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Der Religionsblog geht, die Fragen bleiben

Hugo Stamm am Samstag den 30. Januar 2016

Mit diesem letzten Beitrag verabschiedet sich Hugo Stamm nach zehn Jahren Sektenblog. Wir bedanken uns herzlich bei ihm für seine kritischen und anregenden Texte und seine engagierte Arbeit. Die Redaktion.

Hugo Stamm

Das Bedürfnis nach Spiritualität ist tief im Menschen verankert: Betender Mann in Kirgistan. Foto: Maxim Shipenkov (Keystone)

Es begann vor exakt zehn Jahren. Ich wagte den Versuch, kontroverse Sektenthemen mit den Leserinnen und Lesern in einem Blog zu diskutieren. Mehr als drei Monate würde ich mir dies nicht antun, dachte ich, denn es war zu befürchten, dass mich all die Sekten, die ich im Lauf von drei Jahrzehnten publizistisch begleitet hatte, verbal attackieren würden.

Doch der Sektenblog, inzwischen Religionsblog genannt, überlebte bis heute. Das Echo auf meine 470 Beiträge war über all die Jahre gross. Sie generierten rund 275’000 Kommentare. Jeder Artikel löste durchschnittlich 580 schriftliche Reaktionen aus. Somit ist der Sektenblog das wohl erfolgreichste Diskussionsforum im Internet. Doch nun ist Schluss.

Zurück zu den Anfängen: Die Attacken von Sektenanhängern gehörten bald zum Alltag. Verletzten sie die Blogregeln, konnte ich sie löschen. So liessen sich mit der Zeit Bloggerinnen und Blogger fernhalten, die mehr auf den Spieler zielten als auf den Ball.

Im Lauf der Jahre entstand eine grosse Blog-Gemeinschaft. Es gibt tatsächlich Tagi-Leserinnen und -Leser, die seit der ersten Stunde aktiv dabei sind. Viele kamen im Lauf der Jahre dazu. Sie haben viel Herzblut und Zeit investiert, die vielen Kommentare zu lesen und eigene Texte zu schreiben. Oft wurde auf einem sehr hohen intellektuellen und geistigen Niveau diskutiert. Dafür möchte ich allen herzlich danken.

Für manche war der Blog eine virtuelle zweite Heimat geworden. Die Insider kannten sich gut: Sie gaben im Lauf der Jahre Privates preis, berichteten von ihren Lebenserfahrungen, schilderten ihre religiösen und spirituellen Erlebnisse, thematisierten ihre Ängste und Sehnsüchte. Es wurden auch private Kontakte geknüpft.

Standen am Anfang Sektenthemen im Zentrum, öffnete ich den Themenfächer bald. Es zeigte sich nämlich, dass grundsätzliche religiöse, spirituelle und weltanschauliche Themen die spannendsten Diskussionen auslösten, weil sie die Blogger persönlich betrafen. Zwar leeren sich die christlichen Kirchen, die Frage nach Ursprung, Sinn und Bestimmung des Lebens beschäftigt viele Menschen aber nach wie vor.

Gleichzeitig zeigen die Erfahrungen im Blog, dass religiöse und spirituelle Fragen uns Menschen oft heillos überfordern, wie auch die aktuellen internationalen Konflikte deutlich machen. Der Grund: Der religiöse Glauben ist zwangsläufig an einen Absolutheitsanspruch gebunden, der keine Abweichungen und Kompromisse zulässt. Dieses starre System fördert die Radikalisierung von enthusiastischen Gläubigen, schliesslich geht es um das Höchste und Letzte. Die Gefahr des Fanatismus war denn auch ein zentrales Thema im Blog.

Weitere Schwerpunkte betrafen das magische Denken und den Aberglauben, die sich immer tiefer in die Volksseele graben. Trotz wachsender Bildung und wissenschaftlicher Erkenntnisse flüchten immer mehr Menschen in die Welt der übersinnlichen Wunder, wie aus den Kommentaren abzulesen war. Sie ertragen die harte Realität schlecht und sehnen sich nach einer Parallelwelt voll Harmonie, Geborgenheit und Frieden. Dass sie sich dabei von der Wirklichkeit entfremden, ist ihnen nicht bewusst. Ausdruck dieser Entwicklung ist auch der riesige Markt der Alternativmedizin. Es gab nie so heftige, teilweise militante Reaktionen wie bei kritischen Texten zu alternativen Methoden, speziell zur Homöopathie. Zehn Jahre lang hat der Blog einen Beitrag zur geistigen Auseinandersetzung mit solchen Phänomenen geleistet. Nun ist Schluss.

Religionskriege: Warum outet sich Gott nicht?

Hugo Stamm am Samstag den 16. Januar 2016
A Syrian refugee holding a baby swims towards the Greek island of Lesbos, September 12, 2015. Alkis Konstantinidis: Another inflatable boat packed with dozens of migrants and refugees heading towards the shore. That’s what I noticed in the distance. The sea was calm and they were cheering on the dinghy. Suddenly, some 200 metres away, the rear of the boat deflated for no obvious reason, and people started falling into the sea. Screams replaced cheers as they frantically tried to stay afloat on life tubes, or by clinging on to the boat. Those who could swim tried to help those who couldn’t. As this dramatic scene unfolded and people drifted away from each other, the biggest challenge was to capture as many of the different scenes as I could. There were people falling overboard; two men trying to keep their friend afloat; a man still on the boat lifting his child in the air; another man, nearing collapse from exhaustion, swimming towards the shore; volunteers rushing towards the boat. In this hectic moment, one man, tense and yelling really loudly, caught my eye so I shot some frames. Later, as he tried to catch his breath on the beach, I asked him where he was from. “Syria," he told me before heading towards a volunteer holding a baby. The distance of the shot hadn’t allowed me to see the details of the picture clearly. It was only when I began editing that I could make out the tiny head of a baby in a life tube, and the screaming man trying to keep himself and the baby above water. Everything I cover, from riots to politics and sports, trains me to be on the alert and try to get the best from what I am shooting. I learned from this experience that disaster can occur even in what appears to be the calmest of situations. Looking back, the most memorable moment was when I opened the picture and saw the baby, who looked fast asleep as if in a cradle - dreaming or listening to a lullaby. REUTERS/Alkis Konstantinidis SEARCH "STORY-YEAR" FOR ALL 14 PICTURES - R

Kann das Gottes Wille sein? Ein syrischer Flüchtling mit einem Säugling vor der griechischen Insel Lesbos (September 2015). (Reuters)

Die Welt brennt, und Gott glänzt einmal mehr durch Abwesenheit. Christen verteidigen ihn mit dem Argument, er habe uns Menschen einen freien Willen gegeben, das Leben und die Welt nach eigenen Vorstellungen, Wünschen und Ideen zu gestalten. Doch dieser Gedanke ist nicht zu Ende gedacht. Es sind vergleichsweise wenige Player im aktuellen politischen Machtpoker, die ihren Willen skrupellos durchsetzen und die Welt destabilisieren. Millionen von Menschen sind ihrem destruktiven Machtwillen ausgesetzt.

Ihre Opfer in den Krisengebieten haben zwar auch einen freien Willen, aber die Ohnmacht verhindert, diesen umzusetzen. Sie sind den Despoten machtlos ausgesetzt. Ihre «Freiheit» beschränkt sich meist nur auf die Möglichkeit, aus der irdischen Hölle zu fliehen. Und nicht selten endet der letzte Rest ihres freien Willens, den Gott ihnen angeblich gelassen hat, in einer maroden Barke, die im Mittelmeer versinkt. Schaffen sie es bis nach Europa, haben sie zwar ihr Leben gerettet, doch sie sind meist entwurzelt, werden angefeindet, sind ohne Zukunftsaussichten.

Eigentlich müsste sich Gott – der christliche, jüdische oder muslimische ─ angesichts der Not und des Elends die Haare raufen. Da säkularisiert sich seine schöne Welt, doch die aktuellen politischen Konflikte werden mehr denn je mit religiösen Ideen befeuert. In seinem Namen massakrieren die «Rechtgläubigen», primär fanatische Muslime, die «Ungläubigen», und die Mörder und Märtyrer sind überzeugt, sich damit das Himmelreich zu verdienen.

Tatsächlich sind die meisten gewalttätigen Konflikte heute religiös oder pseudoreligiös motiviert. Weil viele Staaten im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nord- und Westafrika ihren Bürgern wenig Schutz und Identifikationsmöglichkeiten bieten, gewinnt die religiöse Zugehörigkeit an Bedeutung.

Der christliche, muslimische, jüdische oder sonst wie gelagerte Gott könnte die Fanatiker und Gotteskrieger aller Couleur mit einer einfachen Massnahme bändigen: Er müsste sich lediglich in einer Weise offenbaren, die keine Zweifel mehr an seiner Existenz und Identität offenlassen würde.

Denn Gläubige der Buchreligionen (Christen, Muslime und Juden), die sich auf Abraham berufen, erheben den Anspruch, ihr Gott sei der richtige. Sie glauben auch, Gott habe sich sehr wohl offenbart: in der Bibel, dem Koran und der Thora. Sie glauben auch, Gott sei die Liebe. Die Christen zum Beispiel stützen sich auf biblische Aussagen wie: «Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.» (1. Johannes 4,16). Und sie verweisen darauf, dass er aus Liebe seinen Sohn geopfert habe, um uns Menschen zu erlösen.

Da stellt sich die Frage, wie er es aushält, dass der tödliche Kampf um den richtigen Gott Millionen von Menschen ins Elend stürzt. Und weshalb er sich nicht dazu entschliessen kann, sich zu outen und die weltweiten religiösen Konflikte zu entschärfen.

Verschwörungstheoretiker hetzen gegen Flüchtlinge

Hugo Stamm am Samstag den 9. Januar 2016
German Chancellor Angela Merkel is depicted as "Fatima" by a supporter of the anti-immigration rightwing movement PEGIDA (Patriotic Europeans Against the Islamisation of the West) during their weekly gathering in Dresden, Germany October 26, 2015. REUTERS/Fabrizio Bensch - RTX1TC6C

Ideales Publikum für Verschwörungstheoretiker: Eine Pegida-Demonstration in Dresden. Foto: Reuters

Verschwörungstheoretiker sind meist braun eingefärbte Populisten mit einem sicheren Instinkt für die diffusen Ängste breiter Teile der Bevölkerung. Ihnen ist jedes Mittel recht, die Öffentlichkeit zu beeinflussen oder gar zu manipulieren. Dazu zählt auch die Lüge. Aktuell ist für sie die Flüchtlingswelle eine aufgelegte Steilvorlage, um ihr braunes Süppchen zu kochen.

Das jüngste Beispiel liefert der deutsche Verschwörungstheoretiker Udo Ulfkotte. Für ihn sind die Flüchtlingsströme ein Geschenk des Himmels, um gegen Ausländer, vor allem Muslime, zu hetzen und in der Bevölkerung die Angst vor den Flüchtlingen und dem Fremden allgemein zu schüren. Die Stossrichtung gibt der Titel seines neuen Bestsellers vor: «Die Asylindustrie – Wie Politiker, Journalisten und Sozialverbände von der Flüchtlingswelle profitieren».

Ulfkotte behauptet in einer abenteuerlichen Argumentation, die gigantische Zuwanderung in Deutschland sei schon vor 15 Jahren geplant worden. Die Vereinigten Nationen hätten bereits damals in einem geheimen Bericht die Strategie festgelegt. Er, Ulfkotte, habe das Papier entdeckt, das die barbarische Strategie der UNO entlarve. In diesem, behauptet Ulfkotte, forderten die Vereinten Nationen, Deutschland müsse sich öffnen und 11,4 Millionen Migranten aufnehmen, auch gegen die Widerstände der Bevölkerung. Ausserdem habe die Bundesregierung an einem geheimen Treffen bestätigt, dass sie allein in diesem Jahr mit 16 Millionen neuen Flüchtlingen rechne. Es gibt tatsächlich einen Bericht der UNO-Abteilung für Bevölkerungsfragen aus dem Jahr 2000. Nur: Er ist nicht geheim, sondern wurde damals schon in den Medien kontrovers diskutiert. Ausserdem gab es Pressemitteilungen dazu, und der Bericht wurde auf der Website der UNO publiziert. Also alles schön wissenschaftlich aufgearbeitet und transparent kommuniziert.

Der Bericht enthält auch keine Geheimstrategie, sondern zeichnet lediglich verschiedene Szenarien auf, die wegen der Überalterung der Bevölkerung drohen. Der Bericht rechnet auf, wie viel Einwanderung nötig wäre, um die schrumpfenden Bevölkerungszahlen in Ländern mit niedrigen Geburtenraten in den nächsten Jahrzehnten auszugleichen und die Sozialwerke zu retten. Ein Problem, mit dem auch die Schweiz konfrontiert ist. Es ist also eine Lüge, wenn Ulfkotte behauptet, das Papier plädiere für eine unkontrollierte Einwanderung. Der Autor stellt somit die Aussagen im Bericht völlig auf den Kopf. Der deutsche Journalist Stefan Niggemeier, Experte für Verschwörungstheorien, schreibt dazu, Ulfkotte verfälsche die UNO-Studie in grotesker Weise.

Dreist ist auch Ulfkottes Aussage, die Deutschen müssten in Zukunft bis zum 77. Altersjahr arbeiten, um die Einwanderung finanzieren zu können. «Dabei werden Völker mit dem Segen der UN einfach von anderen verdrängt und ersetzt», schreibt der Verschwörungstheoretiker. Mit dieser Behauptung versetzt er ängstliche und ausländerfeindliche Personen in Angst und Schrecken und stempelt die verhassten Vereinigten Nationen zum Erzfeind. In Wirklichkeit befasst sich die UNO-Analyse mit der Frage, wie die Sozialversicherungen gerettet werden können. Sie kommt zu folgendem Schluss: Entweder werde die Überalterung durch Zuwanderung ausgeglichen, oder das Rentenalter müsse bis 2050 schrittweise auf 77 Jahre angehoben werden. Der Bericht beleuchtet aber auch die Kehrseite einer starken Zuwanderung: eine überhitzte Migration führe zu sozialen Spannungen.

Auch diese Aussage des Berichts verkehrt Ulfkotte in seinem Buch ins Gegenteil. So behauptet er, die deutsche Regierung wolle «den Bevölkerungsaustausch» auch gegen den Widerstand der Bevölkerung erzwingen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das alles diene den Interessen der Industrie.

Als Zeugen für diese Aussage ruft Ulfkotte Jim Yong Kim, Präsident der zur UNO gehörenden Weltbank, auf. Dieser habe im Oktober 2015 verkündet, dass der «Bevölkerungsaustausch» in Europa ein Motor des Wirtschaftswachstums werde. Womit Ulfkotte gleich noch die Kurve zur Hochfinanz kriegt, die für die Verschwörungstheoretiker das Herz der angeblichen geheimen Weltregierung bildet.

Auch Jesus war ein Flüchtlingskind

Hugo Stamm am Samstag den 19. Dezember 2015
Hugo Stamm

Überwiegt das Misstrauen oder die Barmherzigkeit? Muslimische Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos am 9. Dezember 2015. Foto: Santi Palacios (Keystone)

Für viele strenggläubige Christen sind die Flüchtlinge aus islamischen Ländern eine doppelte Bedrohung. Einerseits haben sie Ressentiments, weil in einigen islamischen Ländern die Christen verfolgt und teilweise brutal ermordet werden. Auf der andern Seite befürchten sie, dass zugewanderte Muslime die christliche Kultur bedrängen und die Christen in die Minderheit versetzen könnten. Zwar beteuern freikirchliche Verbände und Organisationen unermüdlich, sie würden muslimischen Flüchtlingen mit christlicher Barmherzigkeit begegnen, doch viele Gläubige an der Basis sind mehr als nur skeptisch und haben Angst vor den Folgen der muslimischen Flüchtlingsströme. So neigen nicht wenige dazu, die Terrorakte in Verbindung mit dem Koran zu bringen und Muslime pauschal zu verdächtigen.

Dabei vergessen die frommen Christen gern, dass die Bibel – vor allem das Alte Testament – eine Ansammlung von Geschichten über Verfolgung, Flucht, Migration und Integration in fremden Kulturen ist. Betroffen waren damals die Israeliten, die teilweise ihres Glaubens wegen verfolgt wurden. Und es gab damals schon Wirtschaftsflüchtlinge, denn zu urchristlichen Zeiten mussten Gläubige schon aus wirtschaftlicher Not flüchten, um nicht an Hunger zu sterben.

Der bekannteste Flüchtling aller Zeiten wird in diesen Tagen gefeiert, wir zelebrieren Weihnachten zu seinen Ehren: Auch das Leben von Jesus war geprägt von Verfolgung und Flucht. Maria und Josef mussten flüchten, weil Herodes alle Neugeborenen in Bethlehem töten liess. Sein Tod am Kreuz war der letzte Akt einer religiösen Verfolgung. Auch Israel, das Volk Gottes, war getrieben von der Angst vor Verfolgung. Es floh vor der Unterdrückung nach Ägypten, wo es mehrere Hundert Jahre Asyl bekam. Diese Erfahrung fand unter anderem im Buch Mose ihren Niederschlag. Darin werden die Gläubigen explizit aufgefordert, Fremde zu lieben, denn sie seien selbst auch Fremde gewesen.

Die Bedrohung durch fremde Heilslehren war auch ein Urerlebnis des Volkes Gottes in Israel selbst. Immer wieder versuchten fremde Mächte, ihren Götzendienst zu kultivieren und den Gott Israels zu verdrängen. Nichts von diesem Geist der Bibel will der Baptistenprediger Franklin Graham wissen, einer der bekanntesten und einflussreichsten Prediger Amerikas. Der Sohn des berühmten Kirchenführers Billy Graham hat in diesen Tagen verkündet, Amerika solle einen Einreisestopp für alle Muslime erlassen. Damit eilt er dem polternden Haudegen und Präsidentschaftskandidaten Donald Trump zu Hilfe, der diese radikale Massnahme im Wahlkampf vertritt.

Graham beruft sich auf eine Umfrage, wonach acht Prozent der in den USA lebenden Muslime erklärt hätten, Selbstmordattentate und andere Gewaltakte im Namen des Islam seien manchmal oder oft gerechtfertigt. Graham und viele fromme Christen demonstrieren mit ihrem Generalverdacht gegenüber Muslimen, dass christliche Barmherzigkeit ausserhalb der Kirchenmauern ihre Bedeutung rasch verliert.

Pater Pio und seine Pseudowunden

Blog-Redaktion am Samstag den 31. Oktober 2015

In allen Religionen ist die Grenze zwischen Glaube und Aberglaube fliessend. Da Kirchen die Hüter des Übersinnlichen sind, erliegen viele der Versuchung, die rote Linie zu überschreiten. Denn dort befindet sich das Reich der Wunder, das Gläubige elektrisiert. Ein Paradebeispiel ist der italienische Pater Pio, der den Aberglauben hemmungslos kultivierte und zelebrierte.

Neben den Päpsten ist Pater Pio in Italien und weit über die Grenzen des Stiefels hinaus die bekannteste katholische Kirchenfigur. Nach einer Umfrage der katholischen Zeitschrift «Famiglia Cristiana» beteten einst mehr italienische Gläubige zu Pater Pio als zu Jesus Christus oder der Mutter Gottes. Bis vor wenigen Jahren pilgerten auch mehr Gläubige zum Kapuzinerkloster von San Giovanni Rotondo, Apulien, der Stätte seines Wirkens, als zum Wallfahrtsort Lourdes. Auch nach seinem Tod 1968 riss der Pilgerstrom nicht ab.

Doch nun versiegt dieser allmählich, der Ort mit den unzähligen Hotels gleicht zeitweise einer Geisterstadt. Der Glanz des heiligen Popstars verblasst, die Karawane der Gläubigen zieht weiter. Auch der Glaube ist also nicht davor gefeit, Modetrends zu unterliegen. Oder haben sich die Gläubigen etwa emanzipiert?

Gründe gäbe es tatsächlich viele, Pater Pio in der Mottenkiste zu versenken. Denn der Geistliche war nicht nur eine schillernde Figur, er trickste und führte die Gläubigen hinters Licht. Trotzdem scheute sich die katholische Kirche nicht, Pater Pio fast in Rekordzeit heilig und selig zu sprechen. Damit machte sie sich zum Komplizen eines sehr fragwürdigen Geistlichen.

Der Pater spielte virtuos und erfolgreich auf der ganzen geistlichen PR-Klaviatur. Er gab sich demütig, operierte aber als Ich-AG. Mit angeblichen Wunderheilungen zog er die Kranken und Ängstlichen an und suggerierte, direkt mit Jesus kommunizieren zu können und mit entsprechenden Heilkräften aus dem Himmel versorgt zu werden. Staunen liess er seine Fans auch mit angeblich treffsicheren Prophezeiungen.

Die grösste Attraktion waren hingegen seine Stigmata. Das Phänomen begann 1910 mit Hautrötungen an den Händen. Er habe so sehr mit Jesus mitgelitten, dass sich Wundmale entwickelt hätten, liess er durchblicken. Das kam sogar dem Vatikan suspekt vor, weshalb er dem Padre manchmal verbot, in der Öffentlichkeit aufzutreten.

Zu den Skeptikern gehörte vor allem der italienische Historiker Sergio Luzzatto. Er wies nach, dass Pater Pio grosse Mengen Karbolsäure einkaufte und damit offensichtlich die Wunden verursachte. Pio bezog auch beträchtliche Mengen des Nervengifts Vertarin. Der Historiker vermutete, Pater Pio habe mit dem Nervengift die Schmerzen betäubt. Der Kapuzinerorden verteidigte hingegen ihren berühmten Bruder mit dem Argument, Pio habe die Karbolsäure Phenol gebraucht, um Spritzen zu reinigen.

Auf jeden Fall liess sich Pio nicht bremsen, im Lauf der Jahre traten auch an Brust und Füssen Stigmata auf und wurden immer tiefer. Und mit den wachsenden Pilgerströmen wurden die kritischen Stimmen immer leiser, zumal die Besucher der Region zu wirtschaftlichem Aufschwung verhalfen.

Als er 1999 selig- und 2002 von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen wurde, pilgerten Hunderttausende nach Rom. Die kritischen Stimmen – auch die innerkirchlichen – waren längst verstummt. Niemand interessierte sich mehr für die Recherchen des Historikers Luzzatto, die ergeben hatten, dass Pater Pio intime Beziehungen mit Frauen gepflegt und die faschistische Bewegung in Italien unterstützt haben soll.

Solche Kleinigkeiten kümmerten Papst Johannes Paul II. und die Kurie nicht im Geringsten. Hauptsache, sie hatten eine neue Gallionsfigur und medienträchtige Zeremonien bei der Selig- und Heiligsprechung mit Hunderttausenden von Besuchern. Es störte sie auch nicht, dass ihr Heiliger tief in die okkulte Trickkiste griff. So behauptete Pater Pio nach lupenreiner esoterischer Manier, die Gabe der Bilokation zu besitzen. Also gleichzeitig an verschiedenen Orten unterschiedlichen Personen erscheinen zu können. Dabei hat Jesus selbst vor okkulten Praktiken gewarnt.

Der Spuk ging weiter, nachdem Pater Pio gestorben war. «Auch nach seinem Tod erfolgen solche Erscheinungen», lesen wir auf der offiziellen Website über ihn. Dort sind auch die «Botschaften an die Welt» wiedergegeben, die Pater Pio seinen Anhängern aus dem Himmel übermittelt. Schon erstaunlich, was unter dem Dach der katholischen Kirche alles Platz findet. Nur die Wiederverheirateten müssen draussen bleiben, wenn die Kommunion verteilt wird.​

Mission mit allen Mitteln

Hugo Stamm am Samstag den 3. Oktober 2015
An edition of the Bible of the Russian Orthodox Church, pictured on October 17, 2009 in the Russian Orthodox Resurrection Church in Zurich, Switzerland. (KEYSTONE/Alessandro Della Bella) Eine Ausgabe der Bibel der russisch-orthodoxen Kirche, aufgenommen am 17. Oktober 2009 in der russisch-orthodoxen Auferstehungskirche in Zuerich. (KEYSTONE/Alessandro Della Bella)

Eine Ausgabe der Bibel der russisch-orthodoxen Kirche. Foto: Alessandro Della Bella, Keystone.

Religionsgemeinschaften halten ihren Glauben für den einzig wahren, er verkörpert also die unvergängliche und nicht relativierbare Wahrheit. Schliesslich reklamieren sie für sich, im Bund mit dem wahren Gott oder den wahren Göttern zu sein und von ihnen geleitet zu werden. Der Absolutheitsanspruch gehört unabdingbar zum Wesen eines Glaubens, der sich auf ein übersinnliches oder göttliches Wesen beruft.

Dabei tappen die Gläubigen in eine sprachliche Falle. Denn Glaube bleibt Glaube. Er kann nie den Anspruch auf Wahrheit erheben. Glaube bedeutet, etwas für wahr zu halten. Gewissheit gibt es im Glauben nicht, einen Gottesbeweis konnte noch niemand erbringen. Diese Tatsache sollten Glaubensgemeinschaften im Auge behalten, die missionarisch unterwegs sind – was auf die meisten zutrifft. Den Auftrag dazu leiten sie aus den Jenseitsbotschaften oder heiligen Schriften ab. Er entspricht aber auch einem individuellen, psychologisch erklärbarem Bedürfnis: Wer glaubt, die Wahrheit und das Heil gefunden zu haben, will es verständlicherweise verkünden und in  die Welt hinaustragen. Auf dass alle Menschen an der göttlichen Wahrheit teilhaben können.

In ihrem Eifer oder ihrer Euphorie vergessen sie aber gern, dass ihr Missionsdrang auch problematische Seiten hat. Das Missionieren von Un- oder Andersgläubigen brachte immer wieder viel Leid und Elend in die Welt. Urvölkern das Christentum aufzuzwingen, destabilisierte die sozialen Strukturen dieser Gemeinschaften. Ganz zu schweigen von der Unterdrückung der «Heiden» und den vielen Religionskriegen in der Vergangenheit. Aktuell erleben wir, wie unheilvoll die Macht- und Expansionsansprüche der Islamisten sind.

Auch die christlichen Glaubensgemeinschaften leben dem Missionsgedanken heute noch nach und betreiben weltweit Missionsstationen. Besonders aktiv sind Freikirchen, die selbst an gefährlichen Brennpunkten der islamischen Welt missionarisch unterwegs sind. Sie verhalten sich zwar meist zivilisiert und missionieren mit sanften Mitteln, konfliktfrei sind ihre Bestrebungen aber nicht immer.

Die Bibelübersetzer von Wycliff und SIL – vorwiegend unterstützt von freikirchlichen Gemeinschaften – dringen in die entlegensten Weltgegenden vor, lernen jahrelang die Minderheitssprachen und übersetzen die Bibel. Getreu des Auftrages von Jesus: «Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur.» (Markus 16:15)

Eine besondere Form der Verbreitung des Evangeliums betreibt die freikirchlich orientierte Gideon-Bewegung. Sie verteilt seit 116 Jahren die Bibel. In vielen Hotels und Gefängnissen liegen sie weltweit auf. Aktuell können die Gideons ein Jubiläum feiern: Sie haben zwei Milliarden Bibeln unter die Leute gebracht. Ebenfalls ein Jubiläum feiert die Agentur C. Das C steht für Christus. Sie wurde vor 30 Jahren vom Erfinder des Abflussreinigers Sipuro, Heinrich Rohrer, gegründet und verbreitet seither in Inseraten und auf grossen Plakaten Bibelsprüche wie «Werft alle Sorgen auf Gott! Er sorgt für Euch» oder «Alles kann ich durch Christus, der mir Kraft und Stärke gibt». In den drei Jahrzehnten brachte die christliche Agentur, die primär von Gläubigen aus Freikirchen finanziert wird, mehr als 90’000 Plakate an.

Der Aufwand solcher Missionsbestrebungen ist gross, Effekt und Nutzen eher bescheiden. Jesus würde der Agentur C vermutlich raten, die Hunderttausenden von Franken besser den Flüchtlingen zu spenden, die in Lagern zusammengepfercht sind und hungern. Schliesslich war ihr Idol einst auch auf der Flucht.

Die Mission gilt bei Gläubigen als besonders wertvolle, altruistische Tätigkeit. Psychologisch gesehen, trifft dies nur bedingt zu, denn der Missionar lebt mit der Genugtuung, seine ganze Schaffenskraft für Gott einzusetzen, für ihn allenfalls Gefahren in Kauf zu nehmen und sich somit fit für das Jüngste Gericht zu machen. Kurz: Wir Menschen brauchen stets Aussicht auf Erfolg, selbst auch in Glaubensfragen und beim Missionieren.​

«Der Mensch will Gott sein»

Hugo Stamm am Samstag den 26. September 2015
(Voltage Pictures)

Naturgesetze infrage gestellt? Jared Leto als Transvestit in «Dallas Buyers Club». (Voltage Pictures)

Bei der aktuellen Diskussion zur Gender-Frage steigt der Puls von konservativen Katholiken und Gläubigen von Freikirchen rasch. Sie sehen die Ordnung Gottes in Gefahr und befürchten, die Menschheit rutsche in eine Dekadenz ab, wenn jede Form der Geschlechtlichkeit als natürlich betrachtet werde. Was Katholiken und Freikirchler als bedrohlich einstufen, ist für viele Protestanten ein Akt der Gerechtigkeit. Positionen und Einschätzungen könnten kaum weiter auseinander liegen.

So haben bei der Internationalen Konferenz Bekennender Gemeinschaften in Salzburg evangelische, orthodoxe und katholische Geistliche und Gläubige zum Widerstand gegen die Gender-Ideologie aufgerufen. In der «Salzburger-Erklärung» wehren sie sich dagegen, dass es neben Mann und Frau auch zahlreiche andere Formen geschlechtlicher Orientierung gebe. (www.ikbg.net)

Die religiöse Zeitschrift «Herder Korrespondenz» erklärt zum Genderismus, man rede «einer Vielfalt von Geschlechtern das Wort», in der es allein auf «persönliche sexuelle Orientierung» ankomme, die hetero-, homo-, bi-, trans- oder intersexuell sein könne. Damit stelle man Naturgesetze infrage, die seit Menschengedenken Gültigkeit hätten.

In der «Salzburger Erklärung» heisst es zudem, der Genderismus werte die göttliche Ordnung von Ehe und Familie massiv ab. Das Menschenbild in der Gender-Ideologie sei unvereinbar mit dem Menschenbild in der Bibel und den Ergebnissen unvoreingenommener Naturwissenschaft. Der Mensch sei als Ebenbild Gottes und als Mann und Frau erschaffen worden. Wörtlich: «Nicht nur Umwelt und Natur sind bedroht, sondern der Mensch selbst, wenn er entgegen den Schöpfungsordnungen Gottes lebt.» Wobei die «Salzburger Erklärung» neben dem Genderismus auch Abtreibung und Sterbehilfe erwähnt. Es vollziehe sich ein alarmierender Prozess der Abschaffung des Menschen. Dieser wolle wieder einmal sein wie Gott, heisst es in der Erklärung.

Die Mitglieder der Internationalen Konferenz protestieren energisch gegen den geradezu totalitären Versuch, «die Gender-Agenda durchzusetzen». Weiter verwahren sie sich gegen das von der Gender-Ideologie geplante Programm einer Umerziehung des Menschen.

Die Internationale Konferenz Bekennender Gemeinschaften ist nicht etwa ein Zusammenschluss kleiner Kirchen, sondern ein hochrangiges Gremium. So haben mehrere Bischöfe und hohe Würdenträger der orthodoxen Kirche am Kongress teilgenommen. Und der Präsident des Päpstlichen Rates für die Förderung der Einheit der Christen, der Schweizer Kardinal Kurt Koch, verfasste ein Grusswort.

Dabei geniesst Koch den Segen seines Chefs Papst Franziskus. Dieser hat dem österreichischen Weihbischof und Moraltheologen Andreas Laun geantwortet: «Die Gender-Ideologie ist dämonisch!» So jedenfalls schrieb es Laun in einem Artikel.

Diese beinahe militante Haltung kontrastiert mit der christlichen Einstellung der reformierten Kirche, die die Nächstenliebe ins Zentrum stellt. So hat die Evangelische Kirche in Hannover ein Studienzentrum für Gender-Fragen in Kirche und Theologie errichtet. Es geht der Kirche um die Vision von einer kirchlichen Gemeinschaft aus Frauen und Männern, in der sich jede und jeder unabhängig vom Geschlecht gleichberechtigt einbringen und entfalten könne.

Die verschiedenen christlichen Gemeinschaften stützen sich auf die gleiche Quelle, die Bibel. Sie berufen sich auf den gleichen Stifter, Jesus Christus. Geistig trennen sie aber Welten. Da überrascht es nicht, dass es weltweit religiöse Konflikte gibt.​

 

Der Drogentrip der Homöopathen

Hugo Stamm am Samstag den 12. September 2015
drugs

Im Film «The Master» (2012) ist Freddie Quell (Joaquin Phoenix) einer Sekte mit ihren wilden Orgien und Sitzungen völlig ergeben. Screenshot: «The Master» (Youtube)

Rund um ein entlegenes Tagungszentrum bei Handeloh in der Lüneburger Heide spielten sich vor ein paar Tagen gespenstische Szenen ab. 29 Ärzte, Heilpraktiker und Homöopathen torkelten umher, getrieben von Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Krämpfen, Schmerzen, Atemnot und Herzrasen. Die Zentrumsleiterin alarmierte Polizei und Rettungskräfte. 160 Helfer rasten zum Unfallort, ein zusätzlicher Notarzt wurde mit dem Helikopter eingeflogen. Die Tagungsteilnehmer waren teilweise nicht ansprechbar. Die Rettungskräfte richteten ein Notlazarett ein und verteilten die Patienten auf die umliegenden Spitäler. Zwei Seminarteilnehmer befanden sich kurzfristig in akuter Lebensgefahr.

Die Ermittlungen ergaben, dass alle Tagungsteilnehmer die synthetische Droge 2C-E, ein Amphetamin, das auch unter der Bezeichnung Aquarust bekannt ist, eingenommen hatten. Nun rätselt halb Deutschland, wie sich ausgerechnet Ärzte und Heilpraktiker eine solche Amphetaminvergiftung zuziehen konnten. Die Medien spekulieren, ob ihnen jemand die verbotene Droge in den Tee geschüttet habe.

Es gibt eine plausiblere Erklärung: In den letzten Jahren hat sich im deutschsprachigen Raum eine grosse Szene gebildet, die sich der Psycholyse verschrieben hat, also der Drogentherapie. Ihre Anhänger glauben an esoterische oder spirituelle Heilsvorstellungen und sind überzeugt, dass Drogen die Türöffner ins Unbewusste oder zu einer magischen, übersinnlichen Welt sind. Deshalb gehören vor allem Naturheilpraktiker, Homöopathen und esoterisch verblendete Ärzte und Therapeuten zu dieser Szene.

Die Massenvergiftung von Handeloh passt in eine Reihe ähnlicher Vorfälle, die sich in den letzten Jahren im Rahmen psycholytischer Therapien ereignet haben. Am 19. September 2009 verabreichte der 50-jährige Arzt Garrik R. ­einem Dutzend seiner Klienten bei einer Psycholyse-Therapie Ecstasy. Plötzlich rutschten die Teilnehmer in einen Horrortrip ab. Sie halluzinierten, schrien, verdrehten die Augen, und Speichel lief ihnen aus dem Mund.

Garrik R. geriet in Panik, hatte aber Angst, die Ambulanz zu alarmieren. Als die ersten Klienten ins Koma fielen, löste er Alarm aus. Für einen 28-jährigen und einen 59-jährigen Mann kam jede Hilfe zu spät, ein weiterer Teilnehmer fiel zwei Wochen lang in ein Koma. Der Arzt hatte die Drogenrationen falsch dosiert. Garrik R. wurde zu 4 Jahren und 9 Monaten Gefängnis verurteilt. Er war Schüler des Schweizer Psychiaters Samuel Widmer, der seit rund drei Jahrzehnten mit Drogen experimentiert. Widmer baute in Lüsslingen SO die Kirschblüten-Gemeinschaft mit rund 200 Anhängern auf, die sektenhafte Aspekte aufweist. Seine Anhängerschaft umfasst schätzungsweise mehrere Tausend Personen. Schon rund 2500 Klienten haben an den Drogensitzungen teilgenommen. Viele von ihnen hat er zu Psycholyse-Therapeuten ausgebildet. Etliche führen nun selbstständig die verbotenen Drogentherapien durch.

Ein weiterer Vorfall ereignete sich am 13. März 2009 in Widmers Zentrum in Lüsslingen selbst. Bei einer Psycholyse-Ausbildung mit rund 60 Teilnehmern lief die Sitzung aus dem Ruder. Mehrere Personen zeigten Vergiftungserscheinungen und erlebten einen Horrortrip. Ein paar Teilnehmer wurden mit Valiumspritzen behandelt, wie Aussteiger berichten. Als Co-Therapeut amtete der Berliner Arzt Garrik R.

Ein ähnlicher Zwischenfall ereignete sich auch bei einer Drogensitzung in Zürich, die die Ärztin F. M. und ihr Ehemann, ein bekannter Wirtschaftsanwalt, leiteten. Als bei der Polizei eine Strafanzeige einging, setzte diese das Paar im Dezember 2009 in Untersuchungshaft. Die Ärztin hatte jahrelang viele Psycholyse-Sitzungen mit Ecstasy und LSD durchgeführt.  F. M. wurde zu einer 16-monatigen bedingten Gefängnisstrafe verurteilt. Auch sie war Schülerin des Psychiaters Samuel Widmer.

Nicht genug: Am 27. April 2014 nahm S. B. in Begleitung einer Freundin eine Substanz ein, wie sie es von ihren jahrelangen Psycholyse-Therapien und der Therapeutenausbildung bei Widmer gewohnt war. Sie bekam unerträgliche Kopfschmerzen und fiel in einen komatösen Zustand. Ihre Begleiterin suchte telefonisch Rat bei einer Therapeutin von Widmer, die auf Migräne tippte. Als sich der Zustand nicht verbesserte, rief die Freundin nach 50 Stunden den Notarzt. Im Spital diagnostizierten die Ärzte einen schweren Hirnschlag und zwei grosse Hirnblutungen, die von den Subs­tanzen ausgelöst worden waren.

Im vergangenen März führte die Solothurner Staatsanwaltschaft eine Razzia bei Widmer durch und eröffnete ein Strafverfahren gegen ihn und drei seiner Helfer, weil sie mutmasslich gegen das Betäubungsmittelgesetz verstossen haben. Ausserdem durchsuchte die Polizei am 29. August erneut die Räume von Widmer. Will die deutsche Polizei rasch verstehen, was sich im Tagungszentrum von Handeloh abgespielt hat, müsste sie sich wohl mit der Solothurner Staatsanwaltschaft in Verbindung setzen.​

Gegen die ICF haben die Kirchen keinen Stich

Blog-Redaktion am Samstag den 15. August 2015
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Anders als die Landeskirchen setzt die ICF an ihren Happenings weiter voll auf ihn: Jesus. (Bild: TA)

Die charismatische Freikirche ICF ist ein Stachel im Fleisch der beiden Landeskirchen: Laufen der katholischen und reformierten Kirche die Jugendlichen in Scharen davon, sammelt ICF-Guru Leo Bigger einen Teil der verirrten Schäfchen auf. Der Entertainer Gottes bietet laute und farbige Happenings und Events und füllt das Maag-Areal im Kreis 5 in Zürich. Der Erfolg ist beeindruckend, die Zahl seiner Tochterkirchen wächst laufend.

Um das Feld nicht kampflos einer Freikirche zu überlassen, hat die katholische Kirche in den Viadukt-Bögen – also in Nachbarschaft zur ICF – die Jugendkirche «Jenseits» eingerichtet. Die urbanen Quartierbewohner und Partygänger werden im Jenseits aber nicht mit Weihrauch, Kruzifix und priesterlichen Soutanen abgeschreckt. Es ist ein Ort zum Chillen, Diskutieren, Musikhören. Ein ähnliches Angebot bietet auch die Streetchurch der reformierten Kirche in Zürich. Die Mitarbeiter kümmern sich vor allem um die Probleme der Besucher.

Gott und Jesus sind bei Streetchurch und Jenseits Randfiguren. Der neue Leiter Michael Mann erinnert eher an einen Manager denn an einen Gottesmann, wie das Porträt im TA zeigte. Er ist Kommunikationstrainer, Mentaltrainer, Yoga- und Meditationslehrer und will mit Marketingmethoden richten, was seine Kollegen in den Kirchen nicht schaffen.

Die ICF muss aber Jenseits und Streetchurch nicht fürchten. Die Vertreter der Landeskirchen scheinen nicht begriffen zu haben, wie Glauben und Religion funktionieren. Mit Yoga, Konzerten und Lesungen kann man die Besucher zwar unterhalten, aber nicht für Gott begeistern. Sie übersehen, dass der Glaube in seinem Kern etwas Radikales, Absolutes ist. Es geht um das Höchste und Letzte.

Die ICF und andere Freikirchen haben hingegen eine klare Botschaft und sind entsprechend autoritär. Ihr Glaube ist kein Freizeitvergnügen, sondern eine todernste Angelegenheit, der man sich mit Haut und Haaren verschreiben muss. Sie glauben, mit Jesus im Bund zu sein und die letzte Wahrheit zu kennen, die Gott in der Bibel offenbart hat. Mit ihrer Begeisterung stecken die missionierenden ICF-Anhänger junge Leute an und schweissen sie zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen. Nur so lassen sich heute konsumorientierte Personen einbinden.

Diese enthusiastisch geforderte Verbindlichkeit ist das Erfolgsgeheimnis. Die mit Sehnsucht, Angst und suggestiven Ritualen forcierte Einbindung gibt Halt und Geborgenheit. In ihrer Euphorie realisieren die Missionierten nicht, dass sie ihre geistige Autonomie teilweise aufgeben und sich in einem radikalen Glaubenssystem verstricken.

Jenseits und Streetchurch verzichten auf aggressive Missionsmethoden und lassen den Besuchern die geistige Freiheit. Sie machen eigentlich alles richtig und sind trotzdem gegenüber der ICF auf verlorenem Posten. Denn aus freien Stücken setzen heute nur noch wenige junge Leute einen Fuss über die Kirchenschwelle.

Spektakuläre Bekehrungen als Propaganda

Hugo Stamm am Samstag den 1. August 2015
Gott erscheint:

Der Beweis von Gottes Existenz: Moses und der brennende Baum in Cecil B. DeMilles Film «Die zehn Gebote» (1956).

Für enthusiastische oder radikale Gläubige ist die Suche nach Gottes Nähe der zentrale Lebensinhalt. Sie sind zwar vollständig von seiner Existenz überzeugt, klammern sich aber an jeden neuen Hinweis, der sein angebliches Wirken in der Welt belegt. Sie suchen quasi den Fussabdruck Gottes auf der Erde.

Zu den stärksten Signalen zählen für sie angebliche Wunder Gottes wie spektakuläre Heilungen und Bekehrungen. Die meisten Freikirchen führen regelmässig Heilungsgottesdienste durch, bei denen Gläubige berichten, von schweren Krankheiten geheilt worden zu sein.

Eine effiziente Methode, Gläubige vom wundersamen Wirken Gottes zu überzeugen und vom Glauben zu begeistern, sind radikale Bekehrungen. So laden Freikirchen immer wieder Referenten zu grossen Evangelisationsveranstaltungen ein, die von ihrer Verwandlung vom Verbrecher oder Mörder zum frommen Christen Zeugnis ablegen. Die Botschaft: Gottes Güte ist unendlich, er rettet selbst Straftäter, wenn sie Jesus in ihr Herz aufnehmen.

Ein Beispiel: «Vor Ihnen sitzt ein verurteilter Mörder. Und glauben Sie mir: Ich habe in meinem ganzen Leben keinen bösartigeren Menschen kennen gelernt als mich selbst!» Das sind die Worte von Thorsten Hartung. Der deutsche Mörder ist heute ein bekehrter Christ und betreut Gefangene. Christliche Magazine feiern ihn schon fast als Helden. Von seinen Opfern ist aber nicht die Rede, nur von seinen Gräueltaten und der wundersamen Bekehrung. In Freikirchen treten viele Thorsten Hartungs auf.

Auch die katholische Kirche nutzt das suggestive Propagandainstrument. Beim Weltjugendtag in Freiburg Ende April dieses Jahres trat Thorsten Hartung als Hauptreferent auf und dankte Gott für seine Bekehrung. Für die jungen Zuhörer ein klares Signal für das Wirken Gottes in dieser Welt.

Das christliche Werk «Jugend mit einer Mission» verbreitete eine noch dramatischere Wende. Ein Christ habe kurz vor seiner Hinrichtung einem IS-Mörder eine Bibel geschenkt. Als dieser das heilige Buch heimlich gelesen habe, sei ihm Jesus im Traum begegnet. Danach habe er sich bekehren lassen. Das Signal an die Gläubigen: Der christliche Märtyrer rettet im Angesicht des Todes eine verirrte Seele mithilfe des authentischen Wortes Gottes.

Solche Inszenierungen kennen auch andere strengreligiöse Gemeinschaften. Über die Metamorphose eines jungen Schweizers berichtete aktuell Tagesanzeiger.ch. Ein eingebürgerter Türke aus Winterthur entwickelte sich zum Säufer und Schläger. Alkoholisiert schlug er einen Mann nieder und verletzte ihn schwer. Der Täter liess sich zum strenggläubigen Muslim und militanten Salafisten bekehren. Seinen Wandel schmückt er gern aus. Inzwischen ist er abgetaucht und möglicherweise bereits ein IS-Kämpfer. Wie andere junge Leute aus Winterthur, die sich verführen liessen.

Es braucht viel Fantasie, in den Bekehrungen das Wirken Gottes oder Allahs zu erkennen.