Dies ist die Geschichte der 14-jährigen Christa (Name geändert). Fragwürdige Fürsorgemassnahmen haben sie und ihre Familie in eine schwere seelische Krise gestürzt. Im Fokus steht eine esoterisch angehauchte Sozialpädagogin, die ihre Kompetenzen überschritt.*
Es begann Mitte 2010. Christa litt unter mangelndem Selbstwertgefühl und war in der Klasse isoliert. In wöchentlichen Sitzungen sollte die Sozialpädagogin der Schule Christa unterstützen. Bald verhielt sich die Schülerin merkwürdig, wurde rebellisch und entfremdete sich von ihrer Familie. Eltern und Bekannten erzählte sie, die Sozialarbeiterin sei eine Lichtarbeiterin und Hellseherin. Die Sozialarbeiterin stritt die Schilderungen Christas ab und wälzte alles auf die blühende Fantasie der Tochter. Als die Eltern sie zur Rede stellten, reagierte Christa heftig. Der Disput zeigte ihr, dass nur die Sozialarbeiterin sie verstehe.Nach rund neun Monaten eskalierte die Situation. Als Christa eines Mittags nicht nach Hause kam, suchte sie die Mutter mit dem Auto. Erfolglos. Ein Anruf der Lehrerin traf sie wie ein Schlag: Die Sozialpädagogin habe Christa am Morgen ins Mädchenhaus gebracht.
Heimliche Besuche
Für die Eltern war das ein behördlicher Willkürakt, er wirkte auf sie wie die Entführung der eigenen Tochter. Sie begannen zu recherchieren. Die Puzzleteile ergaben ein bedrohliches Bild. Die Eltern fanden heraus, dass die Sozialpädagogin die Schweizer Vertreterin einer international tätigen sektenhaften Gruppe war und spirituelle Seminare geleitet hatte. Sie hatte eine enge persönliche Beziehung zu Christa aufgebaut und diese in den Bann ihrer esoterischen Gegenwelt gezogen, die sie verwirrte. «Sie sagte mir, sie könne mit Geistern kommunizieren und müsse Gottes Licht in die Welt bringen», erzählt Christa im Rückblick. «Sie erklärte mir auch, ich hätte besondere spirituelle Begabungen.» Bekannten sagte Christa, sie liebe die Sozialpädagogin wie eine Mutter. Deshalb treffe sie ihre Betreuerin heimlich. Wenn sie achtzehn sei, werde sie zu ihr ziehen.
Die Sozialpädagogin treibt einen Keil zwischen Christa und uns, waren die Eltern überzeugt. Christa dazu: «Sie sagte mir, meine Mutter habe eine Psychose, sie sehe den Geist über ihrem Kopf. Sie sah auch in einer Vision, dass Mami nicht meine leibliche Mutter sei.» Als die Schülerin ein Ekzem an einem Finger hatte, brachte die Sozialarbeiterin sie zu einer Hautärztin, ohne die Eltern zu informieren. «Sie zwängte sich in die Rolle der Ersatzmutter», sagt die Mutter.
Rätselhaft Hämatome
Auch Mails von Christa bestätigten ihre Recherchen: «Mama, ich finde es nicht schön, dass du Frau S. (Sozialpädagogin) gesagt hast, dass du mich nicht lieb hast. Ich habe genug und will nichts mehr von euch wissen!» Die Mutter beteuert, nie eine solche Aussage gemacht zu haben. In einer weiteren Nachricht schrieb Christa: «Ich liebe Frau S. aus ganzem Herzen, ich werde nie mehr zurückkommen.» Später schienen dem Mädchen die Augen aufzugehen: «Liebe Mama, holt mich raus, ich halte es nicht mehr aus. Frau S. zwingt mich, hier zu sein, ich habe gelogen wegen Frau S.»
Die Eltern kannten den Grund der einschneidenden Massnahme immer noch nicht. Später erfuhren sie, dass Schulbehörden und Mädchenhaus Gefährdungsmeldungen an die Vormundschaftsbehörden geschickt hatten. Und dass Christa behauptete, ihre Eltern würden sie schlagen, wie Hämatome an den Oberschenkeln bewiesen. Christa sagt heute auch, dass sie sich die Hämatome an Turngeräten zugezogen habe. Die Eltern hätten sie nie geschlagen. Sie habe dies behauptet, weil sie sauer auf sie gewesen sei.Christa war zwölf Tage im Mädchenhaus. Die Eltern durften keinen Kontakt zu ihr aufnehmen, die Sozialpädagogin besuchte das Mädchen aber mehrmals. Christa: «Ich wollte nicht ins Mädchenhaus, Frau S. hat mich gezwungen.» Die Eltern fühlten sich auch von den Schulbehörden im Stich gelassen. Christa musste in eine Privatschule wechseln, die Sozialarbeiterin durfte weiterhin im Schulhaus arbeiten. Schulpräsidentin Anita Bruggmann behauptete, die Sozialpädagogin sei nie Mitglied dieser esoterischen Gruppe gewesen. Dokumente widerlegen dies jedoch. Im Religionsführer Zürich taucht die Pädagogin als Vertreterin einer sektenhaften Gruppe in der Schweiz auf.
Flucht ins Mädchenhaus
Nach den Sommerferien stellten die Eltern erneut ein sonderbares Verhalten ihrer Tochter fest. Als sie an einem Elterngespräch in der Schule erfuhr, dass die Probezeit wegen ungenügender Leistungen verlängert werde, brach in ihr eine Welt zusammen, und sie flüchtete Hals über Kopf ins Mädchenhaus. Die Eltern fanden heraus, dass Christa wieder Kontakt zur Sozialpädagogin hatte, zumindest telefonischen.
Und wieder behauptete Christa, von den Eltern geschlagen zu werden. Deshalb erwogen die Behörden einen Obhutsentzug. Diese einschneidende Massnahme entnahmen die Eltern beiläufig einem Schreiben der Fürsorgebehörde Wallisellen. Darin hiess es, das Jugendsekretariat Bülach habe beantragt, Christa drei Monate im Mädchenhaus unterzubringen und einen superprovisorischen Obhutsentzug zu erlassen. Die Kosten für den geplanten Aufenthalt betrügen 32 000 Franken.
Die Eltern waren konsterniert, zumal ihnen auch noch Kosten in fünfstelliger Höhe drohten. Sie hatten bereits 4300 Franken für den ersten Aufenthalt von Christa im Mädchenhaus bezahlt, für eine Massnahme, die gegen ihren Willen durchgesetzt worden war. In ihrer Verzweiflung wendeten sie sich an den «Tages-Anzeiger». Der Ton der Behörden änderte sich, als der TA nachzufragen begann. Eigentlich hätte Christa aus der Familie entfernt werden sollen, doch es passierte nichts. Eine heikle Situation drohte vor den Herbstferien. Die Eltern hatten schon lang beschlossen, nach Italien zu fahren, doch ihre Anwältin warnte sie vor allfälligen polizeilichen Massnahmen, wenn sie Christa ins Ausland mitnehmen würden. Doch plötzlich erlaubte die Behörde die Ferienreise nach Italien. Für die Eltern war das ein Beweis, dass nie eine Gefährdung des Kindswohls bestanden hatte.
Pädagogin weiterhin im Amt
Die endgültige Wende kam, als dieser Artikel bereits geschrieben war: Die Vormundschaftsbehörde hob den Obhutsentzug überraschend auf. Für die Eltern eine Erlösung. Die Einweisung von Christa in ein Heim mache zurzeit keinen Sinn, weil sie wieder nach Hause flüchten würde, argumentiert die Vormundschaftsbehörde. Eine geschlossene Abteilung komme nicht in Betracht, weil dies eine unverhältnismässige Massnahme sei und das Mädchen dort mit gewalttätigen Kindern in Kontakt käme, «was für sie nicht förderlich wäre».
Nicht verstehen können die Eltern, dass sie auch eine Rechnung für den zweiten Aufenthalt von Christa im Mädchenhaus über 3850 Franken bekamen und dass die Sozialarbeiterin weiterhin an der Schule arbeitet. Schulpräsidentin Anita Bruggmann will zuerst weitere Informationen einholen und sich mit den Vormundschaftsbehörden absprechen, bevor sie mit der Schulpädagogin über den Fall reden und allfällige Sanktionen ergreifen will. Die Sozialpädagogin selber wollte keine Stellung zum Fall nehmen. Sie wurde beurlaubt, als der Artikel im TA erschienen ist.
*Es handelt sich bei diesem Text um einen Artikel von Hugo Stamm, der am 8. Nov. im TA erschienen ist.