Religionsfreiheit ernst zu nehmen.

Deshalb ist Aufklärungsarbeit wichtig, auch heute noch. Denn wir sehen zum Beispiel bei der katholischen Kirche, dass sie das Rad der Zeit zurückdrehen möchte, was dem Vatikan schon zu einem guten Stück geglückt ist. Der konservative Klerus hat es bereits geschafft, verschiedene Errungenschaften des 2. Vatikanischen Konzils rückgängig zu machen. Gegen den Willen vieler Gläubigen.

Gott, der Liebling der Athleten

Hugo Stamm am Donnerstag den 9. August 2012

Mit gefalteten Händen: Usain Bolt nach seinem Olympiasieg über 200 m in London.

Usain Bolt, der schnellste Mann der Welt und aktueller Olympiasieger über 100 und 200 Meter, pflegt sich vor dem Start zu bekreuzigen, seinen Zeigefinger zu küssen und ihn zum Himmel zu strecken. Mit Gottes Hilfe will er es richten.

Sanya Richards ist eine weitere Spitzenathletin, die ihren Glauben in der Arena zelebriert. Die amerikanische Olympiasiegerin über 400 Meter erklärt, sie sei die Beste, weil Gott sie auserwählt habe.

Allyson Felix, Olympiasiegerin über 200 Meter, sagt sogar, sie laufe wegen des Glaubens, es sei ein Geschenk Gottes. Damit lobpreise sie ihren Herrn. Immerhin drücken die beiden Sprinterinnen ihren christlichen oder freikirchlichen Glauben nicht durch Gesten aus, sprechen aber an Pressekonferenzen gern darüber.

Die Männer sind da offensichtlich offensiver. Will Claye, Broncegewinner im Weitsprung, nahm auf seiner Ehrenrunde nicht nur eine Landesflagge mit, sondern streckte auch eine Bibel in den Himmel.

Noch einen Schritt weiter geht manchmal Ryan Hall. Der schnellste weisse Marathonläufer gab einst auf einem Meldeblatt Gott als seinen Coach an. Als der Funktionär dies nicht akzeptierte, sagte Hall, Gott mache seine Trainingspläne und habe ihm die Taktik für den bevorstehenden olympischen Marathon eingeflüstert.

Gott prophezeite Hall eine Weltrekordzeit für London. Also trainierte er noch härter. Doch sein Körper rebellierte. Er habe den von Gott offenbarten Trainingsplan falsch interpretiert, sagte er danach.

Diese Glaubensbezeugnisse haben mit Sport nichts zu tun und sind für alle ein Ärgernis, die einen andern oder keinen Glauben haben. Die strenggläubigen Christen in den olympischen Sportarenen nutzen das weltweite Publikum, um für ihren Glauben zu missionieren. Dass sie dabei den kindlichen Glauben demonstrieren, Gott begleite und beschütze sie während des Trainings und bei den Wettkämpfen – ja, er trage sie ins Ziel und zum Sieg – entlarvt ihr beschränktes Bewusstsein. Als hätte Gott nichts Besseres zu tun, als Olympiasieger zu küren. Die gläubigen Sportler würden ihren Gott besser bitten, seine Kraft darauf zu verwenden, hungernde Kinder zu ernähren. Die Spitzenathleten zeigen damit, dass strenggläubige Menschen oft sehr egozentrisch sind und den Anspruch haben, Gott müsse ihnen für noch so nichtige Dinge zur Verfügung stehen.

Noch etwas: Würden strenggläubige Moslems, die wir dann Islamisten nennen würden, religiöse Botschaften in die Arenen tragen, ginge ein Aufschrei durch die westliche Welt. Wahrscheinlich würden dann Stimmen laut, die verlangten, religiöse Bekenntnisse müssten aus den Stadien verbannt werden.

Braucht die Schöpfung einen Schöpfer?

Hugo Stamm am Dienstag den 10. Juli 2012

Diesen Impulstext hat Ruedi Schmid (Optimus) verfasst.

Religion oder Wissenschaft: Wer hat die besseren Argumente in der Hand?

Religion oder Wissenschaft: Wer hat die besseren Argumente in der Hand?

«Am Anfang erschuf Gott Himmel und Erde», so beginnt die Genesis. Am Anfang musste aber zuerst Gott erschaffen werden. Dadurch wird ein viel grösseres Schöpfungsphänomen herangezogen als es zu erklären vermag. Auch das Argument, es müsse Gott als erste Ursache geben, übergeht die erste Ursache, wie Gott entstanden ist. Dass sich das menschliche Verständnisvermögen mit solchen Scheinerklärungen zufrieden gibt, zeigt, wie leichtgläubig der Mensch ist und durch Gehorsam ohne nachzudenken den Autoritäten Glauben schenkt. Die Glaubwürdigkeit wird auch durch den Kinderwunsch nach einem (göttlichen) Vater, der alles kann, begünstigt.

Grundsätzlich ist jede Erklärung mit Hilfe von Wundern absurd, denn Wunder ermöglichen alles und erklären nichts. Wir wissen aus Erfahrung, dass zum Beispiel Kinder zuerst gezeugt und dann im Mutterleib langsam heranwachsen müssen und nicht einfach durch ein Wunder auf die Welt kommen. Auch wenn wir noch nicht alles bis ins letzte Detail erklären können, bedeutet dies nicht, dass ein Wunder Gottes dahinter steckt. Alles entsteht und funktioniert auf der Basis von Gesetzen. Leben auf der Basis von Wundern ist nicht möglich, weil man dann das Leben nicht beeinflussen und Handlungen nicht vorausahnen könnte. Schon aus diesen Grundüberlegungen heraus muss sich alles auf Gesetzmässigkeiten zurückführen lassen.

Entsprechend lässt sich auch die Entstehung des Homo sapiens über die Gesetzmässigkeiten der Evolution erklären. Mit der Zellbiologie lässt sich nachvollziehen, wie sich aus der Atomvielfalt durch die biochemischen Gesetze Leben bildet. Die Sterne zeigen uns, wie durch die Kernverschmelzungsgesetze diese Atomvielfalt entstanden ist, und auch für die Entstehung von Materie und des Universums aus dem Nichts hat man Gesetzmässigkeiten gefunden. Ein Beispiel:

Wenn man mit einem Teleskop ins Universum blickt, dann zeigt uns die nächste Galaxie Andromeda ihre Vergangenheit vor 2,5 Millionen Jahren und das Älteste, was man sehen kann, ist eine 13,75 Milliarden Jahre alte Hintergrundstrahlung als direkter Bote der Universumsentstehung. Die Auswertung von Teleskopbeobachtungen zeigt uns direkt die Entstehungsgeschichte des Universums bis fast zum Urknall, dem Ursprung der Materieentstehung, und die Untersuchung der Materie im CERN verrät uns, wie Materie aus dem Nichts entstehen konnte.

Dabei zeigt sich, dass Materie nicht so ist, wie wir sie wahrnehmen. Sie kann sich in Energie umwandeln, wechselseitig mit Antiteilchen auflösen und wieder entstehen. Oder je nach Beobachtung als Teilchen oder Welle in Erscheinung treten. Mit der Modellvorstellung, dass Materie aus Kräften zwischen dimensionslosen Elementarteilchen besteht, lassen sich diese Eigenschaften noch am besten vorstellbar machen, aber es ist aussichtslos, Materie zu verstehen.

Ein direkter Hinweis auf die Entstehung von Materie aus dem Nichts zeigen folgende Beobachtungen: Im Vakuum entstehen und zerfallen ohne jeglichen Einfluss Teilchen-Antiteilchen-Paare (Vakuumfluktuation). Sterne ab einer bestimmten Grösse kollabieren durch die eigene Gravitation zu schwarzen Löchern, wo sich dann ihre Materie durch die hohe Gravitationsdichte in Nichts (Singularität) auflöst. Wenn durch Materie und Gravitation nichts entsteht, ist auch das umgekehrte vorstellbar, dass aus Nichts Materie und Gravitation entstehen kann, was zu Hawkings Folgerung führte: «Weil es ein Gesetz wie das der Schwerkraft gibt, kann und wird sich ein Universum selber aus dem Nichts erschaffen. […] Spontane Schöpfung ist der Grund, warum es statt dem Nichts doch etwas gibt, warum das Universum existiert, warum wir existieren.»

Die Materie des Universums hat sich aber nicht mit einem Knall gebildet, wie das Wort Urknall irreführend ausdrückt. Zweifel bestehen, weil die Frage der erforderlichen Energie offen bleibt. Ganz am Anfang war Nichts, was physikalisch die Abwesenheit von Raum und Zeit bedeutet und als Singularität bezeichnet wird. Dann entstand mit der Materie auch die Zeit, zuerst ohne Kontinuum (Plank-Zeit), also nicht plötzlich. Nach der Plank-Zeit wird auch wegen der hohen Raumzeitkrümmung (Zeitdilatation) der Urknall für den entfernten Beobachter zu einem langsamen Prozess. Die Bezeichnung Knall ist daher irreführend.

Die Schöpfung aus dem Nichts lässt sich somit in den Grundzügen auf die Naturgesetze zurückführen. Das kürzlich entdeckte Higgs-Boson-Teilchen ist eine weitere Bestätigung, dass diese Hypothese richtig ist. Aber alle Details zu klären und theoretisch zu erfassen, ist ein endloser Weg, weil immer Neues hinzukommt. Die Forschungserkenntnisse nehmen dabei bereits einen Umfang an, der nur noch in internationalen Teams unter Spezialisten bewältigt werden kann, so dass selbst der einzelne Forscher den Überblick verliert und auch der menschliche Verstand nicht mehr mitmacht, wodurch auch die Ergebnisse der Allgemeinheit nicht mehr kommuniziert werden können.

Abgesehen vom technischen Nutzen stellt die Zunahme dieses Verständnisproblems den Erkenntnisnutzen in Frage. Das begünstigt den Glauben in Form einer Ideologie. Den Glauben an etwas Einfacheres, das man noch verstehen und sich vorstellen kann; ein Glauben der Vernunft, der dem Leben zugutekommt und nicht der Wahrheit. Kant befürwortete dabei Gott als regulatives Prinzip der Vernunft. Dadurch liesse sich der Glaube an Gottes Schöpfung als Vernunft rechtfertigen. Aber solange die Religionen mit der Wahrheit argumentieren, bleib der Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft bestehen.

Von der Unsitte, Knaben aus religiösen Gründen zu beschneiden

Hugo Stamm am Donnerstag den 28. Juni 2012
Ein Knabe wird nach seiner Beschneidung behandelt. (Keystone)

Ein Knabe wird in Istanbul nach seiner Beschneidung behandelt. (Keystone)

Die Buchreligionen haben mehr gemeinsam, als nach aussen oft erkennbar ist. Abraham als religiöser Urvater bildet das Fundament. Und mit ihm das Alte Testament. Nimmt man aber die politische Grundhaltung vieler Vertreter der drei Religionen, driften Christentum, Judentum und Islam immer weiter auseinander.
Zum Beispiel: Israelische Juden wollen Araber aus Teilen Israels vertreiben, erobern mit ihrer Siedlungspolitik palästinensische Territorien, und die Regierung baut riesige Mauern, um die Palästinenser fernzuhalten und zu schikanieren.

Muslime ihrerseits verfolgen in manchen arabischen oder islamischen Ländern Christen, bringen manche um und zerstören Kirchen. Islamisten verüben ausserdem Terrorakte in der westlichen Welt und wollen die Scharia als rechtliche Instanz in ihren Ländern einführen. Dies auch in Ägypten, wenn auch in gemässigter Form. Daran haben die jungen Revolutionäre wohl nicht gedacht, als sie das Mubarak-Regime zum Teufel jagten.

Und wir Christen sind auch nicht verlegen, unsere Ressentiments gegenüber Muslimen kundzutun. Viele Islam-Gläubige unterliegen einem Generalverdacht, der im Minarett-Verbot eine politische Note bekam. Die Säkularisierung findet also nur in Teilen des Westens statt. Was noch schlimmer ist: Religiöse Interessengruppen nehmen in vielen Ländern immer mehr Einfluss auf die Politik.

Es gibt aber auch Gegenbeispiele – zum Glück. So hat das Landgericht Köln rechtskräftig die Beschneidung von Knaben als Straftat bewertet. Eine Unsitte, die in jüdischen und islamischen Gemeinschaften zum Standard-Ritual gehört. Viele Gläubige berufen sich auf die Religionsfreiheit. Nur: Was zum Teufel hat die Beschneidung mit Religion zu tun? Nur weil es in alten Büchern so gehandhabt wird, bedeutet dies noch lang nicht, dass das Wegschneiden der Vorhaut sinnvoll ist. Gerade Gläubige müssten doch einsehen, dass Gott die Knaben mitsamt diesem Körperteil nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Wieso soll dann diese Haut plötzlich überflüssig oder gar «böse» sein?

Auch hygienische Gründe für den Einsatz des Skalpells sind nicht hilfreich. Viele Ärzte führen auch negative Folgen der Beschneidung an.

Vielmehr ist die Beschneidung ein äusserst fragwürdiges Initiationsritual und markiert die Religionszugehörigkeit. Ironie des Schicksals: Die beiden Erzfeinde – Juden und Moslems – markieren ihr Knaben auf exakt die gleiche Weise.

Der Aufschrei der Juden und Muslime nach der Verkündung des Urteils in Deutschland liess nicht lang auf sich warten. Der Zentralrat der Juden sprach von einem «unerhörten und unsensiblen Akt» und von «einem beispiellosen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften». Ah ja? Und was ist mit dem Selbstbestimmungsrecht der Knaben, die ungefragt beschnitten werden? Ähnliche Töne gab der Zentralrat der Muslime von sich. Auch ihn würde ich gern fragen, was die Beschneidung mit dem Glauben zu tun hat. Schon fast niedlich ist die Reaktion der katholischen Bischofskonferenz, der im Urteil auch eine Beschränkung der Religionsfreiheit sieht.

Neben den jüdischen und islamischen Knaben profitieren auch die deutschen Ärzte vom Urteil. Sie müssen den Unsinn nicht länger ausführen.


Religiöse Menschen sind anfälliger für Vorurteile

Hugo Stamm am Freitag den 23. Dezember 2011
Teilnehmer der Europride 2009 in Zürich, Juni 2009.

Religiöse Menschen sind homophober als nicht-religiöse: Teilnehmer der Europride in Zürich, Juni 2009. (Bild: Keystone)

Gläubige Menschen sind gegenüber Mitmenschen offen, tolerant und mitfühlend. Das ist die vorherrschende Meinung. «Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst» ist ein Leitspruch der christlichen Glaubensgemeinschaften, der tief verankert ist im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Der gütige Vater und der barmherzige Jesus sind gängige Stereotypen. Die biblische Aufforderung, die Feinde zu lieben und die andere Wange hinzuhalten, runden das Bild von der friedlichen Heilslehre ab, die abfärbt auf die Mentalität der Gläubigen. Doch stimmen diese Vorstellungen mit der Realität überein?

Eine Untersuchung der Bielefelder Psychologie-Professorin Beate Küpper zeichnet ein weniger schmeichelhaftes Bild von Gläubigen. Wenn es um Rassismus, Sexismus und Homophobie geht, schneiden religiöse Menschen schlecht ab. Die Studie, die sich auf Deutschland bezieht, stellt vor allem den Protestanten in den östlichen Bundesländern schlechte Noten aus. Diese neigten besonders rasch zu rassistischen Äusserungen, fand Beate Küpper heraus.

Die Psychologie-Professorin forscht seit Jahren auf dem Gebiet der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Sie hat allgemein festgestellt, dass Protestanten und Katholiken schneller zu Vorurteilen greifen als glaubensferne Menschen. Die Ursache sieht sie im traditionellen Absolutheitsanspruch des Christentums. «Dass meine Religion anderen Religionen überlegen ist, zeigt eine Einteilung in besser und schlechter», erklärt Beate Küpper diese Denkweise. Ausserdem hätten laut ihrer Studie viele eine äusserst positive Meinung von sich selbst. Sie fühlten sich in ihren Bewertungen sehr sicher.

Konkret: Über ein Fünftel der deutschen Protestanten stimmten der Aussage zu, Weisse seien zu recht führend in der Welt, bei den Glaubensfernen waren es nur 12 Prozent. Gar über 60 Prozent der Gläubigen stimmten der These zu, in Deutschland lebten zu viele Ausländer. Und fast die Hälfte der befragten Protestanten und Katholiken gab an, Ausländer sollten nach Hause geschickt werden, wenn die Arbeitsplätze knapp werden.

Diese Tendenz war auch in der Schweiz bei der Minarett-Initiative spürbar: Die Stimmung bei Freikirchen-Gläubigen für das Anliegen war offensichtlich.

«Die Kirche muss sich endlich fragen, was da schief läuft», resümiert die Psychologie-Professorin.

Sterbehilfe ist nicht des Teufels

Hugo Stamm am Samstag den 19. November 2011

Mit Würde gehen: Die Sterbebegleitung kann viel Leiden ersparen.

Für strenggläubige Christen aller Couleur ist die Sterbehilfe eine Sünde, für manche eine Todsünde. So will es die Bibel. Gott hat uns, wie sie glauben, das Leben geschenkt, der Mensch darf nur beschränkt über dieses Verfügen. Die katholische Kirche ging früher so weit, Selbstmörder – ein schreckliches Wort – von den Friedhöfen zu verbannen. Bevor es die Sterbehilfe gab, waren Suizidwillige gezwungen, sich umzubringen, teilweise auf schreckliche Art. Verheerend sind oft auch heute noch die Folgen von missglückten Suiziden: Verzweifelte Menschen, die sich in den Kopf schiessen, erleiden dabei keine tödlichen Verletzungen. Dafür bleiben sie für den Rest des Lebens entstellt, verkrüppelt und hirngeschädigt.

Für wortgläubige Christen ist jeder Eingriff in die Grundlagen des Lebens unstatthaft. So auch die Abtreibung. Deshalb greifen Fundis in den USA schon mal Gynäkologen an, wenn sie Abtreibungen durchführen. Die frommen Christen sind zwar gegen Suizid und Sterbehilfe, sie fühlen sich aber legitimiert, im Namen Gottes zu morden.
In der modernen Zivilisation sind diese simplen Weltbilder in Schwarz und Weiss nicht mehr tauglich, oft gar bigott. Die Realität ist viel zu komplex, um ihr mit einfachen Dogmen gerecht zu werden. Die Medizin greift so fundamental in die Grundlagen des Lebens ein – vor allem bei der Gentechnologie -, dass man mit religiösen Dogmen in Teufels Küche kommt. Doch dies realisieren die Fundis nicht, weil sie in ihrer religiösen Verblendung die komplexe Realität auf einfache Glaubenssätze reduzieren.

Ein konkretes Beispiel: Ein naher Bekannter starb diese Woche mit 50 Jahren an Krebs. Sein Leidensweg in den letzten Monaten war schrecklich, der Schmerz unerträglich. Die Gegner der Sterbehilfe, die behaupten, heute könne man diese mit palliativen Methoden lindern, hätten meinen Bekannten im Spital besuchen müssen. Trotz sehr hohen Dosen von Morphinpräparaten litt er Qualen. Oder er fiel in eine Art Wachkoma und war nicht mehr ansprechbar. Wie sehr er selbst in diesem Zustand litt, zeigten sein Reaktionen: Er schlug mit dem Kopf wild um sich, als wollte er ihn gegen die Wand schlagen.

Schliesslich haben ihn die palliativen „Therapien“ umgebracht – oder eben erlöst. Die Ärzte im Spital stoppten auch die künstliche Ernährung, um das Leiden zu verkürzen – oder den Tod zu beschleunigen. Ich hätte dem Bekannten gewünscht, ihm wäre das Leiden der letzten Wochen erspart geblieben. Dazu hätte es nur eine Methode gegeben: Sterbebegleitung durch Dignitas oder Exit. Was hat Gott davon, wenn er seine Geschöpfe, denen er angeblich das Leben geschenkt hat, derart erbärmlich sterben sieht? Wenn er barmherzig wäre, müsste er für die Sterbehilfe sein.

Mädchen im Bann einer Esoterikerin

Hugo Stamm am Donnerstag den 10. November 2011

Dies ist die Geschichte der 14-jährigen Christa (Name geändert). Fragwürdige Fürsorgemassnahmen haben sie und ihre Familie in eine schwere seelische Krise gestürzt. Im Fokus steht eine esoterisch angehauchte Sozialpädagogin, die ihre Kompetenzen überschritt.*

Es begann Mitte 2010. Christa litt unter mangelndem Selbstwertgefühl und war in der Klasse isoliert. In wöchentlichen Sitzungen sollte die Sozialpädagogin der Schule Christa unterstützen. Bald verhielt sich die Schülerin merkwürdig, wurde rebellisch und entfremdete sich von ihrer Familie. Eltern und Bekannten erzählte sie, die Sozialarbeiterin sei eine Lichtarbeiterin und Hellseherin. Die Sozialarbeiterin stritt die Schilderungen Christas ab und wälzte alles auf die blühende Fantasie der Tochter. Als die Eltern sie zur Rede stellten, reagierte Christa heftig. Der Disput zeigte ihr, dass nur die Sozialarbeiterin sie verstehe.Nach rund neun Monaten eskalierte die Situation. Als Christa eines Mittags nicht nach Hause kam, suchte sie die Mutter mit dem Auto. Erfolglos. Ein Anruf der Lehrerin traf sie wie ein Schlag: Die Sozialpädagogin habe Christa am Morgen ins Mädchenhaus gebracht.

Heimliche Besuche

Für die Eltern war das ein behördlicher Willkürakt, er wirkte auf sie wie die Entführung der eigenen Tochter. Sie begannen zu recherchieren. Die Puzzleteile ergaben ein bedrohliches Bild. Die Eltern fanden heraus, dass die Sozialpädagogin die Schweizer Vertreterin einer international tätigen sektenhaften Gruppe war und spirituelle Seminare geleitet hatte. Sie hatte eine enge persönliche Beziehung zu Christa aufgebaut und diese in den Bann ihrer esoterischen Gegenwelt gezogen, die sie verwirrte. «Sie sagte mir, sie könne mit Geistern kommunizieren und müsse Gottes Licht in die Welt bringen», erzählt Christa im Rückblick. «Sie erklärte mir auch, ich hätte besondere spirituelle Begabungen.» Bekannten sagte Christa, sie liebe die Sozialpädagogin wie eine Mutter. Deshalb treffe sie ihre Betreuerin heimlich. Wenn sie achtzehn sei, werde sie zu ihr ziehen.

Die Sozialpädagogin treibt einen Keil zwischen Christa und uns, waren die Eltern überzeugt. Christa dazu: «Sie sagte mir, meine Mutter habe eine Psychose, sie sehe den Geist über ihrem Kopf. Sie sah auch in einer Vision, dass Mami nicht meine leibliche Mutter sei.» Als die Schülerin ein Ekzem an einem Finger hatte, brachte die Sozialarbeiterin sie zu einer Hautärztin, ohne die Eltern zu informieren. «Sie zwängte sich in die Rolle der Ersatzmutter», sagt die Mutter.

Rätselhaft Hämatome

Auch Mails von Christa bestätigten ihre Recherchen: «Mama, ich finde es nicht schön, dass du Frau S. (Sozialpädagogin) gesagt hast, dass du mich nicht lieb hast. Ich habe genug und will nichts mehr von euch wissen!» Die Mutter beteuert, nie eine solche Aussage gemacht zu haben. In einer weiteren Nachricht schrieb Christa: «Ich liebe Frau S. aus ganzem Herzen, ich werde nie mehr zurückkommen.» Später schienen dem Mädchen die Augen aufzugehen: «Liebe Mama, holt mich raus, ich halte es nicht mehr aus. Frau S. zwingt mich, hier zu sein, ich habe gelogen wegen Frau S.»

Die Eltern kannten den Grund der einschneidenden Massnahme immer noch nicht. Später erfuhren sie, dass Schulbehörden und Mädchenhaus Gefährdungsmeldungen an die Vormundschaftsbehörden geschickt hatten. Und dass Christa behauptete, ihre Eltern würden sie schlagen, wie Hämatome an den Oberschenkeln bewiesen. Christa sagt heute auch, dass sie sich die Hämatome an Turngeräten zugezogen habe. Die Eltern hätten sie nie geschlagen. Sie habe dies behauptet, weil sie sauer auf sie gewesen sei.Christa war zwölf Tage im Mädchenhaus. Die Eltern durften keinen Kontakt zu ihr aufnehmen, die Sozialpädagogin besuchte das Mädchen aber mehrmals. Christa: «Ich wollte nicht ins Mädchenhaus, Frau S. hat mich gezwungen.» Die Eltern fühlten sich auch von den Schulbehörden im Stich gelassen. Christa musste in eine Privatschule wechseln, die Sozialarbeiterin durfte weiterhin im Schulhaus arbeiten. Schulpräsidentin Anita Bruggmann behauptete, die Sozialpädagogin sei nie Mitglied dieser esoterischen Gruppe gewesen. Dokumente widerlegen dies jedoch. Im Religionsführer Zürich taucht die Pädagogin als Vertreterin einer sektenhaften Gruppe in der Schweiz auf.

Flucht ins Mädchenhaus

Nach den Sommerferien stellten die Eltern erneut ein sonderbares Verhalten ihrer Tochter fest. Als sie an einem Elterngespräch in der Schule erfuhr, dass die Probezeit wegen ungenügender Leistungen verlängert werde, brach in ihr eine Welt zusammen, und sie flüchtete Hals über Kopf ins Mädchenhaus. Die Eltern fanden heraus, dass Christa wieder Kontakt zur Sozialpädagogin hatte, zumindest telefonischen.

Und wieder behauptete Christa, von den Eltern geschlagen zu werden. Deshalb erwogen die Behörden einen Obhutsentzug. Diese einschneidende Massnahme entnahmen die Eltern beiläufig einem Schreiben der Fürsorgebehörde Wallisellen. Darin hiess es, das Jugendsekretariat Bülach habe beantragt, Christa drei Monate im Mädchenhaus unterzubringen und einen superprovisorischen Obhutsentzug zu erlassen. Die Kosten für den geplanten Aufenthalt betrügen 32 000 Franken.

Die Eltern waren konsterniert, zumal ihnen auch noch Kosten in fünfstelliger Höhe drohten. Sie hatten bereits 4300 Franken für den ersten Aufenthalt von Christa im Mädchenhaus bezahlt, für eine Massnahme, die gegen ihren Willen durchgesetzt worden war. In ihrer Verzweiflung wendeten sie sich an den «Tages-Anzeiger». Der Ton der Behörden änderte sich, als der TA nachzufragen begann. Eigentlich hätte Christa aus der Familie entfernt werden sollen, doch es passierte nichts. Eine heikle Situation drohte vor den Herbstferien. Die Eltern hatten schon lang beschlossen, nach Italien zu fahren, doch ihre Anwältin warnte sie vor allfälligen polizeilichen Massnahmen, wenn sie Christa ins Ausland mitnehmen würden. Doch plötzlich erlaubte die Behörde die Ferienreise nach Italien. Für die Eltern war das ein Beweis, dass nie eine Gefährdung des Kindswohls bestanden hatte.

Pädagogin weiterhin im Amt

Die endgültige Wende kam, als dieser Artikel bereits geschrieben war: Die Vormundschaftsbehörde hob den Obhutsentzug überraschend auf. Für die Eltern eine Erlösung. Die Einweisung von Christa in ein Heim mache zurzeit keinen Sinn, weil sie wieder nach Hause flüchten würde, argumentiert die Vormundschaftsbehörde. Eine geschlossene Abteilung komme nicht in Betracht, weil dies eine unverhältnismässige Massnahme sei und das Mädchen dort mit gewalttätigen Kindern in Kontakt käme, «was für sie nicht förderlich wäre».

Nicht verstehen können die Eltern, dass sie auch eine Rechnung für den zweiten Aufenthalt von Christa im Mädchenhaus über 3850 Franken bekamen und dass die Sozialarbeiterin weiterhin an der Schule arbeitet. Schulpräsidentin Anita Bruggmann will zuerst weitere Informationen einholen und sich mit den Vormundschaftsbehörden absprechen, bevor sie mit der Schulpädagogin über den Fall reden und allfällige Sanktionen ergreifen will. Die Sozialpädagogin selber wollte keine Stellung zum Fall nehmen. Sie wurde beurlaubt, als der Artikel im TA erschienen ist.

*Es handelt sich bei diesem Text um einen Artikel von Hugo Stamm, der am 8. Nov. im TA erschienen ist.

Beschützt Gott den neuen Bischof?

Hugo Stamm am Freitag den 4. November 2011
Ist ob der grossen Last, die nun auf ihm lastet, etwas erschrocken: Der neu ernannte Bischof Charles Morerod.

Ist ob der grossen Last, die nun auf ihm lastet, etwas erschrocken: Der neu ernannte Bischof Charles Morerod.

Charles Morerod ist ein gottesfürchtiger Mann, ein frommer Dominikanerpater. Obwohl er eher schüchtern ist und grosse Auftritte nicht liebt, machte er in der katholischen Kirche Karriere. 1999 wurde er Professor an der Universität Angelicum in Rom, 2009 gar deren Rektor. Im gleichen Jahr machte ihn der Papst zum Generalsekretär der theologischen Kommission und zum Konsulator der Glaubenskongregation. «Um glücklich zu leben, muss man versteckt leben», sagte er einst.

Nimmt man seine Aussage zum Nennwert, muss Morerod nun todunglücklich sein. Der papsttreue Geistliche wurde nämlich zum Bischof für die Westschweiz ernannt. Er ist nun der Hirte von 690’000 Katholiken, Chef von 300 Priestern und 400 Laientheologen. Der scheue Mann mag eigentlich keine Sitzungen, doch sein neues Leben wird zu einem grossen Teil aus Zusammenkünften bestehen. Und aus Repräsentationspflichten, die er auch nicht mag.

Deshalb gestand der neue Bischof: «Die grosse Last, die ich auf meine Schultern nehme, hat mich etwas erschreckt.»

Bei einem Manager würde man von einer gefährlichen Work-Life-Balance sprechen und die Gefahr eines Burnouts heraufbeschwören. Nicht so bei Morerod. Er hat eine Rückversicherung, auf die er baut: Er vertraue auf den Beistand Gottes, in dessen Hände er sein Leben gelegt habe, sagte er.

Was bedeutet das? Der neue Bischof glaubt, dass Gott ihn begleitet, ja vielleicht sogar die schützende Hand über ihn hält. Und dieser Gott wird dafür sorgen, dass er nicht in eine Depression fällt, wenn er sich Jahr für Jahr durch die lästigen Sitzungen kämpfen und bei Veranstaltungen den Gläubigen zuwinken muss. Er wird kaum mehr Zeit haben, sich in sein Studierzimmer zurückzuziehen und sich seinen geliebten Büchern zu widmen.

Morerod baut auf Gott. Der wird schon wissen, weshalb er mir dieses Amt anvertraut, denkt er.

Doch: Hat Gott tatsächlich etwas mit der Berufung von Morerod zum Bischof zu tun? Stehen Geistliche unter einem besonderen Schutz? Fällen sie weisere Entscheide, weil sie im Namen Gottes sprechen? Kümmert sich Gott – wenn er es denn wirklich tut – intensiver um die Führungskräfte als um die gewöhnlichen Gläubigen? Und was ist mit Muslimen, Hindus, Buddhisten? Oder Angehörigen von Naturreligionen?

Wenn man die Aussagen des neuen Bischofs interpretiert, kommt man zum Schluss: Er glaubt tatsächlich, dass Gott ein besonderes Augenmerk auf seine Würdenträger richtet. Das darf er. Die Frage ist nur, ob er sich in einer wichtigen Lebensfrage etwas vormacht.