Archiv für die Kategorie ‘Aberglaube’

Macht der Erkenntnis

Hugo Stamm am Mittwoch den 12. September 2007

These: Der grassierende Aberglaube ist die irrationale Reaktion auf die für viele Menschen bedrohlichen Erkenntnisse der Wissenschaften.

Begründung: Bevor uns wissenschaftliche Erkenntnisse in die Moderne katapultierten, war die geistige Welt in unseren christlichen Breitengraden noch heil. Oben wachte der liebe Vater im Himmel, unten wütete der Satan, und im Zentrum des Universums machte sich der Mensch als Krone der Schöpfung die Erde untertan. Gott hatte die Erde in sechs Tagen geschaffen und den Menschen nach seinem Ebenbild geformt.

Doch dann begann der Mensch zu denken und zu forschen. Was er entdeckte, gefiel den Hütern des wahren Glaubens nicht. Ein Blick ins All zeigte, dass die Erde nicht das Zentrum war, sondern ein Staubkorn in der unfassbaren Unendlichkeit. Unser Planet wurde nicht etwa vor rund sechs tausend Jahren geschaffen, wie uns die Bibel weis macht, sondern entstand vor Millionen von Jahren.

Den Gipfel der menschlichen Kränkung leistete sich Darwin. Die Krone der Schöpfung verkam zu einer blosse Laune der Natur oder zu einem Zufallsprodukt. Glücklicherweise hatte sich die Wissenschaft inzwischen von der Kirche emanzipiert, sonst hätte Darwin wohl das gleiche Schicksal erlitten wie Galiläo Galilei.

In den letzten hundert Jahren ging es Schlag auf Schlag. Die Vorstellung vom vernunftsbestimmten, ethisch verantwortlichen Wesen, das treu die Gebote Gottes umsetzt, wurde durch die Erkenntnisse der Psychologie gründlich zerstört.

Freud entdeckte das Unbewusste und wies nach, dass wir Menschen von bisher unbekannten destruktiven Energien und Trieben beherrscht werden. Du bist nicht Herr in deinem Haus, beschied der Psychologe und raubte uns noch mehr Selbstwertgefühl. Der Mensch als ein besserer Affe. Was für ein Drama.

Es kam noch schlimmer. Die Seele, angeblich Sitz des göttlichen Geistes, wurde von den Ärzten, die erstmals einen Menschen setzierten, nicht gefunden. Heute sind sich viele Wissenschafter einig, dass die Seele nur das Produkt einer neurologische Funktion ist.

Den Rest gaben uns die Soziologen. Sie wiesen nach, dass wir ausschliesslich nach dem Prinzip des Eigennutzes funktionieren und nicht die altruistischen Wesen sind, als die wir uns gern sehen und wie die Glaubensgemeinschaften fordern. Die Demontage war perfekt.

(Kritiker werden einwenden, viele Menschen seien einfühlsam, hilfsbereit und opferten sich für andere auf. Soziologen werten die damit verbundene Anerkennung auch als Eigennutz. Dieser sei selbst bei einer Mutter Theresa wirksam gewesen, die sich mit ihrer Hilfsbereitschaft die Gunst des Himmels und damit das Heil erkämpft habe.)

Die Wissenschafter relativierten sogar die Liebe. Eine wichtige Rolle spiele dabei die Sexualität. Diese habe lediglich die Funktion, die besten Gene im Sinne der Evolution weiterzugeben.

Armer Mensch. Das heroische Bild, das er von sich selbst entwirft, zerbröselt zunehmend zwischen seinen Fingern. Übrig bleibt die Erkenntnis, dass alles nur von Hirnlappen gesteuert wird. Und dass unser Gastspiel auf der Erde nur ein Wimpernschlag auf der Zeitachse des Universums ist. Denn in ferner Zukunft geht auch unser Planet den Weg des Vergänglichen.

Um den fundamentalen Kränkungen zu entgehen, flüchten viele in den Aberglauben. Schade nur, dass manche sich gewaltsam gegen die Überbringer der angeblichen bedrohlichen Botschaften wehren.

Bei näherer Betrachtung ist das alles nur halb so schlimm. Im Gegenteil. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse verändern allenfalls unser Weltbild, das Leben an sich und unseren Alltag berühren sie nur am Rand. In hundert Jahren werden die Menschen lachen über unsere Diskussion. Genau so, wie wir heute über die Geistlichen lachen, die früher steif und fest behauptet hatten, die Erde sei eine Scheibe.

Warum müssen wir die neuen Erkenntnisse ernst nehmen? Die Geschichte lehrt uns, dass Ignoranz viel Leid über die Menscheit bringt, weil sie Autoritätspersonen viel Macht gibt. Und: Gegen die Macht der Erkenntnis ist langfristig ohnehin kein Kraut gewachsen.

Die Welt wird menschlicher, wenn wir die Tatsachen akzeptieren, wie sie sich nun mal präsentieren. Damit liesse sich viel Unheil verhindern. Unser krampfhafter Versuch, uns zu überhöhen und allem einen höheren Sinn beizumessen, führt zwangsläufig in den Aberglauben. Und allzu oft ins Unglück.

Astrologische Diagnose: Krebs!

Hugo Stamm am Mittwoch den 5. September 2007

Aberglaube? Na und? Wen stört es? Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Das Leben ist hart genug, da gönnen wir doch jedem seinen dunklen Fleck auf der Bewusstseinsweste. Wenn es den Alltag erträglicher macht, kann die Hoffnung auf ein gelegentliches Wunder nur nützen.

Solche Argumente bekomme ich oft zu hören, wenn ich mich kritisch mit dem Aberglauben auseinander setze.

Momentan dokumentieren zwei aktuelle Ereignisse den weit verbreiteten Aberglauben.

1. Die Suche nach dem verschwundenen und vermutlich ermordeten Mädchen Ylenia hat viele Pendler und Wahrsager auf den Plan gerufen. Sie glaubten, anhand der Pendelausschläge über Karten den Ort „erspürt“ zu haben, wo das Mädchen versteckt sei. Die Polizei war zwar skeptisch, doch sie ging verschiedenen Hinweisen der „Hellseher“ nach, um dokumentieren zu können, dass sie nichts unversucht lassen hat. Auch diese Suche blieb erfolglos. Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Wahrsager und Pendler nur im Kaffeesatz lesen. Ich könnte genau so gut eine Karte aufhängen, einen Pfeil werfen und behaupten, das Mädchen könne bei der Einstichstelle gefunden werden.

Die endlose Reihe der Pleiten und Pannen hilft nicht, den Glauben an Wahrsager und Pendler zu erschüttern. Diese und ihr Publikum glauben weiterhin an die Wirkung des Pendels. Bei Schlafstörungen suchen Abergläubige weiterhin den Rat des Rutengängers, der in jedem Zimmer eine Wasserader findet. Auch bei Häusern, die an einem See liegen, wo es keine Wasseradern geben kann, sondern nur einen Grundwassersee. (Auch geologisch gesehen ist die Vorstellung von Wasseradern blanker Unsinn.)

2. Die bekannte Astrologin Elizabeth Teissier behauptete in diesen Tagen in einem Radiointerview, sie könne aus dem Geburtshoroskop herauslesen, ob jemand eine Veranlagung für Krebs habe. Später doppelte die abergläubige Frau nach, selbst die Veranlagung für Aids aus den Sternen lesen zu können. (Also wissen die Himmelskörper, ob sich ein Säugling dereinst mit einem Partner im Bett vergnügt, der Aids-krank ist.)

Wie viele Astrologie-Gläubige werden sich nun von Madame Teissier in die Sterne gucken und ihre Krebsveranlagung „testen“ lassen? Wie viele werden danach (vergeblich) panische Angst vor der oft tödlichen Krankheit haben? Wie gross wird ihr Selbstwerteinbruch sein? Wie viele werden Existenzängste erleiden und in Depressionen abrutschen?

Aberglaube ist ja so harmlos!

Fazit: Abergläubige Menschen neigen zur Autoritätsgläubigkeit, sind leicht beeinflussbar, weichen gern der Realität aus und verdrängen unangenehme Erkenntnisse.

Glaube macht seelig

Hugo Stamm am Dienstag den 21. August 2007

Giora Keinan, Chef-Psychologe der israelischen Armee, hat 1991 in Tel Aviv Israelis besucht, die aus Angst vor den Scud-Raketen in Bunkern nächtigten. Er befragte 174 Landsleute nach ihrem Befinden und den religiösen Gefühlen. Dabei förderte der Psychologe erstaunliche Erkenntnisse zu Tage.

Die Leute mit den stärksten Ängsten entwickelten einen seltsamen Aberglauben und suchten Zuflucht bei übersinnlichen Ideen, fasste Keinan seine Erkenntnisse zusammen. Wenn andere Mitbewohner erzählten, ihr Haus sei von einer Missile-Rakete getroffen worden, atmen die Abergläubigen erleichtert auf. Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung schöpften sie Hoffnung, dass ihr Haus in Zukunft verschont bleibe.

“Immer dann, wenn Menschen sich besonders hilflos fühlen, entdecken sie das Übersinnliche”, erklärt Keinan seine Untersuchungsergebnisse. „Magische Gefühle, der Glaube an Übernatürliches sind viel stärker verbreitet, als die meisten wahrhaben wollen. Das habe nur wenig zu tun mit dem vermehrten Drang zu Religionen. Laut Keinan haben auch neue Studien gezeigt, dass sich der Aberglaube bei vielen instinktiv entwickle und sich der rationalen Auseinadersetzung entziehe.

Wie schnell aus gut informierten und kritischen Studenten abergläubische Menschen werden, zeigten kürzlich auch Psychologen der Universitäten Princeton und Harvard in einer Serie von Experimenten. Ihren Probanden führten sie eine Person mit verbundenen Augen am Spielautomaten vor. Anschließend forderten sie die Testkandidaten auf, den blinden Spieler mit ihren Gedanken zu steuern. Was die Studenten nicht wussten: Das Spiel war getürkt, der Blinde hatte Sehschlitze in seiner Binde, konnte also auf ein Zeichen hin verlieren oder gewinnen. Fazit: Fast alle Probanden glaubten, mit ihren Gedanken das Spiel beeinflussen zu können.

Warum geben sich Menschen so bereitwillig derartigen Illusionen hin? Hirnforscher haben eine Region lokalisiert, die offenbar verstärkt aktiv wird, sobald es ums Magische und Übersinnliche geht: Diese Region sitzt im rechten Hirnlappen. “Das Gehirn scheint ein Netzwerk von Neuronen zu haben, das bewirkt, dass wir in bestimmten Situationen stets eine relevante Hypothese der rationalen Erklärung vorziehen”, sagte Pascal Boyer, Professor für Psychologie der Washington University der “New York Times”, “einfach weil es die kürzeste Verbindung im Hirn ist.”

Tatsächlich lieben viele Menschen das Unerklärliche. Es zieht sie magisch an. Sie sehnen sich nach dem Zauber, dem Mystischen, Geheimnisvollen. Und bekanntlich findet der Mensch immer das, was er sucht. Auch wenn es zu seinem Nachteil ist.

Begegnung mit Engeln

Hugo Stamm am Samstag den 14. April 2007

Der Mensch ist auf den Engel gekommen. Die gefiederten Fabelwesen bevölkern in den letzten Jahren den Himmel, das Universum und das menschliche Bewusstsein wie schon lang nicht mehr. Der Engel ist wieder der beste Freund des Menschen geworden und rangiert wohl direkt hinter dem Hund an zweiter Stelle.

Die Renaissance der himmlischen Boten verdankt die moderne Zivilisation dem Esoterikboom. Die christlichen, vor allem katholischen Gesandten des Himmels haben Konkurrenz von den Flatterwesen aus dem spirituellen Universum erhalten. Engel sind bei spirituellen Suchern voll im Trend. Es gibt Engelläden, in denen die himmlischen Heerscharen in allen Farben und Formen schillern. Im Gegensatz zu den christlichen Engeln sind die esoterischen Helfershelfer der Menschen universale Geistwesen mit göttlichen Fähigkeiten.

Wie lässt sich die neue emotionale Bindung des Menschen an den Engel erklären? Die Esoterik reduziert das komplexe Weltbild auf einfache Erklärungsmuster. Das Universum ist eigentlich nur Energie, das menschliche Verhalten folgt dem Gesetz von Aktion gleich Reaktion oder der Grundregel Ursache und Wirkung. Die Sehnsucht nach der Simplifizierung der Realität bestimmt das Bewusstsein vieler Esoteriker und Gläubigen.
Engel befriedigen genau diese Sehnsucht. Sie sind die Metapher für einen allmächtigen Schutzgeist, der mich an der Hand nimmt und mich sicher durch die Stürme des Lebens führt. Er nimmt mir die Verantwortung ab und schützt mich vor den vielfältigen Gefahren. Ich muss ihn nur erkennen, ihn annehmen, mich ihm anvertrauen und an seine Wunderkräfte glauben. Und natürlich mit spirituellen Ritualen einen Kanal zu ihm bauen. Glauben viele spirituellen Sucher, wie ein Blick in die Engelregale der Buchhandlungen zeigt.

Psychologen würden den Vorgang als Regression bezeichnen. Tatsächlich muss ich den geistigen Zustand eines Kindes annehmen, um an das simplifizierende Symbol des allmächtigen Engels glauben zu können. Esoteriker und strenggläubige Katholiken würden antworten, es sei ein spiritueller Reifeprozess, wieder das Bewusstsein eines Kindes zu erlangen und sich ganz Gott – oder dem Engel – anzuvertrauen. Im kindlichen Gemüt könne sich der reine und unverfälschte Glauben entwickeln, glauben sie.
Einmal mehr prallen psychologische Erkenntnisse und Glaubensgrundsätze hart aufeinander. Lassen sich vielleicht die beiden Gegensätze vereinbaren? Frei nach dem Motto: Im Alltag die Erkenntnisse, bei der Meditation oder im Gebet die kindlichen Paradiesvisionen?

Ich glaube, dass sich die beiden Positionen zu sehr beissen, als dass sie sich friedlich nebeneinander ins Bewusstsein integrieren liessen. Wer bildhaft an schützende Engel und ihre Wunderkräfte glaubt, muss auch im Alltag die Realität ausblenden, weil sonst sein göttlicher Begleiter beim Aufprall an der Wand der Realität wie ein Glasengel zersplittern würde. Der Gläubige würde dauernd Situationen und Begebenheiten wahrnehmen, die sich nicht mit dem Bild von beschützenden und rettenden Engeln vereinbaren liessen. Nur durch destruktive Autosuggestion, die die Qualität einer radikalen Verdrängung annimmt, können eine differenzierte Realitätswahrnehmung und der Glaube an Engel nebeneinander existieren. Dabei nimmt die Seele Schaden. Ob die Engel diesen wieder richten können?

Ein Fallbeispiel aus dem Engelbuch „Engel – Helfer auf leisen Sohlen“ des Arztes H. C. Moolenburgh soll verdeutlichen, was ich mit Regression bezeichne, die zum Aberglauben führt. Eine 50-jährige Frau fährt mit ihrem Auto über eine Kreuzung. Unerwartet rast von links ein Lastwagen auf sie zu. „Dann geschah plötzlich etwas Unglaubliches“, schreibt der Arzt und Autor wörtlich. „Der Lastwagen wurde durchsichtig, fuhr geräuschlos durch ihr Auto hindurch, erschien dann wieder in seiner ganzen Schwere an der andern Seite ihres Autos und fuhr einfach weiter. Man könnte fast von einer Dematerialisierung und einer Rematerialisierung sprechen.“

Wer hat das Wunder gerichtet? Natürlich der Engel der Autofahrerin.

Zerbröckelte Utopien

Hugo Stamm am Freitag den 16. März 2007

Was war das doch für eine Aufbruchstimmung! Hippie-Zeit, Flower-Power, 68er-Auftstand. Wir wollten die Welt aus den Angeln heben. Entschlacken. Umkrempeln. Den Mief der Nachkriegsjahre abstreifen, die Prüderie unserer Eltern überwinden. Die verkrusteten bürgerlichen Politiker und Parteien in die Wüste schicken.

Wir glaubten an die Möglichkeit der radikalen Veränderung. Wir wollten der Welt ein menschliches Antlitz verpassen. Gerechtigkeit sollte herrschen, die Armut überwunden werden. In einem beispiellosen Rausch entwickelten wir Utopien.

Dabei wollten wir die wissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen Fortschritte nutzen. Maschinen und Roboter sollten die Arbeiter von den Fliessbändern verbannen. Die Menschen sollten Zeit bekommen, um sich zu bilden und mit Kultur zu befassen. Die Würde des Einzelnen stand im Zentrum. Bei den Anhängern der Frankfurter Schule ging es um die geistige Entwicklung, bei den Vertretern des New Age um die spirituelle. Das Musical „Hair“ beschwor erfolgreich den „aquarius“ (Wassermann), das kommende Wassermannzeitalter, das die neue spirituelle Phase einläuten würde. Marilyn Ferguson mit ihren Kultbüchern „Die sanfte Verschwörung“ und „Wendezeit“ sowie Fritjof Capra mit „Das Tao der Physik“ holten die spirituelle Fraktion der „sanften Revolutionäre“ ab.

Wir träumten vom Sieg des Seins über das Haben. Von der Überwindung der Armut dank technischer Fortschritte und besserer Möglichkeiten der Verteilung. Mit Altruismus wollten wir den Egoismus ausmerzen. Emanzipation und Selbstbestimmung sollten den „neuen Menschen“ hervorbringen. Es gab keine Grenzen im Denken und Fühlen. Der Gemeinsinn sollte uns aus der Isolation befreien und uns die Ängste nehmen. Manche träumten vom medizinischen Fortschritt, der alle Krankheiten besiegen und den Jungbrunnen ermöglichen würde. Der Tod war kein Thema, wir konzentrierten uns nur auf das Leben. Mit sanften und alternativen Energien wollten wir die Welt säubern.

Was ist aus unseren Träumen von damals geworden? Wo ist das ganzheitliche Bewusstsein, das die New-Age-Anhänger beschworen hatten, stecken geblieben? Was ist von den politischen Utopien vom kollektiven Verantwortungsbewusstsein geblieben?

Unsere Visionen von damals erscheinen nur noch als pubertäre Schwärmerei. Egoismus und Rückzug ins vermeintlich private Glück bestimmen den Lauf der Welt. Wer Utopien entwickelt, erntet ein müdes Lächeln. Heute ist man realistisch, effizient, zweckorientiert. Utopien lenken von den Zielen ab. Fast scheint es, als ob der Sozialdarwinismus die neue Ideologie sei.

Bezeichnend ist auch, dass selbst in der Kultur jeder Hang nach Visionen und Zukunftskonzepten verpönt scheint. Theater, Literatur, Musik haben sich Utopien abgeschminkt. Visionen werden als Kitsch empfunden.

Haben wir versagt, dass alle Konzepte für eine bessere Zukunft auf der Geschichtshalde gelandet sind? Dass Atomkraftwerke plötzlich wieder salonfähig werden? Dass die Aufbruchstimmung untergegangen ist? Oder waren wir einfach nur depperte Schwärmer?

Fast hätte ich es vergessen: Es gibt noch Orte der grossen Töne, Hoffnungen, Visionen und Konzepte: Die Sekten. Doch merken die Anhänger nicht, dass die Gurus mit ihren Indoktrinationsmethoden und Regelwerken ihre eigenen Ideale und Utopien pervertieren.

Guru Blocher im Himmel

Hugo Stamm am Donnerstag den 1. Februar 2007

22. Oktober 2007. Christoph Blocher klopft an die Himmelspforte. Im Türspion huscht ein Schatten vorbei.

„Wer bist Du?“, ertönt es aus der Gegensprechanlage.

„Ich bin der Boss der SVP.“ Petrus öffnet das Tor einen Spalt und mustert Blocher misstrauisch.

„Warum begehrst Du Einlass? Du bist ja noch voll im Saft.“

„Die Bundesversammlung hat mir gestern den Schuh gegeben, heisst. abgewählt. Die Linken und Netten haben Angst vor mir.“

„Herrgott, kennst Du eine SVP?“, fragt Petrus in Richtung Himmelsthron.

Aus dem Hintergrund erschallt eine tiefe Stimme: „Das ist doch die Spirituelle Vaterlands Partei des Gurus Blocher.“

„Ist der koscher?“, fragt Petrus.

„Gurus eigentlich nie, doch der Blocher hat immer so schön gesungen in der Kirche. Den können wir im Chor der Cherubinen bestens gebrauchen.“

„Kannst Du mir sagen, weshalb Gott Dich einen Guru nennt?“, fragt Petrus Blocher.

„Vermutlich, weil ich der Führer der SVP war.“

„Haben Dich denn Deine Anhänger als Heilsbringer verehrt?“

„Verehrt schon, aber Heilsbringer? Ich glaube nicht.“

„Das sagen alle Gurus, die bei uns anklopfen. Hast Du eine Heilslehre verkündet?“

„Nicht direkt, wir hatten nur ein Parteiprogramm.“

„Versprach es die Erlösung von den irdischen Leiden?“

„Schon, schliesslich haben die Kommunisten und Sozialisten das Volk mit Abgaben und Reglementen geknebelt.“

„Dann gab es bei Deiner SVP auch Rituale und soziale Kontrollen?“

„Wenn Du Wahlen gewinnen willst, brauchst Du schon Schlachtrufe, Arbeitspläne und Einsatzbrigaden, die den Mitgliedern auf die Finger schauen und ihre Arbeit kontrollieren. Sonst hast Du bald einen Hühnerstall wie bei den Grünen.“

„Und wie stets mit dem Geld? Finanzieren die Mitglieder Deine Sekte?“

„Die Reichen werden schon zur Kasse gebeten. Schliesslich ist das Missionieren neuer Mitglieder teuer, und die Wahl- und Abstimmungskämpfe kosten ein Vermögen.“

„Und ihr tanzt auch um das goldene Kalb?“

„Goldenes Kalb? Oh, das ist eine gute Idee. Kannst Du mir Dein Handy geben? Ich will meinen Parteichef Ueli Maurer telefonieren, er soll unser Wahlkampfziege Zottel mit Goldfarbe besprayen.“

Menschsein im 2007

Hugo Stamm am Samstag den 30. Dezember 2006

In diesen festlichen Tagen hauen die Reichen und Schönen in St. Moritz – und in anderen mondänen Ort – auf den Putz, dass sich die Balken und biegen und die Fassade der Nobelherberge Palace blättert. Es wird der entfesselte Hedonismus zelebriert. Im Kings Club, der Disco des Palace, kostet eine Flasche Dom Perignon 1400 Franken, wie Hannes Nussbaumer im heutigen Tages-Anzeiger berichtet. Die Privatjets starten und landen im nahen Flughafen wie nervöse Bienen. Die „Schnee“-Konzentration im Urin ist höher als auf den Pisten, wie frühere Abwasserproben gezeigt haben. Ohne Pelz geht Frau nicht aus. Die Diskussion um das Leiden der Pelzlieferanten hat St. Moritz noch nicht erreicht. Die Edelboutiquen werden gestürmt, als gehörte Gold zum Notvorrat im drohenden 3. Weltkrieg.

Am Jahresende wird das eigene Ego noch einmal auf dem Hochaltar des Konsumtempels zelebriert. Der homo sapiens des 21. Jahrhunderts hat ein Glaubensgen entwickelt, das ihn selbst als Messias erkennen lässt. Jeder sein eigener kleiner Gott. Und je protziger der Auftritt, desto heller der Gottesglanz.

Die Reichen und denen, die sich wie Reiche verhalten, möchte ich vor ihrem champagnernassen Übergang ins neue Jahr auf ein kleines Detail ihres Verhaltens aufmerksam machen. Wer sich in Gesellschaft in Szene setzt, will auffallen und gesehen werden. Doch wenn alle sich auf das Gesehenwerden konzentrieren, schaut keiner mehr. Also sieht keiner die neue Freundin mit den Model-Massen, das teure Collier, den Rolls, den braunen Teint von den Südsee-Ferien…

Laut Hegel ist die geistige Anstrengung, die Welt zu begreifen, die wirksamste Kraft der Veränderung. Ein Blick auf das silvesterliche St. Moritz zeigt zwar, dass sich die Welt verändert. Aber kaum im hegelschen Sinne einer geistigen Veränderung. Das „Gottesgen“ steht dem Geist im Weg.

Diese evolutionäre Entwicklung ist offenbar an mir vorbei gerauscht. Ich vermag einfach keine Freude am Prunkvollen zu empfinden. Manchmal komme ich mir schon fast asozial vor. Der Blick für die Fassade ist bei mir unterentwickelt. In intellektueller Bescheidenheit suche ich lieber das Nahe, Direkte, Authentische. Vielleicht bin ich blöd. Oder beschränkt. Oder einfach nur noch ein bisschen menschlich? Zu meiner Entschuldigung hoffe ich, dass das Menschliche im neuen Jahr nicht als unmenschlich bewertet wird.

In diesem Sinn ein Prost auf ein 2007, in dem wir hoffentlich nicht ganz vergessen, dass wir besser nicht Gott werden wollen.

Und allen Bloggern ein herzliches Dankeschön für die vielen Emotionen, die Ihr mit Euern zum Teil wunderbaren Kommentaren ausgelöst habt. Einiges in der Netzdiskussion mag virtuell sein, die Gefühle sind echt.

Die wundersame Kraft des Pendels

Hugo Stamm am Montag den 27. November 2006

Das Pendeln gehört zu den Grundprinzipien des New Age oder der Neo-Esoterik. Es kann angeblich die viel besungenen Energien und Schwingungen „messen“. Das Pendel soll sogar auf Schwingungen reagieren, die physikalische Messgeräte nicht wahrnehmen können.

Der klassische Anwendungsbereich des Pendels ist das Aufspüren von Wasseradern. Esoteriker, die unter Schlafstörungen leiden, verdächtigen in erster Linie unliebsame Wasseradern, die unter dem Schlafzimmer verlaufen und störende Strahlen aussenden sollen. Pendler orten praktisch in allen Wohnungen Wasseradern und empfehlen standardmässig, das Bett in einer andern Ecke des Schlafzimmers zu platzieren. (Sie müssen schliesslich eine Massnahme empfehlen, um ein Honorar verlangen zu können.)

Dabei kümmern sich weder die von Schlafstörungen geplagten spirituellen Sucher noch die Pendler um geologische Erkenntnisse. Solche eng begrenzte Wasseradern sind sehr selten und finden sich höchstens in Gebieten mit geschichteten Kalkfelsen. Doch das kümmert die Pendler wenig. Sie orten selbst in Häusern Wasseradern, die an einem Seeufer stehen. Dort gibt es – was auch Laien einleuchtet – nichts als einen grossen Grundwassersee. Und sicher keine Wasseradern.

Der Glaube an das Pendel und die Wasseradern ist so weit verbreitet, dass selbst Leute daran glauben, die kein ausgesprochenes Faible für Esoterik haben. Solche “Energiegesetze” sind schon fast Allgemeingut im kollektiven Bewusstsein geworden. Wer sie anzweifelt oder als Aberglaube bezeichnet, wird mitleidig belächelt. Dabei kümmert es die Esoteriker nicht, dass selbst die feinsten Messgeräte keine solche Schwingungen messen können. Doch mit Physik wollen Esoteriker nichts zu tun haben. Diese Disziplin stammt aus dem verschmähten Reich des Materiellen.

Einer wollte es allerdings genau wissen und rückte dem Phänomen des Pendelns und anderen übersinnlichen „Gesetzen“ mit empirischen Methoden zu Leibe. Der bekannte amerikanische Magier und Trickexperte James Randi versprach allen Medien, Magiern, Esoterikern und Pendlern eine Million Dollar, wenn es ihnen gelingt, ein übersinnliches Phänomen unter empirischen Bedingungen vorzuführen. Randi glaubt, dass solche Rituale lediglich Tricks sind oder auf Selbsttäuschungen beruhen.

Kürzlich stellten sich in Deutschland sechzig Pendler und Personen mit angeblich übersinnlichen Kräften dem Test, der an der Universität Würzburg stattfand. Zuerst durften die Pendler und Magnetopathen bei einem «offenen» Versuch das Prozedere ausprobieren. Und es funktionierte. So schlugen beispielsweise die Pendel immer im richtigen Moment an. Nun konnte der Doppelblindtest beginnen.

Kandidat Johann Grüner erklärte, er könne die Aura von Pflanzen mit dem Pendel ausloten. Er wählte einen Blumenstock mit besonders starker Ausstrahlung. Dieser wurde jeweils unter einem von zehn Kübeln versteckt. Grüner hatte dreizehn Versuche. Jedes Mal schlug das Pendel wunschgemäss bei nur einem Eimer kräftig aus. Die Auswertung des Tests fiel aber ernüchternd aus. Grüner verzeichnete keinen einzigen Treffer, das Pendel hatte immer bei einem leeren Kübel reagiert.

Kandidat Karl-Heinz Reuter behauptete, er könne mit seiner Wünschelrute Wasseradern aufspüren. Für den Test standen ihm zehn zugedeckte Wassereimer zur Verfügung, doch nur einer war gefüllt. Bei seinen dreizehn Versuchen schlug die Rute jeweils zuverlässig bei einem Kübel an. Trotzdem war das Resultat vernichtend: Reuter hatte nicht einen Treffer gelandet. Der Pendler war konsterniert. Randi kann die Million behalten, alle Kandidaten erlebten Pleiten.

Wieso stürzten die Zwillingstürme ein?

Hugo Stamm am Montag den 11. September 2006

Exakt vor fünf Jahren schreckten uns Horrorbilder auf. Flugzeuge rasten ins WTC, die Türme fielen wie Kartenhäuser in sich zusammen. Wir haben zwar schon vor einem Monat über Verschwörungstheorien diskutiert, doch ich möchte aus aktuellem Anlass noch einmal darauf zurück kommen. Denn die Diskussion nimmt ein ungeahntes Ausmass an. Ich schalte deshalb einen Artikel meines Kollegen und Amerika-Korrespondenten Peter Haffner auf, der heute im Tages-Anzeiger erschienen ist.

“Amerika ist das Land, wo die Dämonen blühn: Elvis Presley lebt, John F. Kennedy wurde von der CIA ermordet, die Mondlandung war fingiert. Verschwörungstheorien sind Teil der amerikanischen Populärkultur seit je. Die Staubschwaden des Trümmerfeldes vom World Trade Center waren noch nicht verzogen, da wollten manche schon wissen, dass das Weisse Haus hinter der Attacke stand. Dessen Ziel war es, meinen sie nun, das amerikanische Volk zum Feldzug im Nahen Osten zu mobilisieren und es gleichzeitig seiner Bürgerrechte zu berauben.

Fünf Jahre nach dem Terroranschlag vom 11. September hat die Bewegung «9/11 Truth», wie sich die Verschwörungstheoretiker nennen, an Boden gewonnen und selbst in der akademischen Welt Fuss gefasst. Die «Scholars for 9/11 Truth», eine Gruppe von rund fünfzig Professoren verschiedener Universitäten, stellen die offizielle Version der Ereignisse in Frage, die dokumentiert ist im akribischen Bericht der Untersuchungskommission. Im Zentrum der Debatte steht die Frage, weshalb die Türme wirklich kollabiert sind. Die Zweifler meinen, die Feuersbrunst nach dem Einschlag der Flugzeuge sei nicht Ursache genug gewesen; erst im Innern der Gebäude deponierte Sprengsätze hätten das bewirkt.

Steven E. Jones, Physikprofessor an der Brigham Young University, hat die These der «kontrollierten Sprengung» wissenschaftlich zu untermauern versucht. Der 57-Jährige gilt als Spezialist auf dem umstrittenen Gebiet der kalten Fusion. Dass er ein strenggläubiger Mormone und früherer Anhänger von Präsident Bush ist, trägt in der Bewegung nur zu seinem Ruf bei. Es ist auch auffallend, dass die Akademiker, die der von ihm geführten Gruppe angehören, mehrheitlich aus den Geisteswissenschaften stammen, vor allem aus theologischen und philosophischen Fakultäten.

Es gehört zur Paradoxie von Verschwörungstheorien, dass sie ihren Anhängern umso glaubhafter erscheinen, je mehr sie von offizieller Seite widerlegt werden. Wer zum Gegenbeweis antritt, macht sich verdächtig, selber Teil der Verschwörung zu sein. Und jede Lüge oder Halbwahrheit, die Politiker in die Welt setzen, festigt die Überzeugung, dass sie niemals die Wahrheit sagen. Die Generation junger Amerikaner, die in der Bush-Ära aufwächst, kann sich über einen Mangel an solch frustrierenden Erfahrungen nicht beklagen.

Dass sie für Verschwörungstheorien besonders empfänglich ist, zeigt die erstaunliche Erfolgsgeschichte des Films «Loose Change»; eine Dokumentation über die Ereignisse des 11. September 2001, die nahe legt, dass der Terroranschlag ein «inside job» war. Regisseur ist der 22-jährige Dylan Avery. Er hat den 80-minütigen Film im April letzten Jahres auf seinem Laptop produziert – für 2000 Dollar. Im MTV-Stil geschnitten, besteht «Loose Change» grösstenteils aus Schnipseln aktueller Berichte verschiedener Fernsehstationen an jenem denkwürdigen Tag. Millionen haben sich das Werk im Internet angesehen, Zehntausende die DVD gekauft, und derzeit wird an der dritten Fassung des Streifens gearbeitet, um sie einem der grossen Studios zu verkaufen.

Gemäss einer Meinungsumfrage vom vergangenen Mai glauben 42 Prozent aller Amerikaner, dass die Untersuchungskommission kritisches Beweismaterial unterdrückt oder nicht gewürdigt hat. Ganze 36 Prozent glauben, die Regierung habe den Anschlag gewollt, um im Nahen Osten intervenieren zu können.

Zu den Merkwürdigkeiten der amerikanischen Vorliebe für Verschwörungstheorien gehört die Tatsache, dass Regierungsangelegenheiten wohl nirgendwo in der Welt so transparent sind wie in den USA. Selbst über die Interna der Bush-Regierung, die es in der Geheimniskrämerei für amerikanische Verhältnisse zu einem Rekord gebracht hat, wissen wir mehr als etwa über die des Schweizer Bundesrates. Wie kommt es, dass selbst das Intimleben eines Inhabers des Oval Office en détail publik wird, doch nie jemand der wohl mehreren Hundert Personen, die in einer gross angelegten Verschwörungsaktion mitbeteiligt sein müssten, etwas ausplaudert? Die Frage wird von Verschwörungstheoretikern übergangen. Sie sind geblendet von der Logik ihrer Fiktion, die einfach, einleuchtend und nicht so verwirrend ist wie die Realität selber.”

www.seeloosechange.com

Weltweite Verschwörungen

Hugo Stamm am Dienstag den 18. Juli 2006

Verschwörungstheorien beflügeln die Fantasien vieler Zeitgenossen. Ist das blanker Unsinn und eine gefährliche Weltanschauung? Oder nur ein harmloser Spleen?

Am 11. September 2001 gingen Bilder um die Welt, die niemand für möglich hielt. Die Twin Towers, Symbol der Wirtschaftsmacht USA, stürzten wie ein Kartenhaus zusammen. Seither spekulieren Experten wie Laien über die Hintergründe und Zusammenhänge. Für die Fachleute ist vieles rätselhaft, für manche Laien aber alles klar: Hinter dem teuflischen Werk steckt die „geheime Weltregierung“. Und diese Weltregierung setzt sich aus jüdischen Bankern, hohen Politikern, Brüdern von Geheimlogen, aus Freimaurern usw. zusammen. Das Ziel der verschworenen Machtphalanx: Die Welt zu destabilisieren und ins Chaos zu stürzen, damit es ihr leichter fällt, die Weltherrschaft zu übernehmen. So das Weltbild der Verschwörungstheoretiker, die rund um den Erdball zu finden sind. Und zwar in ordentlicher Dichte.

Verschwörungstheorien sind ein beliebtes Spiel, komplexe, unerklärliche Phänomene auf einfache Erklärungsmuster zu reduzieren. (Eine Methode, die auch Sekten anwenden.) Es gibt Tausende von Verschwörungstheorien, das Internet ist voll von Diskussionen darüber. Und es gibt unzählige Bücher darüber. Fast jedes wichtige geschichtliche Ereignis kennt seine eigene Verschwörungstheorie. So wird etwa behauptet, die Erde sei hohl oder die Landung der Amerikaner auf dem Mond eine Inszenierung aus einem Filmstudio.

Viele Verschwörungstheorien sind harmlose Spekulationen. Doch es gibt auch radikale politische Kräfte, welche das Phänomen gezielt für propagandistische Zwecke nutzen. Ein Beispiel dafür ist das Buch “Geheimgesellschaften und ihre Macht im 20. Jahrhundert” von Jan van Helsing (Jan Udo Holey). In diesem Bestseller werden die Nazi-Verbrechen verharmlost. Ja, es wird sogar behauptet, Hitler käme eines Tages zurück und würde sein Werk vollenden, also das Dritte Reich doch noch umsetzen.

Van Helsing und seine grosse Fangemeinde der rechtsradikalen Verschwörungstheoretiker behaupten, die Nazis hätten heimlich in der Antarktis (Neuschwabenland) alltauglich Flugkörper gebaut. Davon sei heute nichts bekannt, weil die Alliierten alle Dokumente und Gebäude zerstört hätten. Auch die Medien- und Nachrichtenwelt würden die Fakten verschweigen, weil sie von den „Illuminati und die zionistisch-anglo-amerikanischen Lobby“ kontrolliert würden. Ausserdem vermutet van Helsing, Hitler sei vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches mit einem Vril-Flugkörper (Vril = eine Superform von Energie, mit der sagenhafte Geschwindigkeiten erreicht werden soll), zu einem fernen Planeten geflogen, um den Endkampf vorzubereiten. Einem Planeten, auf dem Verjüngungsprozesse kein Problem sein sollen. (Sonst wäre Hitler längst gestorben.) Das Buch, von dem über 150’000 Exemplare verkauft worden sind, entpuppt sich als Propaganda-Instrument der Neo-Nazis, mit dem sie sich bei den Verschwörungstheoretikern einschmeicheln.

Verschwörungstheorien sind ein Konstrukt, das nicht auf einer ehrlichen Wahrheitssuche beruht. Die Konstrukteure sind immer Interessenvertreter. Sie kennen das Ziel ihrer Suche, bevor sie zu recherchieren beginnen. Sie machen sich Wissenslücken zu nutze und konstruieren diese zu einer Verschwörungstheorie. Dabei lassen sie alle Fakten auf der Seite, die gegen ihre Theorie sprechen. Und sie verschweigen, dass es ein Mehrfaches an Fakten gibt, welche ihre Vorstellungen widerlegen.

Klassisches Beispiel ist das Flugzeug, das am 11. September ins Pentagon gerast ist. Tatsächlich ist die Faktenlage darüber relativ dünn. Eine ideale Voraussetzung für Verschwörungstheorien. Allerdings ist das auch erklärbar, schliesslich hat die US-Administration kein Interesse, der Öffentlichkeit Einblick ins Machtzentrum zu gewähren. Doch was so aufklärerisch daherkommt, erweist sich am Ende als das, was man der Gegenseite vorwirft: eine neue Verschwörungstheorie, die zu einer „neuen Wahrheit“ konstruiert wird. Und: Es werden nur Vermutungen, Beobachtungen und Theorien geliefert. Und keine Fakten.

Verschwörungstheorien vernebeln also die Wahrheit – und das Bewusstsein der Gläubigen.