These: Der grassierende Aberglaube ist die irrationale Reaktion auf die für viele Menschen bedrohlichen Erkenntnisse der Wissenschaften.
Begründung: Bevor uns wissenschaftliche Erkenntnisse in die Moderne katapultierten, war die geistige Welt in unseren christlichen Breitengraden noch heil. Oben wachte der liebe Vater im Himmel, unten wütete der Satan, und im Zentrum des Universums machte sich der Mensch als Krone der Schöpfung die Erde untertan. Gott hatte die Erde in sechs Tagen geschaffen und den Menschen nach seinem Ebenbild geformt.
Doch dann begann der Mensch zu denken und zu forschen. Was er entdeckte, gefiel den Hütern des wahren Glaubens nicht. Ein Blick ins All zeigte, dass die Erde nicht das Zentrum war, sondern ein Staubkorn in der unfassbaren Unendlichkeit. Unser Planet wurde nicht etwa vor rund sechs tausend Jahren geschaffen, wie uns die Bibel weis macht, sondern entstand vor Millionen von Jahren.
Den Gipfel der menschlichen Kränkung leistete sich Darwin. Die Krone der Schöpfung verkam zu einer blosse Laune der Natur oder zu einem Zufallsprodukt. Glücklicherweise hatte sich die Wissenschaft inzwischen von der Kirche emanzipiert, sonst hätte Darwin wohl das gleiche Schicksal erlitten wie Galiläo Galilei.
In den letzten hundert Jahren ging es Schlag auf Schlag. Die Vorstellung vom vernunftsbestimmten, ethisch verantwortlichen Wesen, das treu die Gebote Gottes umsetzt, wurde durch die Erkenntnisse der Psychologie gründlich zerstört.
Freud entdeckte das Unbewusste und wies nach, dass wir Menschen von bisher unbekannten destruktiven Energien und Trieben beherrscht werden. Du bist nicht Herr in deinem Haus, beschied der Psychologe und raubte uns noch mehr Selbstwertgefühl. Der Mensch als ein besserer Affe. Was für ein Drama.
Es kam noch schlimmer. Die Seele, angeblich Sitz des göttlichen Geistes, wurde von den Ärzten, die erstmals einen Menschen setzierten, nicht gefunden. Heute sind sich viele Wissenschafter einig, dass die Seele nur das Produkt einer neurologische Funktion ist.
Den Rest gaben uns die Soziologen. Sie wiesen nach, dass wir ausschliesslich nach dem Prinzip des Eigennutzes funktionieren und nicht die altruistischen Wesen sind, als die wir uns gern sehen und wie die Glaubensgemeinschaften fordern. Die Demontage war perfekt.
(Kritiker werden einwenden, viele Menschen seien einfühlsam, hilfsbereit und opferten sich für andere auf. Soziologen werten die damit verbundene Anerkennung auch als Eigennutz. Dieser sei selbst bei einer Mutter Theresa wirksam gewesen, die sich mit ihrer Hilfsbereitschaft die Gunst des Himmels und damit das Heil erkämpft habe.)
Die Wissenschafter relativierten sogar die Liebe. Eine wichtige Rolle spiele dabei die Sexualität. Diese habe lediglich die Funktion, die besten Gene im Sinne der Evolution weiterzugeben.
Armer Mensch. Das heroische Bild, das er von sich selbst entwirft, zerbröselt zunehmend zwischen seinen Fingern. Übrig bleibt die Erkenntnis, dass alles nur von Hirnlappen gesteuert wird. Und dass unser Gastspiel auf der Erde nur ein Wimpernschlag auf der Zeitachse des Universums ist. Denn in ferner Zukunft geht auch unser Planet den Weg des Vergänglichen.
Um den fundamentalen Kränkungen zu entgehen, flüchten viele in den Aberglauben. Schade nur, dass manche sich gewaltsam gegen die Überbringer der angeblichen bedrohlichen Botschaften wehren.
Bei näherer Betrachtung ist das alles nur halb so schlimm. Im Gegenteil. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse verändern allenfalls unser Weltbild, das Leben an sich und unseren Alltag berühren sie nur am Rand. In hundert Jahren werden die Menschen lachen über unsere Diskussion. Genau so, wie wir heute über die Geistlichen lachen, die früher steif und fest behauptet hatten, die Erde sei eine Scheibe.
Warum müssen wir die neuen Erkenntnisse ernst nehmen? Die Geschichte lehrt uns, dass Ignoranz viel Leid über die Menscheit bringt, weil sie Autoritätspersonen viel Macht gibt. Und: Gegen die Macht der Erkenntnis ist langfristig ohnehin kein Kraut gewachsen.
Die Welt wird menschlicher, wenn wir die Tatsachen akzeptieren, wie sie sich nun mal präsentieren. Damit liesse sich viel Unheil verhindern. Unser krampfhafter Versuch, uns zu überhöhen und allem einen höheren Sinn beizumessen, führt zwangsläufig in den Aberglauben. Und allzu oft ins Unglück.