Archiv für die Kategorie ‘Aberglaube’

Aberglaube ist lernbar

Hugo Stamm am Donnerstag den 13. Juli 2006

Aberglaube und magisches Denken feiern eine ungeahnte Renaissance. So what, könnte man fragen und getrost zum Alltag übergehen. Doch solche geistigen Verirrungen können viel Unheil anrichten, weshalb sich eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen lohnt.
Erstaunlicherweise sind Intelligenz, Bildung, wissenschaftliche Erkenntnisse und Aufklärung selten ein wirksames Gegengift. Die komplexe Realität überfordert viele Menschen. Deshalb suchen sie gern Zuflucht bei einfachen Erklärungsmustern und hoffen auf Wunder. Solche vermeintlichen Wunder sind die Zwillingsschwester des Aberglaubens.
Ein dramatisches Ereignis, das die verhängnisvollen Zusammenhänge aufzeigt, spielt sich zurzeit in der russischen Stadt Beslan ab. Der selbst ernannte Messias Grigori Grabowoi will den verzweifelten Müttern helfen, die bei der Geiselnahme in der Schule von Beslan im September 2004 ihre Kinder verloren haben. 330 Lehrer und Schüler kamen dabei ums Leben.
Grabowoi verspricht den Frauen, ihre Söhne und Töchter wieder zum Leben zu erwecken. Nachdem sich Susanna Dudijewa, Präsidentin des Mütterkomitees, der Sekte angeschlossen hatte, folgten ihr viele Frauen. Für das Erweckungsritual verlangt der Sektenführer gut 1000 Euro. Als die Kinder nach der Prozedur nicht heimkehrten, behauptete Grabowoi, die Auferweckten würden sich noch an einem geheimen Ort auf die Rückkehr vorbereiten. In der Not wird der Mensch leichtgläubig und manipulierbar. Er beginnt, an Wunder zu glauben, die reiner Aberglaube sind.
Ein gefährlicher Aberglaube kursiert auch in Afrika. Viele Männer glauben, sie könnten Aids loswerden, wenn sie sich geschlechtlich mit einer Jungfrau verbinden. In ihrer Todesangst vergewaltigen viele Aidskranke junge Frauen und Mädchen. Dabei begehen sie in ihrem Aberglauben nicht nur ein Verbrechen, sie stecken viele Frauen mit der tödlichen Krankheit an und traumatisieren sie.
Wie entsteht der Aberglaube? Es ist ein verhängnisvoller Lernprozess, der meist von Angst und Sehnsucht begleitet wird. Wie beim gewöhnlichen Lernen spielen das Beobachten und Vergleichen nach der Methode von Erfolg und Irrtum eine entscheidende Rolle. Wenn beispielsweise eine bestimmte Aktion stets die gleiche Reaktion erzeugt, wissen wir, dass dahinter eine Gesetzmässigkeit steckt, und wir haben eine neue Erkenntnis gewonnen.
In Glaubensfragen gehen wir ähnlich vor, nur liegen die Erkenntnisse oft im spekulativen Bereich, weil sie kaum nachprüfbar und subjektiv empfunden sind. Ausserdem ist die Wahrnehmung häufig gestört, wenn Sehnsucht und Angst unser Denken und Fühlen bestimmen. Konkret: Wir neigen bei übersinnlichen oder spirituellen Erfahrungen dazu, nur diejenigen Resultate wahrzunehmen, die in unser ersehntes Bild passen. «Falsche» Resultate blenden wir aus oder verdrängen sie. Oder andersherum: In spirituellen Fragen findet der Mensch meist genau das, was er sucht.
Nehmen wir ein Beispiel aus der Astrologie. Wenn drei Frauen bei einem Kaffeekränzchen herausfinden, dass ihre Ehemänner im Tierkreis des Widders geboren sind, tauschen sie Erfahrungen über ihre Männer aus. Weil sie aus den Horoskopen wissen, wie Widder-Männer angeblich gestrickt sind, neigen sie dazu, ihre Partner nach diesem Schema zu charakterisieren. Dabei hilft ihnen, dass in persönlichen Belangen der Interpretationsspielraum gross ist. Und schon gleichen sich die eigenen Erfahrungen den astrologischen «Analysen» an. Gleichzeitig wird übersehen, dass nicht nur Widder willensstark sind, sondern alle Menschen auf ihre Art oder in einem bestimmten Lebensbereich.
Durch die Vergleiche gewinnen also die drei Frauen die Überzeugung, dass Widder-Männer willensstark und ehrgeizig sind. Dann setzt der Aberglaube ein. Wenn alle Widder-Männer ehrgeizig sind, ist für die drei Frauen klar, dass es sich bei der Astrologie um eine unfehlbare Wissenschaft handelt. Und sie blenden aus, dass Veranlagung, Erziehung, Bildung und Lebenserfahrung wohl einen unvergleichlich grösseren Einfluss auf Charakter und Verhalten der Menschen haben als die Himmelskörper, die unendlich weit entfernt sind. Und wenn einer der drei betroffenen Widder-Männer behauptet, Astrologie sei blanker Unsinn, werden die Frauen ihn als Banausen und Ignoranten belächeln.
Fazit: Personen, die die Wirklichkeit durch die magische Brille wahrnehmen, entfremden sich oft von der Realität. Deshalb zieht sich der Aberglaube oft wie eine unsichtbare Trennlinie durch die Gesellschaft.

Rückfall ins geistige Mittelalter

Hugo Stamm am Freitag den 17. Februar 2006

Es scheint, als fresse die Aufklärung in jüngster Zeit ihre eigenen Kinder auf. Und das zur Unzeit.

Geistige Wissenschaften, wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Errungenschaften haben im letzten Jahrhundert aufgeräumt mit vielen abstrusen Vorstellungen und Anschauungen. Psychologische Erkenntnisse bewiesen zum Beispiel, dass unsere Vorfahren viele bedrohliche Phänomene falsch interpretiert hatten. Nehmen wir die Aggressionen. Diese wurden ehemals als Produkt dämonischer oder okkulter Kräfte interpretiert. So galten früher im Christentum psychische Depressionen und Psychosen als satanische Besessenheit, die mit Exorzismusritualen „therapiert“ wurden. Naturvölker „befreien“ psychisch Kranke heute noch mit Voodoo-Ritualen.

Dank der psychologischen Erkenntnisse wissen wir heute, dass damit der Teufel mit dem Belzebub ausgetrieben wird. Statt Heilung erfahren die Kranken eine weitere Dramatisierung: Die Vorstellung, dass Dämonen den eigenen Körper besetzen, verstärkt die Angst, falls keine Spontanheilung eintritt. Und wenn die Angst grösser wird, verstärken sich oft die Krankheitssymptome.

Heute schmeissen viele Zeitgenossen die Errungenschaften der Aufklärung auf die Müllhalde der Geschichte. Der Aberglaube kehrt mit grosser Wucht zurück. Viele Menschen sind enttäuscht, dass die Wissenschaften ihre Versprechen vom baldigen Paradies auf Erden nicht einhalten konnten. Die Krebsraten steigen, Aids bekommen wir nicht in den Griff, die Vogelgrippe kann sich zur Pandemie ausweiten usw. Und die Globalisierung konnte Armut und Hunger auch nicht beseitigen. „Göttlich“ wurden wir Menschen nur bei der Eroberung des Weltalls. Doch davon haben die meisten Menschen nichts.

Krisen, Ängste und Unsicherheiten sind der beste Nährboden für Fundamentalismus und Aberglauben. Ausdruck davon ist unter anderem der grassierende christliche Fundamentalismus in den USA, aber auch in der Schweiz. Und die Verquickung von Glauben und Politik. So haben die Freikirchen Georg W. Bush zum Sieg verholfen, der bekanntlich selber ein Frommer ist. Und auch bei den Wahlen in Züricher Gemeinden legten EVP und EDU zu. Es gilt: In Krisenzeiten flüchten viele Verunsicherte zurück zu den Wurzeln, in die vermeintlich heile Welt.

Von der abergläubischen Tendenz profitieren auch die radikalen Formen der Esoterik. Man traut der „grobstofflichen“ Welt nicht mehr und flüchtet in die spirituelle.

Müssen wir Aberglauben, Fundamentalismus und spirituelle Spekulation wie ein Naturgesetz hinnehmen? Lässt sich die Krise der Aufklärung – siehe Karikaturenstreit – bremsen? Gibt es Rezepte, um zumindest den schlimmsten Formen des Aberglaubens entgegen zu wirken? Müssen wir einfach weiter aufklären, und die Tendenz der Anti-Aufklärung zu überwinden?