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Wo ist Gott?

Hugo Stamm am Samstag den 2. Mai 2015
Devotee dressed as Hindu goddess Kali performs during a ritual as part of the annual Shiva Gajan religious festival at Pratapgarh

Eine Hindu bei einer Opferzeremonie für die Gottheit Shiva. Foto: Jayanta Dey, Reuters.

Das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden, in Nepal rissen einstürzende Häuser Tausende in den Tod. Aus weltlicher Sicht gibt es einfache – wenn auch erschreckende Erklärungen: Die Not im Süden und der Wohlstand im Norden lassen die Welt kippen. Und beim Erdbeben erschütterten geologische Verwerfungen die Erdkruste. Die Erklärung für das Schreckliche ist oft schrecklich banal.

Gläubige monotheistischer Religionen suchen bei Tragödien auch religiöse Antworten. Strenggläubige Christen, Juden und Muslime interpretieren existenzielle Ereignisse oft aus spiritueller Warte. Als gütiger und allwissender Vater, der uns laut Bibel nach seinem Ebenbild geschaffen hat, greift Gott in ihrem Verständnis in den Weltenlauf ein. Wie in biblischen Zeiten, als er Abraham anleitete, seinen Sohn Isaak zu opfern – als Treuebeweis. Oder als er bei der Sintflut die Menschheit ertrinken liess, weil sie von ihm abgefallen war. Und schliesslich Hiob, den Gott mit mehreren Schicksalsschlägen überzog, um seine Festigkeit im Glauben zu testen.

Seit Jahrhunderten beschäftigt deshalb Gläubige die Frage: Weshalb lässt Gott das Elend zu? Wie hält er es aus, wenn unschuldige Kinder auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken? Kümmert es ihn nicht, oder kann er nicht eingreifen?

Diese Kernfragen der monotheistischen Religionen führen bei Gläubigen immer wieder zu Anfechtungen. Plausible Antworten haben weder Philosophen noch Theologen gefunden. Gottes Wege seien eben unergründlich, erklären Geistliche. Leidenden hilft die Antwort aber kaum.

Das Abseitsstehen Gottes widerspricht eklatant unserem Gerechtigkeitssinn und der Bibel, die die Nächstenliebe als hohes Gut interpretiert. Diese Nächstenliebe lässt Gott vermissen, wenn wir Menschen leiden. Auf vielen Kirchenbildern streckt er die Hand nach uns aus. Doch wo ist diese, wenn flüchtende Menschen ertrinken? Seine Absenz mit der Erbsünde zu erklären, macht erst recht ratlos.

Wir sind an unsere menschlichen Bedingungen gebunden, die unser Denken und Empfinden bestimmen. Nach diesen Kriterien ist die Abwesenheit Gottes nicht nachvollziehbar. Deshalb wenden sich viele Menschen vom Glauben ab.

Für uns sind die monotheistischen Religionen ein geistiger und religiöser Fortschritt, mit dem Animalismus und Pantheismus überwunden wurden. Aus psychologischer Sicht ist es aber vielleicht ein Rückschritt. Der Hinduismus zum Beispiel hat das Widersprüchliche und das Böse nicht verdrängt, im Götterhimmel hausen auch Dämonen. So ist Shiva nicht nur der Erneuerer, sondern gleichzeitig auch der Zerstörer. Deshalb können Hindu auch Erdbeben religiös erklären. Ein geschickter Schachzug, um das wohl grösste religiöse Paradox zu umgehen.

 

 

 

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401 Kommentare zu “Wo ist Gott?”

  1. Johannes Holder sagt:

    Hallo Frau Miller,

    hier ist meine Antwort, die ich jetzt endlich nach langer Entwicklung mit ihren Büchern so sehen kann:

    1. Jede Religion ist von den Eltern gegründet und nicht göttliche Offenbarung. Verbal wird dies sogar explicit deutlich: die Anfänge des biblischen Glaubens gehen auf die Väter, Abraham, Isaaks und Jakobs zurück. Später dann auf die Evangelisten und Kirchenväter. Heute wird die Kirche vom heiligen Vater geleitet.
    2. Daraus folgt: Gott=Eltern!!!
    3. Der Grundstein des Glaubens ist die Prämisse, dass das Kind böse sei und zum Guten erzogen werden müsste.
    D.h., wenn das Kind gut ist, auch ohne die Erziehung zum Guten, kann der spätere Erwachsene menschlich handeln, ohne das die Religion ihn dazu bringen muss. Auf diese Prämisse geht auch die Tatsache zurück, dass die Kirche nicht den Liebesgefühlen zweier Menschen trauen kann und ein ewig-gültiges Treueversprechen fordert.
    4. Durch die Religionen haben nur die Eltern ihren Frieden vor der Wahrheit! Weltfrieden wird es nicht mit religiöser Führung geben!
    5. Die Religion soll die Kinder daran hindern, die eigene Wahrheit zu erkennen.

    Ich denke, dass sie mir zustimmen können, oder?

    Grüße!

    AM: Danke für Ihren Brief, ich stimme Ihnen vollkommen zu. Die Antworten auf viele Fragen sind im Grunde sehr einfach, aber machen den einst geschlagenen Kindern sehr angst. Daher sind viele Gehirne wie aus Beton, Sie können diesen Menschen alles sehr klar erläutern, aber die Infos kommen nicht durch, Sie bekommen immer wieder die gleiche Antwort: Aber das Schlagen hat mir doch gut getan, sonst wäre ich nicht das oder jenes….

    Entnommen der Website von Alice Miller, Rubrik Leserpost.