Archiv für die Kategorie ‘Aberglaube’

Wenn eine Himmelserscheinung für Hysterie sorgt

Hugo Stamm am Samstag den 14. November 2015
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Dieses Licht befeuerte die Theorien der UFO-Fans. (Bild: Julien Solomita/Youtube)

Die UFO-Szene ist wieder einmal in heller Aufregung. Am vergangenen Samstag sichteten viele Amerikaner vor der Küste von Los Angeles eine mysteriöse Erscheinung. «Da ist ein UFO in Los Angeles. Ich bin so aufgeregt», twitterte sofort ein UFO-Fan. Die Nachricht verbreitete sich in den sozialen Medien rasch um die Welt. Der bekannte amerikanische Videoblogger Julien Solomita schaltete ein Filmchen über die seltsame Himmelserscheinung auf, das inzwischen über 8 Millionen Mal angeklickt wurde.

Bereits über 8 Millionen Mal angeklickt: Das Video, das die seltsame Himmelserscheinung zeigt. (Video: Julien Solomita/Youtube)

Die UFO-Fans glaubten, endlich die Existenz von unbekannten Flugobjekten beweisen zu können, und die Apokalyptiker interpretierten die Himmelserscheinung als Auftakt zur Endzeit. Die grassierende Hysterie und Weltuntergangsstimmung bewogen das amerikanische Militär, das Rätsel aufzulösen. Die Marine habe eine Langstreckenrakete vom Typ Trident II getestet, liess sie in einer Medienerklärung verlauten. Der Flugkörper sei unbewaffnet gewesen und vom Atom-U-Boot USS Kentucky abgefeuert worden.

Der Vorfall ist ein Lehrstück in Sachen Aberglaube. Die UFO-Fans und Endzeitgläubigen haben ihre Antennen dauernd ausgefahren, um Beobachtungen, Phänomene und Erkenntnisse zu sammeln, die ihr Weltbild bestätigen. Dabei sind sie so stark darauf fokussiert, dass sie ihre Wahrnehmung einschränken und ihren Verstand knebeln. Kurz: Sie blenden alle Deutungsmöglichkeiten aus, die ihrer These widersprechen könnten. Ihr Bewusstsein wird von Sehnsucht, Hoffnung und (Aber-)Glaube bestimmt. Sie ordnen alles ihrer fixen Idee unter und blenden radikal aus, was nicht in ihr Denkschema passt. Vor allem verdrängen sie die naheliegendsten Antworten.

Ein solcher Aberglaube bedingt, dass die Gläubigen Informationen selektiv wahrnehmen. Kritischer Verstand und Vernunft werden unterdrückt. Nach diesem Muster legen sich auch die Weltverschwörungstheoretiker ihr politisches Weltbild zurecht.

Nach dem gleichen Prinzip funktioniert auch der Aberglaube in esoterischen, spirituellen und religiösen Gruppen und Bewegungen. Radikale Gläubige haben Angst, Heilslehre und Praktiken ihrer Gemeinschaft zu hinterfragen, weil ihr Glaubenssystem ins Wanken geraten könnte. Dies würde auch ihre Identität und ihr Selbstverständnis tangieren. Denn es wird oft vergessen, dass der Aberglaube unser Bewusstsein umfassend prägt und auch Auswirkungen auf unser Denken, Empfinden und Verhalten im Alltag hat.

Ähnliche psychische und gruppendynamische Prozesse durchlaufen radikalisierte junge Leute, die mit den IS-Schergen in den heiligen Krieg ziehen. Sie erleiden Wahrnehmungsverschiebungen und Realitätsverluste und blenden aus, dass sie Täter in einem entsetzlichen Krieg gegen die Bevölkerung werden. In ihrer Euphorie erlöschen moralische und ethische Werte. Dabei realisieren sie nicht, dass sie ein indoktriniertes Instrument in den Händen ruchloser Terroristen und Mörder werden. Was sie als Freiheit empfinden, ist die radikalste Form von Abhängigkeit.

Die Sucht nach der Sehnsucht

Hugo Stamm am Samstag den 8. August 2015
epa03994811 (01/15) US James Joseph, a Catholic pilgrim originally from Detroit, Michigan, touches the picture of Jesus at the Church of the Holy Sepulcher at the Old City of Jerusalem, 07 May 2013. Joseph calls himself Jacob but is better known by many as ‘the Jesus guy’, mainly because of his appearance resembling Jesus Christ. He has visited about 20 countries in the world, spreading his message, and over recent years he has been visiting Israel, becoming a well-known figure in the old city of Jerusalem, where he explores the life and path of Jesus Christ.  EPA/ABIR SULTAN PLEASE REFER TO ADVISORY NOTICE  (epa03994810) FOR FULL FEATURE TEXT

Sehnsucht nach Jesus: Ein Jerusalem-Pilger. (Keystone/Abir Sultan)

Die Sehnsucht ist eine zentrale Lebenskraft, die uns besonders in schwierigen Zeiten hoffen und träumen lässt. Sinn macht sie auch in guten Zeiten: Wir können uns die Zukunft in den schönsten Farben vorstellen und in tollen Erwartungen schwelgen. Wenn wir etwas vermissen, sehnen wir es mit aller Kraft herbei: ein neues Auto, die Erlösung von einer schweren Krankheit oder einen Partner, eine Partnerin.

Die Sehnsucht hat aber auch eine Kehrseite: Wenn ein Wunsch unrealistisch oder gar unerfüllbar ist, treibt sie mitunter seltsame Blüten. Sie besetzt grosse Teile unseres Bewusstseins, beschäftigt uns permanent. Und: Je unsicherer die Umsetzung oder Erfüllung ist, desto obsessiver wird sie. Sie hält uns gefangen und macht uns zu ihrer Sklavin. Liebesdramen und Beziehungsdelikte zeugen von der destruktiven Kraft, die auch in der Sehnsucht steckt.

Im Extremfall führt sie zu krankhaften psychischen Reaktionen. Dann bleibt von der Sehnsucht vor allem die Sucht zurück. Sehnen ist schön, doch schon der Ausdruck enthält die problematische Seite des Phänomens.

Eine unerschöpfliche Quelle von Sehnsüchten sind religiöse und spirituelle Hoffnungen und Erwartungen. Das liegt in der Natur der Sache: Übersinnliche Phänomene entziehen sich der Überprüfbarkeit, wir können sie nicht nachweisen, wir müssen an sie glauben. Somit eignen sie sich ausgezeichnet als Projektionsfläche und fördern die Einbildungskraft. Wir finden, was wir suchen, weil es keine gesicherten Fakten gibt. Jeder fühlt, was er gern fühlen möchte. Oder sieht, was er sehen will.

Wenn die religiöse Sehnsucht zur Sucht wird, kann es gefährlich werden. Ein paar Beispiele: Manche Esoteriker verehren ihren Guru als Inkarnation des Göttlichen und neigen zur Selbstaufgabe. Zeugen Jehovas sehnen sich nach der Endzeit, flüchten in eine Parallelwelt und entfremden sich von der realen Welt. Der Pilger in Jerusalem, der sich plötzlich als Jesus wahrnimmt und in eine Psychose abrutscht, verliert die Kontrolle über sich und kann zur Gewalt neigen. Bei kollektiven Sektendramen begingen die Gläubigen aus Sehnsucht nach der Erlösung Suizid und brachten teilweise ihre eigenen Kinder um, wie die Anhänger von Jim Jones oder die Davidianer.

Es gibt aber auch aktuelle Beispiele, die demonstrieren, wie destruktiv die Sehnsucht im religiösen Milieu sein kann. Bei der Rekrutierung junger Europäer setzten die Missionare des IS, des Islamischen Staates, vor allem auf das Mittel der Sehnsucht. Den Umworbenen wird das idealisierte Bild einer heilen muslimischen Welt gezeichnet, die Hoffnung auf Lebenssinn, Geborgenheit, Abenteuer und Heldentum verdichten sich zu einer diffusen Sehnsucht, die das vermeintliche Paradies in den Köpfen entstehen lässt. Und wenn es schiefgehen sollte, warten im Jenseits 72 Jungfrauen.

Holocaust als karmischer Ausgleich

Hugo Stamm am Samstag den 21. Februar 2015
Hugo Stamm

Amerikanische Soldaten und Häftlinge stehen hinter dem Tor des Konzentrationslagers Buchenwald (April 1945). Foto: AFP

Die Reinkarnationsvorstellung, oft gekoppelt an die Karmatheorie, hat ihre Wurzeln primär in den fernöstlichen Glaubensvorstellungen. Diese religiöse Idee, vor allem im Hinduismus und Buddhismus zu finden, ist sehr alt, hat eine fatalistische Komponente und passt schlecht in ein modernes Weltbild. Heute bauen wir das Zusammenleben, die gesellschaftlichen Ordnungen und Gesetze darauf auf, dass der Einzelne ein autonomes Wesen ist, das für sein Tun die Verantwortung trägt.

Das Konzept von der Wiedergeburt geht hingegen davon aus, dass Menschen Einflüssen ausgesetzt sind, die angeblich mit früheren Leben zu tun haben oder auf kommende ausstrahlen. Zwei Beispiele: Gute Taten im aktuellen Leben können zu einer Belohnung im nächsten führen. Fromme Hindus denken dabei gern an einen Aufstieg im Kastensystem. Oder: Wer in einem früheren Leben jemanden umgebracht hat, muss damit rechnen, dass er später selbst Opfer eines Verbrechens wird, auch wenn er ein vorbildliches Leben führt. Ein solch fatalistisches Weltbild lässt sich schlecht mit modernen psychologischen, sozialen oder pädagogischen Erkenntnissen oder Grundsätzen vereinbaren.

Dass dieser Glaube in Indien fortlebt, weil er einer alten Tradition entspricht, lässt sich einigermassen nachvollziehen. Dass aber heute im Westen Millionen von Menschen die Idee in ihr Weltbild integriert haben, muss als geistiger, kultureller und religiöser Rückfall gewertet werden. Zu verdanken haben wir diesen anachronistischen Rückschritt der modernen Esoterik, die inzwischen weite Gesellschaftskreise durchdrungen hat.

Dieses Beispiel zeigt, welch problematische Auswirkungen esoterische Ideen auf die Geisteshaltung vieler Menschen im Westen heute haben. Die Esoterik westlicher Ausprägung kultiviert das magische Denken und den Aberglauben. Es ist der Glaube an übersinnliche Geistwesen und Verstorbene, mit denen man angeblich kommunizieren kann, der Glaube an Elfen und Einhörner, an die Idee eines raschen spirituellen Paradigmawechsels, der aus uns egozentrischen Menschen sanfte Wesen machen soll.

Wie fatal der Glaube an die Karmatheorie und ihre esoterischen Modifikationen ist, hat uns der Esoteriker Trutz Hardo demonstriert. In seinem Buch «Jedem das Seine» (in Anlehnung an die Torinschrift im Konzentrationslager Buchenwald) wollte er nachweisen, dass die Karmaidee sich auch an einem extremen Beispiel wie dem Holocaust «beweisen» lässt. Der Autor behauptet, die ermordeten Juden hätten sich ihr Schicksal im Dritten Reich ausgesucht, da sie sich in früheren Leben ähnlicher Verbrechen schuldig gemacht hätten. Ist das Dummheit? Vielleicht. Mit Sicherheit aber esoterische Verblendung.

Aberglaube mit fatalen Nebenwirkungen

Hugo Stamm am Samstag den 18. Oktober 2014
Burial team remove body of suspected Ebola virus victim in Freetown

Helfer unter Verdacht: Männer in Schutzanzügen transportieren in Freetown die Leiche eines Ebola-Opfers ab (28. September 2014). Foto: Reuters

Mit der Esoterikwelle und dem Boom der Alternativmedizin erlebt der Aberglaube eine neue Blütezeit. Viele Menschen sind überfordert von der rasanten Zivilisationsentwicklung und komplexen Realität: Sie fühlen sich fremd in der eigenen Umgebung und sehnen sich nach einfachen Erklärungen und sanften Heilmethoden. Auf der Suche nach der heilen Welt vertrauen sie sich oft Scharlatanen und Verschwörungstheoretikern an, welche die Welt uminterpretieren und simple Rezepte für drängende Fragen in vielen Lebensbereichen haben. Doch ihre Erklärungen und Ideen beruhen auf einem Aberglauben und führen in eine Traumwelt.

Die Gefahren des Aberglaubens werden oft unterschätzt. «Lasst die Sucher doch träumen, wenn es ihnen hilft, das Leben besser zu meistern!», lautet eine Standardantwort. Wirklich? Ist die Flucht in eine Parallelwelt ein probates Rezept, um die Realität besser zu ertragen?

Ein Blick nach Westafrika zeigt, wie verheerend sich der Aberglaube auswirken kann. Ebola ist zwar ein Extrembeispiel, das Muster ist aber stets das gleiche. Denn auch bei uns kann der Aberglaube tödlich wirken.

Ein Beispiel aus Guinea: Bewohner in entlegenen Dörfern behaupteten, die Helferteams aus dem Westen hätten die tödliche Krankheit importiert und verantworteten die Epidemie. Dorfbewohner verschleppten sieben Helfer und schnitten ihnen die Kehle durch.

In anderen Regionen erklärten die Bewohner, Ebola sei eine Erfindung der westlichen Helfer. Diese benützten die angebliche Krankheit, um die Westafrikaner in den Spitälern zu ermorden. In einem Dorf riegelten die Leute die Zufahrten ab und sperrten das medizinische Hilfspersonal aus. Solche Anfeindungen sind für die ausländischen Spezialisten besonders hart zu ertragen: Sie riskieren ihr Leben und werden als Mörder verschrien.

Aus Unkenntnis umarmen viele die Toten nach alter Tradition und stecken sich mit dem tödlichen Virus an. Deshalb müssen die Helfer viel Zeit aufwenden, um Aufklärungsarbeit zu leisten.

Auch bei uns kann der Aberglaube tödliche Konsequenzen haben. Für viele Esoteriker sind Schulmedizin und Pharmaindustrie die Ursache vieler Krankheiten, tödlicher Diagnosen und gefährlicher Medikamente. Sie verweigern ärztliche Behandlung und sterben teilweise an Infekten, die leicht zu heilen gewesen wären. Auch die Leugnung gefährlicher Viren ist nicht nur im afrikanischen Busch zu finden: Bei uns streiten auch heute noch Esoteriker und Verschwörungstheoretiker die Existenz von Aids-Erregern ab. Der Aberglaube kann harmlose Auswirkungen haben, doch wer abergläubisch ist, kann Opfer tödlicher Fehleinschätzungen werden.

Tödlicher esoterischer Wahn

Hugo Stamm am Samstag den 11. Oktober 2014

Vor 20 Jahren geriet die Schweiz weltweit in die Schlagzeilen wie noch nie zuvor. Guru Jo Di Mambro inszenierte mit seinem esoterischen Sonnentemplerorden ein beispielloses apokalyptisches Sektendrama. Es musste spektakulärer werden als frühere Ereignisse, wie er schrieb. Er sollte Recht bekommen. Die Bilanz seiner irren Aktion: 74 Tote. Ein Teil seiner Anhänger liess der Sektenchef ermorden, die restlichen Sonnentempler vollzogen mit ihm den «Transit zum Stern Sirius», also den kollektiven Suizid. Im Glauben, auf dem paradiesischen Gestirn den spirituellen Frieden zu finden.

Was geht in einem Menschen vor, der ein solches Massacker zu seinen Ehren inszeniert? Wie kamen seine Anhänger dazu, ihrem Guru in den Tod zu folgen?

Der Uhrmacher Di Mambro war schon in jungen Jahren von spirituellen Phänomenen fasziniert, wie das heute Millionen Esoteriker sind. Er glaubte, mit höheren Wesen aus der göttlichen Hierarchie kommunizieren zu können. Aus seiner angeblichen übersinnlichen Begabung leitete er den Missionsauftrag ab, die Welt in ein neues spirituelles Zeitalter zu führen. Er begründete eine Ersatzreligion und floh geistig in eine Parallelwelt.

Der Übertritt in diese virtuelle Sphäre führte zu einer Entfremdung, die auch geistige und psychische Spuren hinterliess. Da die beiden Welten nicht kompatibel sind, baute er eine zweite Identität auf. In der spirituellen Identität fühlte sich Di Mambro mit göttlichen Attributen ausgestattet. Diese Spaltung, aufgeladen mit wahnhaften esoterischen Ideen, führte zu psychischen Auffälligkeiten. Er entwickelte eine narzisstische Persönlichkeitsstörung und Verfolgungsängste.

Als seine Vision vom neuen spirituellen Zeitalter am mangelnden Interesse der breiten Öffentlichkeit scheiterte, vollzog er den barbarischen Fanal: Er opferte 73 Anhänger, um in die Schlagzeilen zu kommen und in die Geschichte einzugehen.

Doch was war mit den Templern passiert, dass sie dem Guru glaubten und Suizid begingen? Sie hatten sich von spektakulären Ritualen und fantastischen Heilsideen in virtuelle esoterische Sphären entführen lassen, in denen angeblich alle menschlichen Grenzen überwunden werden konnten. Der Aberglaube wurde zur tödlichen Falle. Sie glaubten in ihrer Sehnsucht nach Erlösung an die göttlichen Fähigkeiten ihres Gurus, sein Wort war für sie die unumstössliche Wahrheit. Die suggestiven religiösen Kräfte und gruppendynamischen Prozesse trübten endgültig ihre Sinne.

Der religiöse Wahn weckte zwar ihre übersinnlichen Emotionen, machte sie aber zu spirituellen Robotern und tötete ihre menschlichen Gefühle ab. Deshalb betrachteten sie den Tod als Erlösung.

Meister im Verdrängen

Hugo Stamm am Samstag den 17. Mai 2014
Hugo Stamm

Der Tod ist ihr Kerngeschäft: Bestatterfamilie Fisher aus der Erfolgsserie «Six Feet Under» bei der Beerdigung ihres Vaters. (Foto: HBO)

Der Tod ist vorbestimmt, sagte mir kürzlich ein Esoteriker. Dies habe vermutlich mit der karmischen Belastung zu tun, fügte er an.

Die Idee vom vorbestimmten Tod ist weitverbreitet. Bei vielen hat er nicht primär eine religiöse Seite, sondern ist psychologisch begründet. Der Glaube daran entbindet uns ein Stück weit von der Verantwortung. Ganz nach dem Motto: Es hat keinen Sinn, sich allzu viele Gedanken über das Altern und den allfälligen Todeszeitpunkt zu machen, denn im Buch des Todes ist das Datum seit der Geburt vermerkt. Das hilft über quälende Fragen hinweg.

Diese Idee nimmt auch der Angst vor dem Tod einen Teil des Schreckens. Wenn das Todesdatum feststeht, macht es auch wenig Sinn, seriös zu leben oder Vorsorge zu betreiben. Deshalb flüchten wir uns gern in die Aussage: Es kommt, wie es kommt.

Wirklich? Was ist, wenn ich rauche und an Lungenkrebs sterbe? Ist es vorbestimmt, dass ich Raucher werde? Oder hätte ich, wenn ich nicht rauchen würde, am vermeintlichen Todestag einen tödlichen Autounfall?

Wir Menschen sind Meister im Verdrängen. Denn die Idee vom Todesdatum ist voll von Widersprüchen. Vor rund 200 Jahren wurden die Menschen halb so alt wie wir. Weshalb? Hat Gott in einer lichten Stunde entschieden, das Durchschnittsalter anzuheben? Als Belohnung für kollektives Wohlverhalten?

Wohl kaum. Ursache der grösseren Lebenserwartung ist unser Erfindergeist. Technik und Wissenschaft haben unser Leben erleichtert und sicherer gemacht. Vor allem die medizinischen Fortschritte lassen uns älter werden. Zum Beispiel stieg das Durchschnittsalter schlagartig, als die Impfungen erfunden wurden.

Begründet man den Todeszeitpunkt mit der Karmatheorie, stecken wir noch tiefer im Aberglauben. Die Idee besagt, dass wir im aktuellen Dasein dafür büssen, was wir im vergangenen Leben verbockt haben. Das würde bedeuten, dass die Schönen, Reichen und Intelligenten karmisch rein sind und uralt werden, die Hässlichen, Armen und Dummen jedoch früh abberufen werden.

Die Statistik widerlegt diese Denkweise. Und somit die Karmatheorie, wenn sie in Verbindung mit dem Todesdatum gebracht wird. Denn in reichen Ländern leben Arme oft länger als Reiche, weil sie gezwungenermassen ein gesünderes Leben führen und nicht an Zivilisationskrankheiten leiden. Das Leben ist meist komplizierter, als uns Binsenwahrheiten weismachen wollen.

Tödlicher Aberglaube

Hugo Stamm am Freitag den 24. Januar 2014
Keystone

Radikale Esoteriker lehnen die Schulmedizin ab: «Heilende» Steine werden an einer Esoterikmesse präsentiert. (Keystone/Christophe Ruckstuhl)

Das Drama um den kleinen Dylan, hat tragisch geendet: Seine Mutter hat ihren zehnmonatigen Sohn, der unter einem gefährlichen Geburtsfehler litt, in einem Spital unweit von Alicante (Spanien) mit einem Messer getötet und anschliessend versucht, sich selbst umzubringen. Die Ärzte konnten sie mit einer Notoperation retten. Vorgängig hatte die 40-jährige Schweizerin ihren Sohn aus dem Zürcher Kinderspital entführt, weil sie aus esoterischer Verblendung eine schulmedizinische Behandlung abgelehnte. Dank einer internationalen Fahnung konnten Mutter und Kind in Spanien aufgespürt und in ein Spital gebracht werden, wo die Schweizerin in einem unbeobachteten Moment ihre Tat ausführte.

Wie lässt sich eine solche Handlungsweise erklären? Replizieren wir ganz nüchtern, Schritt für Schritt: Der kleine Dylan hat einen Wasserkopf. Die körperliche Fehlfunktion ist medizinisch einwandfrei erforscht und dokumentiert. Das Nervenwasser zirkuliert bei Dylan nicht richtig zwischen Hirn und Rückenmark, es sammelt sich im Kopf an. Die Verformung macht die Krankheit sicht- und nachvollziehbar. Es braucht wenig Fantasie, um sich vorzustellen, dass das Wasser im Kopf das Hirn allmählich «erdrückt». Das Nervenwasser muss abgeführt werden. Das geht nur mit einem chirurgischen Eingriff und medizinischer Betreuung.

Jeder Primarschüler versteht das Phänomen. Radikale esoterische und alternativmedizinische Kreise weigern sich aber standhaft, die Logik des Denkens in spirituellen und medizinischen Fragen zu anerkennen. Für sie ist der esoterische Glaube – oder eben Aberglaube –- die einzige Instanz, die zählt. In ihr sind logisches Denken und Ratio nicht vorgesehen. Vernunft ebenso wenig.

Die radikalen Esoteriker, die oft Veganer sind – so auch die Mutter von Dylan –, definieren und interpretieren die Welt von ihrer spirituellen Ideologie aus, die in ihren Augen nach übersinnlichen Kriterien funktioniert. Die grobstoffliche Realität ist nur der Träger der spirituellen Matrix. Das Primat der feinstofflichen Realität über die reale Welt hat aber fatale Folgen. Sie führt zu Realitätsverlust. Nicht selten auch zu Abspaltungen und psychischen Auffälligkeiten. Nur so ist die Entführung zu erklären. In ihrem spirituellen Wahn wird die Mutter zusehen, wie Dylan leiden und vielleicht bald sterben wird. Es sei denn, sie wacht rechtzeitig auf. Momentan glaubt sie noch, dass ihr Sohn mithilfe alternativmedizinischer und spiritueller Therapien genesen wird.

Die Krankheit als Chance

Das esoterische Weltbild besagt nämlich, dass Krankheiten nicht körperliche Ursachen haben, sondern die Folge einer spirituellen Blockade sind. Esoteriker verstehen Krankheiten als Chance, die den Menschen auf übersinnliche Defizite aufmerksam macht. Deshalb gibt es für sie nur eine «Therapie»: Das spirituelle Gleichgewicht muss wieder hergestellt werden, damit Patienten genesen. Esoteriker sind also überzeugt, dass die spirituelle Welt die grobstoffliche Wirklichkeit steuert.

Die Schulmedizin ist in ihren Augen eine Todesmaschinerie, die mit todbringenden Pharmaprodukten und Skalpellen die Patienten reihenweise ins Jenseits befördert. Es gibt esoterische Meinungsführer, die erklären, Schulmedizin und Pharma hätten mehr Menschen auf dem Gewissen als das Dritte Reich beim Holocaust. Dylans Mutter lässt wahrscheinlich auch dann nicht von ihrem Irrglauben ab, wenn ihr Sohn pausenlos schreit vor Schmerzen. Diese werden als Ausdruck der Heilung interpretiert.

Jährlich sterben in der Schweiz viele Menschen, weil sie dieser alternativmedizinischen Ideologie anhängen. Opfer sind vor allem Krebspatienten, die sich Heilern anvertrauen und schulmedizinische Therapien verweigern. Die Gefahr des Missbrauchs steigt weiter, denn die Zahl der Heiler wächst laufend. Ihre Zunft umfasst in der Schweiz bereits Tausende. Die meisten schicken schwerkranke Klienten zwar zum Arzt, doch viele eben nicht.
Schuld am Schicksal des kleinen Dylan ist nicht nur seine Mutter, Mitschuld tragen auch radikale Esoteriker, die die alternativmedizinischen Ideen propagieren und im öffentlichen Bewusstsein verankern.

Die Kehrseite der Karma-Lehre

Hugo Stamm am Dienstag den 7. Januar 2014
(AP/Ajit Solanki)

Ein indischen Mädchen feiert Diwali, das hinduistische Lichtfest, 11. November 2012. (AP/Ajit Solanki)

Wie in den meisten asiatischen Ländern, ist der Aberglaube auch in Indien stark verbreitet. Es gibt eine ganze Industrie, die den Leuten bei irgendwelchen Problemen Hilfe der andern Art verspricht. Man trifft Glücksversprecher sogar in öffentlichen Bussen. Während der Fahrt bequatschen sie – wie bei uns die Verkäufer von Gemüseschälern an der Züspa – die Fahrgäste mit einem rhetorischen Feuerwerk. Sie verkaufen die abstrusesten Dinge, die bei bestimmten Sorgen helfen sollen: Tinkturen, Orakelsprüche, heilige Gegenstände, Broschüren mit Glücksrezepten und vieles mehr.

An den Strassen sieht man auch die Wahrsager und Handleser, die den Passanten die Zukunft vorhersagen und angeblich weise Ratschläge erteilen.

In erster Linie tragen die Inder aber ihre Sorgen und Nöte in die hinduistischen Tempel. In der Hoffnung natürlich, die Götter milde zu stimmen und von ihnen Unterstützung zu erhalten. Es gibt in den Tempeln auch viele Rituale und Opferzeremonien, bei denen die Gläubigen ihre Wünsche deponieren können. Im Vordergrund dürften verständlicherweise existenzielle Probleme bestehen, ist doch die Armut immer noch weit verbreitet. Die Gläubigen erhoffen sich aber auch Hilfe bei Krankheiten und Unfruchtbarkeit, die für die Betroffenen ein grossen Unglück darstellt. Ein Ehepaar, das keine Kinder bekommt, ist sozial stigmatisiert. Dabei ist in ländlichen Gegenden völlig klar, dass das Manko bei der Frau liegt. Im Norden passiert es auch heute noch, dass unfruchtbare Frauen getötet werden – ohne zu prüfen, ob es vielleicht am Mann liegt.

Dass die Götter nicht helfen wollen oder nicht können, liegt eigentlich auf der Hand. Denn in kaum einer andern Gegend der Welt glauben die Leute so intensiv und inbrünstig. Wenn Götter irgendwo auf der Welt wirken und direkte Hilfe leisten würden, dann müssten sie es in Indien tun.

Trotzdem leisten sie Hilfe, auch wenn sie keinen Finger krümmen. Sie spenden Trost und Hoffnung. Diese Hoffnung hilft vielleicht, das schwere Schicksal etwas besser zu ertragen. Erfüllen wird sich die Hoffnung aber nicht. Somit ist der Glaube, die Götter würden helfen, selbst ein Aberglaube. Einer, der für die Tempel und Priester sehr lukrativ ist. Die Spenden sind beträchtlich, denn ohne Obolus geht bei den Göttern erst recht nichts. Dieser Aberglaube freut die Tempelpriester, die gut daran verdienen.

Begünstigt wird der Aberglaube in Indien auch durch den Umstand, dass ein ganzes Heer von Göttern Schlange steht. Jede Gottheit steht für einen bestimmten Lebensbereich. Somit gibt es hunderte Gründe, Opfer zu bringen und Rituale durchzuführen.

Den Gläubigen wäre wohl mehr geholfen, wenn sie die Zeit und das Geld, das sie in die Pflege des Aberglaubens investieren, nutzen würden, ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Doch hier funkt die Karmatheorie ins Leben, die verlangt, dass man sich mit dem Schicksal abfindet, das einem gegeben ist. Es gilt, das schlechte Karma aus einem früheren Leben abzutragen, obwohl die Menschen kein Bewusstsein darüber haben, was sie damals verbrochen haben sollen. Ein weiterer Aspekt, der zeigt, dass der Glaube das Leben behindern kann.

Die Vertreter der höheren Kasten sorgen dafür, dass die Unberührbaren nicht aufmucken und unten gehalten werden. Sie sind die Profiteure dieses autoritären Systems. Sie können ihre Privilegien ungehindert ausleben, ihre Vormachtstellung auskosten und billige Arbeitskräfte rekrutieren. So hilft der Glaube, ein Unrechtssystem zu zementieren, statt es mit ethisch-religiösen Prinzipien zu bekämpfen. Die Religion macht sich zum Komplizen der herrschenden Kasten, statt für Gerechtigkeit zu sorgen.

Wenn sich spirituelle Sucher aus dem Westen fasziniert mit dem Hinduismus und der indischen Götterwelt befassen und sich vielleicht am Werk der Mahabarata ergötzen, ist das zweifellos ein fesselndes geistiges Abenteuer. Sie täten aber gut daran, auch die Kehrseite der religiösen Traditionen zu bedenken.

Soll die Polizei mit Hellsehern arbeiten?

Hugo Stamm am Freitag den 11. Oktober 2013
Eine Hellseherin hält einen Pendel über die Hand einer Kundin, 9. Januar 2006. (Keystone/Sandro Campardo)

Eine Hellseherin hält einen Pendel über die Hand einer Kundin, 9. Januar 2006. (Keystone/Sandro Campardo)

Eine Dissertation sorgt für Aufregung. So sehr, dass der «Blick» sie als Frontaufmacher den Lesern präsentiert. Im Fokus ist natürlich nicht die Doktorarbeit, sondern der Verfasser Umberto Pajarola. Der Mann mit den Doktorwürden ist Zürcher Staatsanwalt und beschreibt in seiner Arbeit alternative Ermittlungsmethoden, zum Beispiel der Einsatz von Hellsehern.

Der Titel der Dissertation aus dem Jahr 2007 lautet «Gewalt im Verhör zur Rettung von Menschen». Pajarola geht beispielsweise der Frage nach, ob man auf einen Entführer Druck machen darf, der das Versteck seines Opfers nicht preisgeben will. Dass «harte Methoden» wie Folter oder Nötigung nicht zugelassen sind, ergibt sich allein schon aus der Rechtsgrundlage. Deshalb fragte sich Pajarola, ob es gewaltfreie Methoden gebe, Vermisste oder Entführte ausfindig zu machen.

Der heutige Staatsanwalt thematisierte auf rund 20 Seiten seiner Dissertation alternative Methoden wie Telepathie, Hellsehen, Psychometrie, Medialität und Pendeln. Laut «Blick» gleichen Pajarolas Ausführungen einem Plädoyer fürs Übersinnliche. So schrieb Pajarola, es erscheine «beinahe zynisch, paranormale Fähigkeiten nicht einzusetzen, weil ihr Nutzen wissenschaftlich nicht bewiesen ist».

Der Jurist macht sich in seiner Arbeit sogar konkrete Gedanken über eine Hellsichtigen-Spezialeinheit, die der Polizei zur Verfügung stehen könnte.

«Im Zentrum steht der Aufbau einer festen Partnerschaft, in welcher ein Medium oder ein Team von Medien der Polizei ständig zur Verfügung steht, durch diese rekrutiert, getestet und ausgebildet wird.» Pajarola empfiehlt sogar «eine Ausbildung von Polizisten in paranormalen Fähigkeiten». Der Staatsanwalt betont, dass paranormale Methoden sich nur auf ganz spezielle Fälle beziehen würden, in denen unmittelbar Menschenleben gerettet werden könnten. Zum Beispiel bei einer tickenden Bombe oder einer Kindsentführung.

Pajarola hat offensichtlich einen Hang zu spirituellen und esoterischen Ideen. Wie Oberstaatsanwalt Andreas Brunner mir versicherte, wendet der Staatsanwalt die in der Dissertation empfohlenen Methoden aber nicht an. Diese gehörten allenfalls in die Hände der Polizei und nicht der Staatsanwaltschaft.

Hat hier der «Blick» ein paar Aussagen aus einer Dissertation aufgebauscht oder muss vor Ideen gewarnt werden, die esoterische oder übersinnliche Methoden in der Polizeiarbeit propagieren?

Ein Christ will Muslime missionieren

Hugo Stamm am Donnerstag den 22. August 2013
Muslime hören sich in Winterthur die Freitagspredigt an. (Keystone/Alessandro Della Bella)

Anscheinend hat Gott die Muslime nach Europa geschickt, damit sie Christen werden: Muslime hören sich in Winterthur die Freitagspredigt an. (Keystone/Alessandro Della Bella)

Eines der Merkmale freikirchlicher Gläubiger ist, dass sie die Welt gern aus ihrer individuellen Perspektive interpretieren. Diese Perspektive ist bestimmt durch ihren radikalen Glauben an die Bibel und an ihre Definition von Gott. Beides prägt ihr Weltbild. Ein Weltbild, das von Hoffnungen, Ängsten und Sehnsüchten bestimmt wird.

Ein Beispiel für diese These ist Andreas Maurer, Maschineningenieur und Dr. theol. Der 61-jährige Theologe promovierte zum Thema «Christentum und Islam, Bekehrungsmotive von Christen und Muslimen». Er gehört zu den wenigen Theologen, die sich auch im Islam auskennen. Und wie bei vielen Freikirchlern macht auch Maurer seine Passion zur Mission. Doch das ist schwierig: Wie missioniert man Muslime? Man mag den Auftrag von Gott erhalten haben, doch man gerät trotzdem in Teufels Küche. Denn Muslime zu missionieren, ist mehr als delikat.

Maurer geht natürlich nicht hin und verkündet: «Ich missioniere Muslime.» Er vermeidet den Ausdruck im Interview mit der freikirchlich orientierten Zeitschrift «idea/Spektrum» tunlichst. Er besuche Moscheen, spreche mit Muslimen und stelle Fragen. Immer wieder Fragen. So erreiche er die Gläubigen. Der Rest besorge Gott: Diesem stelle er sich zur Verfügung und sei ein Zeugnis. Die unausgesprochene Botschaft: Ich sichere den Kontakt, das Werk muss aber Gott vollenden.

Um seine Arbeit in die Breite zu tragen, hat Maurer das Buch «Islam und wie Christen mit Muslimen ins Gespräch kommen» geschrieben. Der Autor sagt, dass er den Muslimen gern erkläre, was er unter Wahrheit verstehe. Wahrheit kann für ihn nur Jesus und die Bibel sein. Doch was passiert dann? Das sagt Maurer im Interview nicht. Immerhin erwähnt er, dass er schon von fanatischen Muslimen bedrängt und bedroht worden sei. Deshalb gehe er nur noch zu zweit in Moscheen.

Eine der Fragen lautet, warum Muslime fünfmal am Tag beten würden. «Durch einfache Fragen kommen Muslime oft ins Nachdenken und merken, dass der Koran vieles ja gar nicht sagt.» Zum Beispiel, dass Gläubige fünfmal beten müssen. Maurer kommt zum Schluss, dass der Islam ein Glaube der Angst sei. Dann setzt er noch einen drauf: «Über 70 Prozent von dem, was viele Muslime denken, steht gar nicht im Koran.» Und man fragt sich, woher Maurer diese erstaunliche Zahl hat.

Als Maurer erklärt, Gott schicke Muslime nach Europa, reibt man sich endgültig die Augen. Er wolle, dass Muslime auch das Evangelium hörten. Dann wird Maurer prophetisch: «Ich sehe für den Islam weltweit eine ähnliche Entwicklung, wie die des Kommunismus: Er fällt zusammen.»

Die nackten Zahlen sprechen aber eine andere Sprache. Ein Beispiel mehr dafür, wie ein fundamentalistischer Glaube das Denken bestimmt. Und das Handeln.