Mit diesem letzten Beitrag verabschiedet sich Hugo Stamm nach zehn Jahren Sektenblog. Wir bedanken uns herzlich bei ihm für seine kritischen und anregenden Texte und seine engagierte Arbeit. Die Redaktion.

Das Bedürfnis nach Spiritualität ist tief im Menschen verankert: Betender Mann in Kirgistan. Foto: Maxim Shipenkov (Keystone)
Es begann vor exakt zehn Jahren. Ich wagte den Versuch, kontroverse Sektenthemen mit den Leserinnen und Lesern in einem Blog zu diskutieren. Mehr als drei Monate würde ich mir dies nicht antun, dachte ich, denn es war zu befürchten, dass mich all die Sekten, die ich im Lauf von drei Jahrzehnten publizistisch begleitet hatte, verbal attackieren würden.
Doch der Sektenblog, inzwischen Religionsblog genannt, überlebte bis heute. Das Echo auf meine 470 Beiträge war über all die Jahre gross. Sie generierten rund 275’000 Kommentare. Jeder Artikel löste durchschnittlich 580 schriftliche Reaktionen aus. Somit ist der Sektenblog das wohl erfolgreichste Diskussionsforum im Internet. Doch nun ist Schluss.
Zurück zu den Anfängen: Die Attacken von Sektenanhängern gehörten bald zum Alltag. Verletzten sie die Blogregeln, konnte ich sie löschen. So liessen sich mit der Zeit Bloggerinnen und Blogger fernhalten, die mehr auf den Spieler zielten als auf den Ball.
Im Lauf der Jahre entstand eine grosse Blog-Gemeinschaft. Es gibt tatsächlich Tagi-Leserinnen und -Leser, die seit der ersten Stunde aktiv dabei sind. Viele kamen im Lauf der Jahre dazu. Sie haben viel Herzblut und Zeit investiert, die vielen Kommentare zu lesen und eigene Texte zu schreiben. Oft wurde auf einem sehr hohen intellektuellen und geistigen Niveau diskutiert. Dafür möchte ich allen herzlich danken.
Für manche war der Blog eine virtuelle zweite Heimat geworden. Die Insider kannten sich gut: Sie gaben im Lauf der Jahre Privates preis, berichteten von ihren Lebenserfahrungen, schilderten ihre religiösen und spirituellen Erlebnisse, thematisierten ihre Ängste und Sehnsüchte. Es wurden auch private Kontakte geknüpft.
Standen am Anfang Sektenthemen im Zentrum, öffnete ich den Themenfächer bald. Es zeigte sich nämlich, dass grundsätzliche religiöse, spirituelle und weltanschauliche Themen die spannendsten Diskussionen auslösten, weil sie die Blogger persönlich betrafen. Zwar leeren sich die christlichen Kirchen, die Frage nach Ursprung, Sinn und Bestimmung des Lebens beschäftigt viele Menschen aber nach wie vor.
Gleichzeitig zeigen die Erfahrungen im Blog, dass religiöse und spirituelle Fragen uns Menschen oft heillos überfordern, wie auch die aktuellen internationalen Konflikte deutlich machen. Der Grund: Der religiöse Glauben ist zwangsläufig an einen Absolutheitsanspruch gebunden, der keine Abweichungen und Kompromisse zulässt. Dieses starre System fördert die Radikalisierung von enthusiastischen Gläubigen, schliesslich geht es um das Höchste und Letzte. Die Gefahr des Fanatismus war denn auch ein zentrales Thema im Blog.
Weitere Schwerpunkte betrafen das magische Denken und den Aberglauben, die sich immer tiefer in die Volksseele graben. Trotz wachsender Bildung und wissenschaftlicher Erkenntnisse flüchten immer mehr Menschen in die Welt der übersinnlichen Wunder, wie aus den Kommentaren abzulesen war. Sie ertragen die harte Realität schlecht und sehnen sich nach einer Parallelwelt voll Harmonie, Geborgenheit und Frieden. Dass sie sich dabei von der Wirklichkeit entfremden, ist ihnen nicht bewusst. Ausdruck dieser Entwicklung ist auch der riesige Markt der Alternativmedizin. Es gab nie so heftige, teilweise militante Reaktionen wie bei kritischen Texten zu alternativen Methoden, speziell zur Homöopathie. Zehn Jahre lang hat der Blog einen Beitrag zur geistigen Auseinandersetzung mit solchen Phänomenen geleistet. Nun ist Schluss.