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Züchtigung im Namen Gottes

Hugo Stamm am Montag den 8. April 2013
Der Alp-Öhi (Heinrich Gretler) bestraft den Geissenpeter (Thomas Klameth). (Foto:

Freikirchler stützen ihre Erziehung auf Bibelverse: Der Alp-Öhi (Heinrich Gretler) bestraft im Film «Heidi und Peter» den Geissenpeter (Thomas Klameth). (Foto: Präsens Film)

Körperliche Züchtigung von Kindern und Jugendlichen ist in verschiedenen freikirchlich-evangelikalen Kreisen ein religiöses Gebot. Deshalb wird in mehreren Erziehungskursen und -büchern präzis beschrieben, wie rebellische Kinder zu züchtigen seien. «Gott hat den Gebrauch körperlicher Züchtigung bei der Disziplinierung und Korrektur unserer Kinder verordnet», heisst es beispielsweise im bekannten Ratgeber «Eltern – Hirten der Herzen». Im Buch «Wie man einen Knaben gewöhnt» wird geraten: «Wenn Sie sich auf ein Kind setzen müssen, um es zu versohlen, dann zögern Sie nicht.» Es werden auch konkrete Anleitungen geliefert: «Dagegen schmerzen die Schläge eines leicht biegsamen Gegenstandes, ohne dabei Knochen oder Muskeln zu schädigen. (…) Verspürt das Kind keinen Schmerz, ist das Instrument wahrscheinlich zu leicht oder zu weich. Bleiben Verletzungen zurück, war der Gegenstand zu hart.»

Das Phänomen der körperlichen Züchtigung und psychischen Gewalt in freikirchlich-evangelikalen Kreisen hat die Zürcher Fachstelle Infosekta in Zusammenarbeit mit der Stiftung Kinderschutz Schweiz in der Studie «Erziehungsverständnisse in evangelikalen Erziehungsratgebern und -kursen» aufgearbeitet. Infosekta kommt zum Schluss: «Der heute in verschiedenen Gemeinschaften verwendete Ratgeber ‹Kindererziehung nach Gottes Plan› des Ehepaares Marie und Gary Ezzo beispielsweise ist eine systematische Anleitung zu körperlicher und psychischer Misshandlung von Kindern.»

Infosekta erhält jährlich 800 bis 900 Anfragen zu Sektenthemen. Ein Drittel davon entfällt auf freikirchliche Gemeinschaften, die rund 150’000 Mitglieder umfassen. Manche Ratsuchende – darunter auch Vormundschaftsbehörden und Schulen – schildern körperliche Züchtigung von Kindern. Auch der Kinderschutz kennt das Problem aus der Beratungspraxis. Das bewog die beiden Institutionen, das Thema wissenschaftlich anzugehen. Die beiden Autorinnen Susanne Schaaf und Regina Spiess haben besonders die psychische Gewalt im Fokus, die im dogmatisch-strengen Glauben vieler Freikirchen selbst angelegt sei.

Mehr Gewalt in Freikirchen

Wie stark die Körperstrafe in Freikirchen verbreitet ist, lässt sich nicht erheben. Viele Gemeinschaften distanzieren sich von der körperlichen Züchtigung. Auch die Schweizerische Evangelische Allianz, in der vorwiegend Freikirchen aktiv sind, stellt sich gegen physische Gewalt in der Erziehung. Untersuchungen in Deutschland zeigen aber, dass Kinder in freikirchlichen Familien häufiger geschlagen werden als in katholischen, protestantischen oder muslimischen.

«Jesus verlangt Unterwerfung»

Infosekta stuft vor allem die auf Deutsch übersetzten Ratgeber und Erziehungskurse der amerikanischen Freikirchler Marie und Gary Ezzo, Tedd Tripp, Michael Pearl, Lou Priolo und James Dobson als problematisch ein. Die Aufforderung zur Züchtigung leiten freikirchliche Kreise von der Bibel ab. Gary Ezzo formuliert es so: «Christus verlangt vollständige Unterwerfung des Herzens und des Lebens, damit er Wiedergeburt schenkt.» Tripp dazu: «Die einzige sichere Richtschnur ist die Bibel.»

Freikirchler stützen sich in Erziehungsfragen gern auf Verse aus dem Buch der Sprüche im Alten Testament. Zum Beispiel: «Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald.» Oder: «Züchtige deinen Sohn, solange Hoffnung da ist; aber lass deine Seele nicht bewegen, ihn zu töten.»

Infosekta unterteilt die 21 untersuchten Bücher und Kurse in vier Kategorien: von autoritativ-partizipativ (vorbildlich) bis dogmatisch-machtorientiert (religiös autoritär). Sechs Werke vertreten gemäss Infosekta ein besonders problematisches Erziehungsverständnis. Dieses gehe von einem zornigen, rächenden Gott aus. In autoritären Ratgebern werde das rebellische Kind als Feind betrachtet. Die Eltern-Kind-Beziehung sei kalt und feindselig. In sechs weiteren Ratgebern wird die körperliche Züchtigung ebenfalls empfohlen, aber in abgeschwächter Form.

Die Studie gibt zu bedenken, dass der rigide Glaube mit psychischer Gewalt verbunden sei: «Die Ritualisierung des Züchtigungsvorgangs hat etwas Sadistisches.» Das führe zur Paradoxie «Gewalt aus Liebe». Auch die in Freikirchen weit verbreitete Evangelisierung von Kindern und Jugendlichen mit dem Mittel von Drohung und Angst stelle eine Form psychischer Gewalt dar, heisst es in der Studie. Darunter falle die Angst, sündig zu sein und am Jüngsten Tag nicht gerettet zu werden.

Umkehr vom Opfer zum Täter

Diese Ansicht vertritt auch Jacqueline Fehr, SP-Nationalrätin und Präsidentin der Stiftung Kinderschutz. Ein Kind, das sich in einem dogmatischen Glaubenssystem gegen psychische und körperliche Gewalt wehre, laufe Gefahr, als sündig abgewertet und als ungehorsam gegen Gott betrachtet zu werden. Dabei finde eine klassische Opfer-Täter-Umkehr statt, sagt sie.

Ein beliebter Erziehungskurs in Freikirchen ist «Family-Train», der von der Freikirche «Generation postmodern Church» in Thun angeboten wird. «Family-Train» stützt sich auf das umstrittene Konzept von Marie und Gary Ezzo ab. Im Einführungsvideo wird die körperliche Züchtigung als mögliches Erziehungswerkzeug vorgestellt, wenn ein Kind gegen Gott rebelliere. In der Schweiz gebe es kein Gesetz, das dies verbiete.

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Papst Franzikus muss Tatbeweis erbringen

Hugo Stamm am Samstag den 30. März 2013
Papst Franziskus nach der Ostermesse, 31. März 2013. (AP/Andrew Medichini)

Papst Franziskus nach der Ostermesse, 31. März 2013. (AP/Andrew Medichini)

Papst Franziskus kann schon kurz nach seiner Wahl eines der höchsten christlichen Feste feiern: Ostern. Der oberste Hirte der katholischen Kirche, der mit seinen barmherzigen Gesten weltweit für Aufsehen sorgt und viel Goodwill erntet, nutzt Ostern, weitere Zeichen zu setzen. So hat er am Gründonnerstag eine Messe in einem Jugendgefängnis gefeiert und dabei 12 jungen Straftätern die Füsse gewaschen.

Mit diesem Ritual der Demut hat Franziskus bewiesen, dass er ein Herz für die Armen und Gestrauchelten hat. Aussergewöhnlich war seine Fusswaschung auch, weil er sie zwei jungen Frauen angedeihen liess. Das ist ein veritabler Bruch mit der Kirchentradition, denn Frauen nahmen bisher nicht an der Fusswaschung teil. So können wir gespannt sein, was für symbolträchtige Gesten oder unerwartete Botschaften er beim Entzünden des Osterlichtes oder bei der Ostermesse am Sonntagmorgen in die Welt hinausschicken wird.

Der volksnahe neue Papst wird bereits jetzt schon in die Geschichte eingehen als der bescheidene Hirte, der sich auf die Seiten der Armen schlägt und sich nicht scheut, auf der Strasse Behinderte zu küssen.

Doch bisher ist Franziskus erst ein Papst der effektvollen Symbolik, als hätte ihm ein raffinierter PR-Manager ein wirkungsvolles Marketing-Konzept auf den Leib geschrieben. Denn die bisherigen Worte und Gesten haben Franziskus nichts gekostet, aber einen eindrücklichen Imagegewinn gebracht. Doch die Nagelprobe oder der Tatbeweis stehen dem neuen Papst erst bevor. Er muss beweisen, dass ihm die Armen wirklich am Herz liegen und dass die Wahl des Namens nicht nur ein geschickter Schachzug war. Und da kommen Zweifel auf.

Es macht den Anschein, als erliege Franziskus einem inneren Widerspruch. Er ist ein rückwärtsgewandter, konservativer Charakter und vertritt die traditionellen Werte der katholischen Kirche. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich nicht wesentlich von seinen Vorgängern Johannes Paul II. und Ratzinger. Ich bezweifle aber grundsätzlich, dass man in der heutigen Zeit politisch und religiös konservativ sein und sich gleichzeitig wirkungsvoll für die Armen einsetzen kann. Wer nicht nur salbungsvoll die Interessen der Armen proklamiert, sondern die realen Lebensbedingungen der Benachteiligten verbessern will, muss ein fortschrittliches politisches Weltbild vertreten.

Es reicht also nicht, die Armen ins Gebet einzuschliessen und ihnen Almosen zu geben. Es braucht strukturelle Veränderungen, damit die Armut bekämpft werden kann. Um den Reichtum besser zu verteilen, muss man die Reichen und Mächtigen in die Pflicht nehmen – und zwar politisch. Menschen mit einem konservativen Weltbild sind kaum in der Lage, die Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Diesen Weg haben die Befreiungsethologen beschritten, doch sie wurden von der Kurie in die Wüste geschickt. Franziskus hat sich nicht auf ihre Seite geschlagen. Er ist schon gar nicht einer von ihnen.

Die Gesten und Botschaften von Papst Franziskus werden erst glaubwürdig, wenn er den Tatbeweis erbringt. Zuerst müsste er seine Rolle gegenüber der argentinischen Junta offenlegen und Transparenz schaffen. Dazu sollte er auch das Archiv öffnen. Dann müsste er die Finanzpolitik des Vatikans umgestalten. Franziskus kann nicht der Papst der Armen sein und gleichzeitig oberster Chef eines Finanzimperiums, das nach kapitalistischen Methoden arbeitet und immer wieder Skandale produziert. Er müsste auch die aufgeblähte Kurie entschlacken und einen bescheideneren Lebensstil im Vatikan durchsetzen.

Wenn es ihm wirklich um die Armen geht, muss er Kondome zulassen und darauf bedacht sein, dass die katholische Kirche wieder eine Volkskirche wird. Ein Papst der Armen müsste auch zwingend die Gleichheit aller Menschen akzeptieren und die Frauenordination in Betracht anstreben. Ausserdem müsste der die Frage des Zölibats angehen. Ein Tatbeweis könnte er auch erbringen, indem er den Churer Bischof Vitus Huonder und dessen Generalvikar Martin Grichting abberufen würde, die ein autoritäres Regime führen und sich um die Bedürfnisse der Kirchgemeinden foutieren.

Religionsfreiheit bringt Sekten Privilegien

Hugo Stamm am Donnerstag den 21. Februar 2013
Ein Stand von Scientology in Zürich. (Keystone/Franco Greco)

Missionieren im öffentlichen Raum ist ein fragwürdiges Recht: Ein Stand von Scientology in Zürich. (Keystone/Franco Greco)

Aufklärung und Menschenrechte brachten die Errungenschaft der Religionsfreiheit. Diese garantiert dem Individuum das Recht, seine Religion und seinen Glauben ungehindert auszuüben – solange damit nicht übergeordnete Rechte tangiert werden. Alle Bürgerinnen und Bürger dürfen also mit dem Segen des Staates einen Glauben wählen, eine Glaubensgemeinschaft gründen, Ritualräume bauen und die eigene Religion propagieren, also neue Mitglieder rekrutieren oder missionieren.

Die Rechtsgrundlage ist also klar, bei der konkreten Anwendung oder Umsetzung gibt es wie bei vielen Verfassungsartikeln und Gesetzen Graubereiche. Zum Beispiel: Ist es zulässig, dass nur die Landeskirchen die Kirchensteuer vom Staat eintreiben lassen können?

Auch sonst geniessen die Landeskirchen einen erheblichen Standort- und PR-Vorteil. Katholische oder reformierte Gottesdienste bei Eidgenössischen Schwingfesten sind zum Beispiel Tradition. Ereignet sich eine Katastrophe (Erdbeben, Flugzeugabsturz und Ähnliches), finden in christlichen Kirchen Gedenkgottesdienste statt, an denen in der Regel politische Prominenz teilnimmt.

Dagegen ist kaum viel einzuwenden, denn Kirchen eignen sich schon von den Räumlichkeiten her als Ort, wo die kollektive Trauer ausgedrückt werden kann. Ausserdem entsprechen solche Veranstaltungen einer langen Tradition. Doch was ist, wenn bei einer Katastrophe – zum Beispiel einem Bombenanschlag – vor allem Muslime umkommen? Findet dann die öffentliche Trauerfeier in einer Moschee statt? In Anwesenheit von Bundesräten oder Regierungsräten?

Die Glaubensfreiheit führt aber noch lang nicht zu einer Gleichberechtigung der Glaubensgemeinschaften. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine solche angestrebt werden soll oder sinnvoll ist.

Ich bin durchaus dafür, dass die christlichen Grosskirchen gewisse Privilegien haben, die aus der Tradition entstanden sind. Mir ist es lieber, wenn ein reformierter Geistlicher eine Trauerfeier zelebriert statt ein Prediger einer Freikirche oder ein «ehrenamtlicher Geistlicher» von Scientology. Bei diesen ist der Drang, ihre Glaubensbotschaften vor einem grossen Publikum ins gute Licht zu rücken, in der Regel grösser als bei den Landeskirchen.

In einem Punkt wird die Religionsfreiheit für mich aber arg strapaziert. Sie erlaubt es den Glaubensgemeinschaften, den öffentlichen Raum zu Missionszwecken zu benutzen. Wo bleibt da der Schutz des Einzelnen, der die Religionsfreiheit – im wahrsten Sinn des Wortes – auch für sich in Anspruch nehmen kann? Hier schanzt die Glaubensfreiheit religiösen Gemeinschaften und Sekten ein fragwürdiges Recht zu. Ich habe einmal an einem Samstag die religiösen Gruppen gezählt, die an der Bahnhofstrasse in Zürich auf Seelenfang gingen. Ich kam auf 13. Unter ihnen waren mehrere Freikirchen und die Scientologen, die einen Stand bei der Pestalozzi-Wiese führten und Passanten massierten, um so mit ihnen leichter ins Gespräch zu kommen. Das Wort Scientology war nirgends zu lesen.

Die Krux liegt daran, dass man die Religionsfreiheit aus Sicht der Gläubigen oder der Glaubensgemeinschaften betrachten kann. Meines Erachtens müsste man den Schwerpunkt wenn immer möglich auf das Individuum legen.

Zerstörungswut im Namen Gottes

Hugo Stamm am Samstag den 2. Februar 2013
Verbrannt, vergessen: Eine alte Schrift aus der Ahmed-Baba-Bibliothek in Timbuktu. (Bild: Reuters)

Verbrannt, vergessen: Eine alte Schrift aus der Ahmed-Baba-Bibliothek in Timbuktu. (Bild: Reuters)

Timbuktu. Der Name weckt Fantasien. Wer die entlegene Wüstenstadt mit ihren Lehmbauten am Südrand der Sahara in Mali besucht hat, wird sie nicht mehr vergessen. Timbuktu ist eine einzigartige Karawanenstadt, ein Knotenpunkt von Handel und Gelehrsamkeit seit Urzeiten – und Unesco-Weltkulturerbe.

Ist? Vielleicht muss man heute sagen: war.

Timbuktu wurde in den letzten Monaten Zielscheibe von Islamisten, die Mausoleen und Moscheen zerstörten und die Bevölkerung terrorisierten. Als französische Soldaten und die malische Armee Timbuktu in diesen Tagen zurückeroberten, zündeten die Islamisten die Bibliothek Ahmed Baba an. Tausende antiker muslimischer Schriften verbrannten – und mit ihnen ein Teil des Gedächtnisses von Afrika. Was treibt religiöse und politische Fanatiker an, die historische Identität einer Stadt zu zerstören?

Demütigung des Gegners und Zerstörung seiner kulturellen Güter gehören in vielen Weltgegenden zum Krieg. Dem Feind wird die Identität geraubt, indem man seine markantesten Bauten schleift, seine religiösen Symbole zerstört, seine Kunstdenkmäler ruiniert. Zu diesem Muster gehört in manchen Fällen auch die systematische Vergewaltigung von Frauen. Soldaten erniedrigen damit ein ganzes Land. Bleibt die Frage, weshalb die Islamisten in Timbuktu ihre Glaubensbrüder drangsalieren und peinigen, indem sie deren Kulturgüter vernichten. Für Eiferer gilt: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Bilder und Symbole werden zerstört, weil die Islamisten darin einen Verstoss gegen das islamische Bilderverbot sehen. Zudem haben sich in Timbuktu über Jahrhunderte religiöse Traditionen und Rituale herausgebildet, die den Fundamentalisten als Hüter der vermeintlich reinen Lehre unerträglich sind.

Letztlich wollen die Islamisten – wie die Erschaffer der Kunstwerke – Spuren hinterlassen. Nur eben destruktive. Sie sehen ihre Taten als Mahnmal wider den angeblichen Irrglauben. Dass sie damit ihre eigenen historischen und spirituellen Wurzeln zerstören, dämmert ihnen in ihrem Fanatismus und in ihrer Zerstörungswut nicht.

Wenn Gott seinen Sohn opfert

Hugo Stamm am Montag den 7. Januar 2013
Joseph und Jesus als Baby in der St. Martinskirche in Rheinfelden. (Kestone/Gaetan Bally)

Joseph und Jesus als Baby in der St. Martinskirche in Rheinfelden. (Keystone/Gaetan Bally)

Kürzlich setzte die freikirchlich orientierte Zeitschrift «idea Spektrum» folgenden Titel: «Hugo Stamm bekehrt sich zu Jesus Christus». Zuerst fragte ich mich: Was weiss das Blatt, was ich noch nicht weiss? Das Rätsel löste sich beim Lesen des Artikels. Der abtretende Chefredaktor Andrea Vonlanthen wurde bei seinem Abschied in einem Interview mit seiner eigenen Zeitschrift gefragt, welche Schlagzeile er gern einmal gesetzt hätte. Seine Antwort: «Die erste: ‹Hugo Stamm bekehrt sich zu Jesus›. Und die zweite:’‹idea Spektrum überschreitet Grenze von 20’000 Abonnenten›.»

Die Geschichte zeigt, was ich seit Jahren erfahre: Gläubige suchen gern den Kontakt zu mir und wollen mich bekehren. Ich werde beim Wellenreiten angesprochen, im Tram, beim Biken, nach dem Besuch von Gottesdiensten in Freikirchen usw. Ich stelle mich stets der Diskussion und mache immer wieder ähnliche Erfahrungen.

Die Gläubigen wollen mir stets mit Bibelzitaten beweisen, dass ihr Glaube auf einem wahren und unvergänglichen Fundament beruht. Die Bibel ist für sie die göttliche Wahrheit und das unwiderlegbare Argument an sich. Dabei können sie nicht nachvollziehen, dass ich einerseits die Bibelaussagen und zweitens die Entstehung der Bibel hinterfrage.

Diese Möglichkeit ist ausserhalb ihres Bewusstsein, weshalb sie sie gar nicht in Betracht ziehen können. Und flugs zitieren sie weiter aus dem Buch, das für sie das authentische Wort Gottes enthält. Deshalb dreht sich die Diskussion im Kreis: Eine wirkliche Auseinandersetzung ist nicht möglich, weil wir von unterschiedlichen Grundlagen ausgehen. Nur: Ich will sie nicht von ihrem Glauben abbringen, sie hingegen möchten mich bekehren, wie auch der Titel zeigt.

In seltenen Fällen realisieren Gläubige mit der Zeit, dass sie mich mit Bibelzitaten nicht überzeugen können. Dann greifen sie zu Jesus und Gott als Zeugen, um meine empathische Seite anzusprechen. Gott habe seinen Sohn geopfert, um uns zu sühnen und seine Liebe zu uns Menschen zu demonstrieren. Einen grösseren Liebesbeweis gebe es nicht.

Ich verstehe das Argument aus Sicht der Gläubigen. Es gibt kein stärkeres. Jemand, der aus Selbstlosigkeit seinen Sohn opfert, muss aus starker Liebe handeln.

Doch auch bei diesem Argument macht sich bei mir Skepsis breit. Gehen wir davon aus, dass Gott seinen Sohn aus Liebe geopfert hat, dann stellt sich die Frage: Was ist mit der Liebe von Gott zu seinem Sohn? Wie konnte er mitansehen, wie sein Sohn am Kreuz Qualen litt und starb? Warum hat er als allmächtiger Gott keine «humanere» Lösung für das Problem der abtrünnigen Menschen gefunden? Auch diese göttliche Liebe ist für mich nicht frei von Widersprüchen, weshalb auch solche Diskussionen in der Sackgasse enden.

Tod der indischen Studentin: Sittenzerfall trotz Volksfrömmigkeit

Hugo Stamm am Sonntag den 30. Dezember 2012
Kerzen werden in Indien für das Vergewaltigungsopfer entzündet. (Keystone)

Kerzen werden in Indien für das Vergewaltigungsopfer entzündet. (Keystone)

Bei meinem Impulstext aus Indien beschrieb ich die erstaunliche Volksfrömmigkeit, die ich als sozialen Kit empfand. Gleichzeitig erlebte ich die negativen Auswirkungen der strengen Konventionen, die eine kulturelle und geistige Entwicklung bremse: Die Ungerechtigkeit des Kastenwesens und die Unterdrückung der Frauen. Diese Missstände liessen sich nur durch eine emanzipatorische Entwicklung und eine Aufklärung beheben, schrieb ich sinngemäss.

Diese Aussagen stiessen bei einzelnen Kommentatoren sauer auf, sie bezichtigten mich der kolonialistischen Denkweise. Der tragische Tod der indischen Studentin, die von sechs jungen Männern in einem fahrenden Bus (!) vergewaltigt und dann aus dem Fahrzeug geworfen wurde, zeigt die verheerende Wirkung einer Mentalität, in der Frauen als Menschen zweiter Klasse betrachtet werden. Wie steht es um das moralische Empfinden in einer Gesellschaft, in der Vergewaltigungen als Kavaliersdelikt betrachtet werden und von Polizisten nur ungern geahndet? Was ist von einem frommen Land zu halten, in dem heute noch Millionen von Mädchen abgetrieben werden, weil ein stolzer Vater nur Söhne will? Wo sind die Priester, die gegen diese sinnlose Vernichtung von Leben das Wort erheben?

Gläubige auf der ganzen Welt verteidigen ihre religiöse Haltung gern mit dem Argument, dass ohne Religion unser Planet noch mehr ein Hort der Barbarei wäre. Glaubensgemeinschaften hätten Moral und Ethik in die Welt gebracht. In unseren Breitengraden verweisen sie gern auf die zehn Gebote.

Indien scheint ein Beispiel zu sein, das diese These ad absurdum führt. Obwohl der Glaube – vor allem der Hinduismus – tief verankert ist, im Alltag gelebt wird und die soziale Klammer darstellt, werden zwei zentrale moralische Aspekte schwer verletzt: Die Gleichheit der Menschen durch das Kastenwesen und die Unterdrückung der Frauen.

In Mitteleuropa haben wir die schlimmsten Ungerechtigkeiten überwunden. Nicht, weil der Einfluss der Kirchen auf unser moralisches Empfinden eine besonders positive Wirkung gehabt hätte, sondern vor allem, weil wir dank der Säkularisierung Menschenrechte einforderten und die Aufklärung förderten. Beides teilweise gegen den Widerstand der Kirche.

So sehr mir die Volksfrömmigkeit in Indien imponiert: Wichtiger als jeder Glaube und jede Frömmigkeit ist die Gerechtigkeit. Was nützt eine Frömmigkeit, wenn sie ihre eigenen moralisches Anforderungen nicht einhält und eine Entwicklung verhindert, die das Wohl des Einzelnen im Auge hat?

Trägt der Schöpfer des Universums einen Bart?

Hugo Stamm am Mittwoch den 12. Dezember 2012
Darstellung Gottes in der Sixtinischen Kapelle.

Darstellung Gottes in der Sixtinischen Kapelle.

Wie hast du es mit Gott? Diese Frage beschäftigt Theologen und Philosophen wie kaum eine zweite. Das Gottesbild ist ein unlösbares Geheimnis: Wir wissen, dass wir uns kein Bild machen sollten, weil es zu einer Karikatur führt. Auf der andern Seite produziert unser Gehirn zwangsläufig ein Bild, weil wir ohne Bilder nicht denken können. Ausserdem ist es unmöglich, ein Bild aus dem Kopf zu löschen. Deshalb sind die Religionen, die Gottesbilder verbieten, naiv. Wer Gott denkt, der sieht ihn. Wir können den Assoziationen nicht entfliehen, die unser Bewusstsein produziert.

Es ist zwar durchaus ehrenvoll, wenn die reformierte Kirche die Bilder aus den Kirchen verbannt. Das ist redlich. Luther hat erkannt, dass das Bild vom alten Mann mit dem grauen Rauschebart wohl kaum der Gott sein kann, der das komplexe Universum geschaffen hat. Doch Luther steckte genau so in der Falle wie alle Geistlichen und Theologen, die ein differenziertes Weltbild und Gottesbild vermitteln möchten. In der Bibel wird Gott nun einmal als Vater dargestellt, der einen Sohn hat. (Warum eigentlich nur ein Kind, warum nicht auch eine Tochter?) Diese Metapher produziert automatisch das Bild eines menschlichen Vaters. Und da Gott sehr alt sein muss, bekommt er in unserer Phantasie zwangsläufig einen langen Bart.

Dieses Bild ist tief in unserem Bewusstsein verankert und lässt sich auch nicht durch das Verbannen der Bilder aus dem Kopf streichen. Und: Dieses Bild ist schräg. Sehr schräg.

Beim Geld hört die Frömmigkeit auf

Hugo Stamm am Dienstag den 4. Dezember 2012
Eine Hochzeitsprozession in Varanasi. (Foto: Keystone/Rajesh Kumar Singh)

Eine Hochzeitsprozession in Varanasi. (Foto: Keystone/Rajesh Kumar Singh)

Die Volksfrömmigkeit hier in Indien ist beeindruckend. Der Glaube ist noch tief in der Volksseele verankert, Säkularisierungstendenzen sind noch wenige auszumachen. Auch reiche und gebildete Inder gehen regelmässig in die Tempel und nehmen an religiösen Ritualen teil.

Hier hat der Glaube noch eine ungleich grössere Bedeutung als in westlichen Ländern. Die Armut spielt sicher eine Rolle, dass sich die spirituellen Bedürfnisse weiterhin ungebrochen manifestieren, aber nicht nur. Ziviles und religiöses Leben sind derart ineinander verzahnt, dass eine Säkularisierung nur langsam fortschreitet.

Ist das überhauptet wünschenswert oder sinnvoll? Aufklärung und geistige Emanzipation würden sicher helfen, den Fortschritt in verschiedenen Lebensbereichen zu fördern. Die Überwindung des Kastensystems, das letztlich religiöse Wurzeln hat, wäre dringend notwendig. Vor dem Gesetz sind zwar auch in Indien alle Menschen gleich, doch im Alltag funktioniert das Unwesen nach wie vor.

Ein weiteres Beispiel erleben wir hier in Varanasi. Nach dem Vollmond-Fest, das riesige Pilgerströme an die Ghats zog, brach mit dem Dezember der Heirats-Monat an. Täglich pilgern Dutzende Paare mit ihren Familien an den Ganges, um sich von einem Priester mit dem heiligen Wasser segnen zu lassen. Die reicheren Inder engagieren dafür Musikgruppen, die mit Trommeln und Flöten das Ritual musikalisch umrahmen. Ein lautes, fröhliches und farbenfrohes Fest, sind doch die Frauen in reich bestickte Saris gekleidet.

Nur: Die Bräute sieht man selten lachen. Das Brautpaar wechselt auch kaum ein Wort. Wenn man die Umstände kennt, überrascht es nicht. Hochzeiten werden heute noch mehrheitlich arrangiert. Die Braut muss ihre Familie und Freundinnen verlassen und oft in ein fernes Dorf oder eine fremde Stadt zur Familie ihres Mannes ziehen. Dort ist sie eine Fremde, kennt weder Ehemann noch seine Familie näher. Und die Schwiegermütter freuen sich, endlich eine Frau im Haus zu haben, die ihr die schwersten Arbeiten abnimmt. Ausserdem ist der Vater der Braut auch nicht erfreut über die Hochzeit, muss er doch ein halbes Vermögen als Mitgift abliefern. Der schönste Tag im Leben ist für viele Frauen eine kleine Katastrophe.

Die Heirat ist zwar primär ein zivilies Ritual, doch spielt der Glaube durch die enge Verzahnung eine wichtige Rolle. Durch eine Säkularisierung liessen sich die Heiratsbräuche zivilisieren, viel Leid könnte verhindert werden.

So schön die Zeremonien am Ganges sind, so schonungslos offenbaren sie auch die indische Mentalität. Wer die Rituale über längere Zeit beobachtet, bekommt ein schales Gefühl. Immer wieder kommt es mit den Priestern, die am Laufband Paare trauen, zu heftigen Diskussionen um das Honorar. Sie verlangen für ein paar Minuten völlig überrissene Preise. Der schöne Tag wird so oft begleitet von lauten Streits.

Nach meinen Beobachtungen liefern manche Priester das Geld Hintermännern ab. Ich bekam den Eindruck, dass eine Priester-Mafia den Heiratsmarkt bei den Mainghats beherrscht und die ahnungslosen Brautpaare abzockt. Sie können ja nicht unverrichteter Dinge abziehen. So viel zur spirituellen Einstellung der Priester.

Kaum ist das heilige dreckige Wasser über dem Brautpaar verspritzt, beginnt das Feilschen von Neuem. Die meisten Hochzeitsgesellschaften möchten das Fest mit einer Bootsfahrt auf dem Ganges krönen. Die Bootsführer sind aber ähnlich durchtrieben wie die Priester, weshalb bald weitere Streits losbrechen.

Doch was wäre Indien ohne Religion, Volksfrömmigkeit und den Glauben? Der Tourismus würde einbrechen. Denn das Alltagsleben wäre ärmer. Ausserdem haben die meisten Sehenswürdigkeiten eine religiösen Hintergrund: Die alten Tempelanlagen, antiken Statuen und Kulturdenkmäler wie Taj Mahal bilden die Hauptattraktionen von Indien. Bei aller berechtigten Kritik am Tourismus: Er ist ein wichtiger Wirtschaftszweig, ohne ihn wäre die Armut noch grösser.

Ärger kommt vor allem hier in Varanasi über den frühen Islam auf. Nach der Eroberung Nordindiens zerstörten die Moslems alle Kulturgüter. Obwohl es eine heilige Stadt war – vielleicht deshalb erst recht –, wurde alles zerstört, was an den Hinduismus erinnerte. Dieses Phänomen zeigt sich auch landesweit. Es ist nicht vorstellbar, welche kulturellen Schätze Indien vorzeigen könnte, wenn die islamischen Eroberer nicht so gnadenlos vorgegangen wären.

Übrigens: Weil uns Varanasi mit all seinen Widersprüchen, bettelnden Sadhus, korrupten Priestern, frommen Pilgern, religiösen Festen und Zeremonien derart fasziniert, haben wir beschlossen, die Reise abzubrechen und 14 Tage hier zu bleiben. Um ein bisschen tiefer eintauchen zu können.

Wenn die Seele aus dem Ganges steigt

Hugo Stamm am Mittwoch den 28. November 2012
Gläubige beten im Ganges. (Keystone)

Es ist schwierig, sich ein Bild davon zu machen, wohin die Seele nach dem Tod hin soll: Gläubige beten im Ganges. (Keystone)

Ankunft in Varanasi um 20 Uhr. Der Rikschafahrer hält an einer Kreuzung und zeigt auf ein enges Gässchen. «Zwei Kilometer», radebricht er auf Englisch. Durch Pilgerströme schlängeln wir uns vorwärts und sind froh, nur vergleichsweise kleine Rucksäcke tragen zu müssen. Es ist dreckig und stinkt, doch uns umfängt pralles Leben auf engstem Raum.

Plötzlich erschallt ein lautes, kurzes Mantra. Ein Vorbeter schreit es in die engen Gässchen, ein Chor von Männern betet es nach. Es hat einen schaurigen Klang und tönt nicht nach einem Gebet. Aus einer Seitengasse tauchen Gestalten auf, die eine Bahre aus Bambusrohren tragen, gefolgt von rund einem Dutzend Männern.

Die Umrisse der Last lassen auf eine menschliche Gestalt schliessen. Eingewickelt ist sie in goldene und rote Folien. Mit einem Schlag wird uns klar: Wir sind auf dem Weg zum Burning-Ghat, jener heiligen Stätte am Ganges, wo die Leichen verbrennt werden.

Der schaurige Singsang verfolgt uns auf dem Weg zu unserem Guesthouse. Plötzlich steigt Rauch in unsere Nase, und um die nächste Ecke fängt uns die gespenstische Szene ein: Mehrere grosse Feuer lodern in den Nachthimmel, auf einzelnen Scheiterhaufen sind verkohlte Leichen zu erkennen.

Der Trauerzug, der uns begleitet hat, trägt seine Last zum Ufer hinunter und taucht sie mit einer Zeremonie in den Ganges. Anschliessend wickeln die Männer die Leiche aus und hüllen sie in ein weisses Tuch, um sie auf einen Scheiterhaufen zu legen. Bei einer männlichen Leiche ist der älteste Sohn der Zeremonienmeister, bei einer weiblichen der jüngste. Er entzündet am heiligen Feuer einen Busch aus langen Gräsern, umrundet damit fünfmal die Feuerstätte und entzündet sie. Unser Hotel befindet sich ein Steinwurf von diesem archaischen Ort entfernt, wo rund um die Uhr Leichen verbrennt werden.

Der Ganges bei Varanasi ist der vielleicht heiligste Ort der Hindus. Wer hier verbrennt wird, soll aus dem Wiedergeburtszyklus ausbrechen und direkt in den Himmel gelangen. Deshalb ziehen todkranke Menschen oft nach Varanasi, um hier zu sterben. Das Feuer soll sie von den Sünden reinigen, der heilige Ort dient als Lift in die erlösenden Sphären.

Am nächsten Tag erfahren wir, dass es für eine Leiche 280 Kilogramm trockenes Holz braucht. Ein korpulenter Körper benötigt drei Stunden, um zu verbrennen, ein leichter 2,5 Stunden. Nicht verbrannt werden Kinder und Sadhus, die heiligen Mönche. Sie sind schon rein und werden mit einem Stein im Ganges versenkt. Schwangere Frauen und Menschen, die von einer Kobra gebissen worden sind, landen ebenfalls auf dem Grund des Flusses. (Kobragift darf nicht verbrannt werden, doch der Ganges ist voller Schwermetall.) In den Fluss geworfen werden auch Teile der männlichen Brust und der weiblichen Hüfte. Diese Körperteile sollen nicht restlos verbrennen. Flussabwärts waschen sich dann Tausende Pilger im dreckigen heiligen Wasser. (Diese Informationen stammen von unserem Hotelmanager.)

Frauen sieht man auf dem Verbrennungsplatz nicht. Die Hindus glauben, die Seele verlasse nach dem Tod den Körper, tue sich aber schwer damit, seinen ehemaligen Träger zurückzulassen. Würden Angehörige weinen, hätte die Seele erst recht Mühe, sich zu lösen. Da angeblich nur die Männer ihre Gefühle beherrschen können, müssen die Frauen zum Wohl der Seele zu Hause bleiben.

Aus aufgeklärter Warte klingt einiges nach Aberglauben. Die Verbrennung der Leichen war zumindest früher auch eine Hygienemassnahme. Interessant ist hingegen, dass auch der Hinduismus eine Seele kennt. Die Buchreligionen haben den Begriff offensichtlich von älteren Heilslehren übernommen. Heute wissen wir, dass die Seele kein anatomisches Organ ist. Sie sich als spirituelles Organ vorzustellen, fällt nicht leicht.

Noch schwieriger ist es, sich ein Bild davon zu machen, wohin die Seele nach dem Tod gehen soll. In den Himmel, wo sie sich wieder mit ihrer Familie vereint? Schliesslich sind Gläubige vor allem vom Wunsch beseelt, die Eltern und die Lebenspartner wiederzutreffen. Und später natürlich auch die Kinder. Doch das sind alles allzu menschliche Bedürfnisse. Und ob der Himmel nach diesen funktioniert, lässt sich zumindest bezweifeln. Wieso soll es sich mit der Seele nicht gleich verhalten wie mit allem Leben: Sie wird – falls es sie tatsächlich gibt – geboren, um zu sterben.

Auf jeden Fall ist der Tod eine bereichernde Erfahrung für die Lebenden: Mit Ritualen wie der Leichenverbrennung am Ganges wird das Bewusstsein für das Leben geschärft.

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Hilft Gott bei Depressionen?

Hugo Stamm am Montag den 29. Oktober 2012
Ein Betender faltet die Hände. (Foto: Keystone/Alessandro Della Bella)

Mit Beten alleine ist es bei ernsthaften Erkrankungen nicht getan: Ein Betender faltet die Hände. (Foto: Keystone/Alessandro Della Bella)

Der 64-jährige deutsche Theologieprofessor Rolf Wischnath ist in Glaubensfragen ein konservativer Gelehrter der reformierten Kirche, der seine Nähe zu freikirchlichen Ideen nicht verschweigt. Wenn er über das Welt- und Gottesbild strenggläubiger Christen spricht, muss man ihm eine hohe Glaubwürdigkeit attestieren. Geht es um das Thema Depression, schreibt er aus langjähriger eigener Erfahrung. Verknüpft er die beiden Aspekte, erhalten seine Worte besonderes Gewicht.

Wischnath erwischte es vor 21 Jahren zum ersten Mal. Neun Monate verbrachte er in psychiatrischen Kliniken und war unfähig zu arbeiten. Fast zehn Jahre lang führte er wieder sein normales Leben und war weiterhin erfolgreich bei seiner Tätigkeit als Pfarrer und später als Dozent. 2001 schlug die heimtückische Krankheit erneut zu. Der Schub dauerte zwar «nur» drei Monate, war aber besonders heftig. «Schliesslich holte mich die Depression 2003 so schrecklich ein, dass ich monatelang in der Berliner Charité zubringen musste, um auch vor mir selbst geschützt zu werden», wie er in der freikirchlichen Zeitschrift «Idea/Spektrum» vor einiger Zeit schrieb. Diese Krankheitsphase dauerte drei volle Jahre. Er musste alle kirchlichen Ämter aufgeben und glaubte nicht mehr an eine Genesung.

Dass er wieder gesund wurde und arbeiten konnte, «verdanke ich der Hilfe Gottes», sagt der fromme Mann. «Sie hat sich unter anderem darin konkretisiert, dass ich eine Ärztin an der Universitätsklinik Münster fand, die endlich (aus Kenntnis und Intuition) eine Medikation verordnete – eine Mischung aus drei verschiedenen Medikamenten –, die mich aufleben liess. Die Ärztin heisst übrigens mit Vornamen Fatima. Sie ist Muslima und spricht mit mir darüber, ob nach christlichem und muslimischem Verständnis eine Depression von Gott kommt.»

Dann übt der Theologieprofessor Kritik an der Kirche. In dieser müsse die Krankheit oft noch «peinlicher versteckt» werden als in der Zivilgesellschaft, weil die Depression mit Glaubenslosigkeit verbunden werde und der Kranke oft frömmelnd stigmatisiert und isoliert werde: «Wenn er richtig glauben würde, hätte er’s nicht.» Er habe es selbst erlebt.

Rolf Wischnath schildert eindrücklich, wie Angst, Hilflosigkeit, innere Leere und Verzweiflung sein Bewusstsein prägten. Die Ruhephasen hätten die Kraftlosigkeit und das Elendsgefühl nur noch verschlimmert. Temporäre Erlösung brachte nur der Schlaf – herbeigeführt durch starke Medikamente. Mit der Zeit entwickelte er Wahnvorstellungen: Nichts wert zu sein, sich und seine Familie ruiniert, alle Freunde verloren zu haben, nie mehr gesund zu werden, bald sterben zu müssen und «von Gott verworfen zu werden». Die Folge waren Todeswünsche.

Fazit: Medikamente bezeichnet Rolf Wischnath also als Geschenk des Himmels. Doch welche Rolle spielte Gott während der Krankheit? So ziemlich keine. Denn bei Rolf Wischnath wurde durch die Krankheit alles in die Tiefe gezogen. Sogar die Bibel, Gebete, Gottesdienste und das Abendmahl «versanken in den Abgründen der Depression». Sie kamen erst nach der Genesung allmählich wieder zurück.

Die Erfahrungen von Rolf Wischnath werfen viele Fragen auf. Ganz offensichtlich hat nicht Gott ihn aus seiner Depression geholt, das Werk vollbrachten die Medikamente und eine muslimische Ärztin. Die beiden Elemente nannte Rolf Wischnath als Geschenk des Himmels. Sie sind wohl eher ein Geschenk der Pharmaindustrie und der ärztlichen Ausbildung.

Wenn die Genesung ein Geschenk des Himmels war, warum wurde dann Rolf Wischnath zuerst krank? Logischerweise war die Erkrankung ebenfalls ein Geschenk des Himmels.

Kurz: Der Bezug zu Gott und Glaube waren bei Rolf Wischnath abhängig von seiner eigenen Befindlichkeit. Sie fristeten kein Eigenleben, sondern waren eng verknüpft mit seiner Gemütslage. Deshalb stellt sich die Frage: Ist der Glaube abhängig von der geistigen und psychischen Stimmung der Gläubigen, eine Funktion ihrer neurologischen Prozesse? Das Beispiel von Rolf Wischnath spricht zumindest nicht dagegen.