
Freikirchler stützen ihre Erziehung auf Bibelverse: Der Alp-Öhi (Heinrich Gretler) bestraft im Film «Heidi und Peter» den Geissenpeter (Thomas Klameth). (Foto: Präsens Film)
Körperliche Züchtigung von Kindern und Jugendlichen ist in verschiedenen freikirchlich-evangelikalen Kreisen ein religiöses Gebot. Deshalb wird in mehreren Erziehungskursen und -büchern präzis beschrieben, wie rebellische Kinder zu züchtigen seien. «Gott hat den Gebrauch körperlicher Züchtigung bei der Disziplinierung und Korrektur unserer Kinder verordnet», heisst es beispielsweise im bekannten Ratgeber «Eltern – Hirten der Herzen». Im Buch «Wie man einen Knaben gewöhnt» wird geraten: «Wenn Sie sich auf ein Kind setzen müssen, um es zu versohlen, dann zögern Sie nicht.» Es werden auch konkrete Anleitungen geliefert: «Dagegen schmerzen die Schläge eines leicht biegsamen Gegenstandes, ohne dabei Knochen oder Muskeln zu schädigen. (…) Verspürt das Kind keinen Schmerz, ist das Instrument wahrscheinlich zu leicht oder zu weich. Bleiben Verletzungen zurück, war der Gegenstand zu hart.»
Das Phänomen der körperlichen Züchtigung und psychischen Gewalt in freikirchlich-evangelikalen Kreisen hat die Zürcher Fachstelle Infosekta in Zusammenarbeit mit der Stiftung Kinderschutz Schweiz in der Studie «Erziehungsverständnisse in evangelikalen Erziehungsratgebern und -kursen» aufgearbeitet. Infosekta kommt zum Schluss: «Der heute in verschiedenen Gemeinschaften verwendete Ratgeber ‹Kindererziehung nach Gottes Plan› des Ehepaares Marie und Gary Ezzo beispielsweise ist eine systematische Anleitung zu körperlicher und psychischer Misshandlung von Kindern.»
Infosekta erhält jährlich 800 bis 900 Anfragen zu Sektenthemen. Ein Drittel davon entfällt auf freikirchliche Gemeinschaften, die rund 150’000 Mitglieder umfassen. Manche Ratsuchende – darunter auch Vormundschaftsbehörden und Schulen – schildern körperliche Züchtigung von Kindern. Auch der Kinderschutz kennt das Problem aus der Beratungspraxis. Das bewog die beiden Institutionen, das Thema wissenschaftlich anzugehen. Die beiden Autorinnen Susanne Schaaf und Regina Spiess haben besonders die psychische Gewalt im Fokus, die im dogmatisch-strengen Glauben vieler Freikirchen selbst angelegt sei.
Mehr Gewalt in Freikirchen
Wie stark die Körperstrafe in Freikirchen verbreitet ist, lässt sich nicht erheben. Viele Gemeinschaften distanzieren sich von der körperlichen Züchtigung. Auch die Schweizerische Evangelische Allianz, in der vorwiegend Freikirchen aktiv sind, stellt sich gegen physische Gewalt in der Erziehung. Untersuchungen in Deutschland zeigen aber, dass Kinder in freikirchlichen Familien häufiger geschlagen werden als in katholischen, protestantischen oder muslimischen.
«Jesus verlangt Unterwerfung»
Infosekta stuft vor allem die auf Deutsch übersetzten Ratgeber und Erziehungskurse der amerikanischen Freikirchler Marie und Gary Ezzo, Tedd Tripp, Michael Pearl, Lou Priolo und James Dobson als problematisch ein. Die Aufforderung zur Züchtigung leiten freikirchliche Kreise von der Bibel ab. Gary Ezzo formuliert es so: «Christus verlangt vollständige Unterwerfung des Herzens und des Lebens, damit er Wiedergeburt schenkt.» Tripp dazu: «Die einzige sichere Richtschnur ist die Bibel.»
Freikirchler stützen sich in Erziehungsfragen gern auf Verse aus dem Buch der Sprüche im Alten Testament. Zum Beispiel: «Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald.» Oder: «Züchtige deinen Sohn, solange Hoffnung da ist; aber lass deine Seele nicht bewegen, ihn zu töten.»
Infosekta unterteilt die 21 untersuchten Bücher und Kurse in vier Kategorien: von autoritativ-partizipativ (vorbildlich) bis dogmatisch-machtorientiert (religiös autoritär). Sechs Werke vertreten gemäss Infosekta ein besonders problematisches Erziehungsverständnis. Dieses gehe von einem zornigen, rächenden Gott aus. In autoritären Ratgebern werde das rebellische Kind als Feind betrachtet. Die Eltern-Kind-Beziehung sei kalt und feindselig. In sechs weiteren Ratgebern wird die körperliche Züchtigung ebenfalls empfohlen, aber in abgeschwächter Form.
Die Studie gibt zu bedenken, dass der rigide Glaube mit psychischer Gewalt verbunden sei: «Die Ritualisierung des Züchtigungsvorgangs hat etwas Sadistisches.» Das führe zur Paradoxie «Gewalt aus Liebe». Auch die in Freikirchen weit verbreitete Evangelisierung von Kindern und Jugendlichen mit dem Mittel von Drohung und Angst stelle eine Form psychischer Gewalt dar, heisst es in der Studie. Darunter falle die Angst, sündig zu sein und am Jüngsten Tag nicht gerettet zu werden.
Umkehr vom Opfer zum Täter
Diese Ansicht vertritt auch Jacqueline Fehr, SP-Nationalrätin und Präsidentin der Stiftung Kinderschutz. Ein Kind, das sich in einem dogmatischen Glaubenssystem gegen psychische und körperliche Gewalt wehre, laufe Gefahr, als sündig abgewertet und als ungehorsam gegen Gott betrachtet zu werden. Dabei finde eine klassische Opfer-Täter-Umkehr statt, sagt sie.
Ein beliebter Erziehungskurs in Freikirchen ist «Family-Train», der von der Freikirche «Generation postmodern Church» in Thun angeboten wird. «Family-Train» stützt sich auf das umstrittene Konzept von Marie und Gary Ezzo ab. Im Einführungsvideo wird die körperliche Züchtigung als mögliches Erziehungswerkzeug vorgestellt, wenn ein Kind gegen Gott rebelliere. In der Schweiz gebe es kein Gesetz, das dies verbiete.
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