Der Religionsblog geht, die Fragen bleiben

Hugo Stamm am Samstag, den 30. Januar 2016

Mit diesem letzten Beitrag verabschiedet sich Hugo Stamm nach zehn Jahren Sektenblog. Wir bedanken uns herzlich bei ihm für seine kritischen und anregenden Texte und seine engagierte Arbeit. Die Redaktion.

Hugo Stamm

Das Bedürfnis nach Spiritualität ist tief im Menschen verankert: Betender Mann in Kirgistan. Foto: Maxim Shipenkov (Keystone)

Es begann vor exakt zehn Jahren. Ich wagte den Versuch, kontroverse Sektenthemen mit den Leserinnen und Lesern in einem Blog zu diskutieren. Mehr als drei Monate würde ich mir dies nicht antun, dachte ich, denn es war zu befürchten, dass mich all die Sekten, die ich im Lauf von drei Jahrzehnten publizistisch begleitet hatte, verbal attackieren würden.

Doch der Sektenblog, inzwischen Religionsblog genannt, überlebte bis heute. Das Echo auf meine 470 Beiträge war über all die Jahre gross. Sie generierten rund 275’000 Kommentare. Jeder Artikel löste durchschnittlich 580 schriftliche Reaktionen aus. Somit ist der Sektenblog das wohl erfolgreichste Diskussionsforum im Internet. Doch nun ist Schluss.

Zurück zu den Anfängen: Die Attacken von Sektenanhängern gehörten bald zum Alltag. Verletzten sie die Blogregeln, konnte ich sie löschen. So liessen sich mit der Zeit Bloggerinnen und Blogger fernhalten, die mehr auf den Spieler zielten als auf den Ball.

Im Lauf der Jahre entstand eine grosse Blog-Gemeinschaft. Es gibt tatsächlich Tagi-Leserinnen und -Leser, die seit der ersten Stunde aktiv dabei sind. Viele kamen im Lauf der Jahre dazu. Sie haben viel Herzblut und Zeit investiert, die vielen Kommentare zu lesen und eigene Texte zu schreiben. Oft wurde auf einem sehr hohen intellektuellen und geistigen Niveau diskutiert. Dafür möchte ich allen herzlich danken.

Für manche war der Blog eine virtuelle zweite Heimat geworden. Die Insider kannten sich gut: Sie gaben im Lauf der Jahre Privates preis, berichteten von ihren Lebenserfahrungen, schilderten ihre religiösen und spirituellen Erlebnisse, thematisierten ihre Ängste und Sehnsüchte. Es wurden auch private Kontakte geknüpft.

Standen am Anfang Sektenthemen im Zentrum, öffnete ich den Themenfächer bald. Es zeigte sich nämlich, dass grundsätzliche religiöse, spirituelle und weltanschauliche Themen die spannendsten Diskussionen auslösten, weil sie die Blogger persönlich betrafen. Zwar leeren sich die christlichen Kirchen, die Frage nach Ursprung, Sinn und Bestimmung des Lebens beschäftigt viele Menschen aber nach wie vor.

Gleichzeitig zeigen die Erfahrungen im Blog, dass religiöse und spirituelle Fragen uns Menschen oft heillos überfordern, wie auch die aktuellen internationalen Konflikte deutlich machen. Der Grund: Der religiöse Glauben ist zwangsläufig an einen Absolutheitsanspruch gebunden, der keine Abweichungen und Kompromisse zulässt. Dieses starre System fördert die Radikalisierung von enthusiastischen Gläubigen, schliesslich geht es um das Höchste und Letzte. Die Gefahr des Fanatismus war denn auch ein zentrales Thema im Blog.

Weitere Schwerpunkte betrafen das magische Denken und den Aberglauben, die sich immer tiefer in die Volksseele graben. Trotz wachsender Bildung und wissenschaftlicher Erkenntnisse flüchten immer mehr Menschen in die Welt der übersinnlichen Wunder, wie aus den Kommentaren abzulesen war. Sie ertragen die harte Realität schlecht und sehnen sich nach einer Parallelwelt voll Harmonie, Geborgenheit und Frieden. Dass sie sich dabei von der Wirklichkeit entfremden, ist ihnen nicht bewusst. Ausdruck dieser Entwicklung ist auch der riesige Markt der Alternativmedizin. Es gab nie so heftige, teilweise militante Reaktionen wie bei kritischen Texten zu alternativen Methoden, speziell zur Homöopathie. Zehn Jahre lang hat der Blog einen Beitrag zur geistigen Auseinandersetzung mit solchen Phänomenen geleistet. Nun ist Schluss.

Eidgenössisch diplomierte Heiler

Hugo Stamm am Samstag, den 23. Januar 2016
Kinesiologen wehren sich gegen die Verstaatlichung ihrer Ausbildung: Behandlung einer Seniorin. Foto: UFV (Flickr)

Kinesiologen wehren sich gegen die Verstaatlichung ihrer Ausbildung: Behandlung einer Seniorin. Foto: UFV (Flickr)

Homöopathen und Ayurveda-Therapeuten können in Zukunft ein eidgenössisches Berufsdiplom erlangen. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) hat kürzlich die Höhere Fachprüfung für Naturheilpraktiker genehmigt. Nun wollen auch die Kinesiologen ihre Patienten mit dem Segen der Bundesbehörden behandeln.

Kinesiologie ist jedoch eine umstrittene Diagnose- und Behandlungsmethode, eine signifikante Wirkungsweise kann nicht nachgewiesen werden. Allein schon der obskure Muskeltest zur Eruierung verschiedenster Krankheiten macht klar, dass bei der Kinesiologie seltsame Praktiken angewendet werden. Ausbildungskonzept und Prüfungsordnung hat die Organisation der Arbeitswelt Alternativmedizin Schweiz (ODA KT) ausgearbeitet und beim Staatssekretariat eingereicht.

Bemerkenswert ist nun, dass ausgerechnet aus den eigenen Reihen Widerstand gegen die eidgenössisch anerkannte Ausbildung erwächst. So haben sechs Institutionen aus dem alternativmedizinischen Bereich dagegen Einspruch erhoben. Die meisten fürchten sich vor der Überregulierung der Aus- und Weiterbildung, die sehr zeit- und kostenintensiv sei. Der Schweizerische Verband Nicht-Medizinische Kinesiologie (SVNMK) brachte sogar grundsätzliche Kritik an: Er kritisiert nicht nur bestimmte Inhalte der Kinesiologie, sondern bemängelt auch, dass die alternative Methode in den letzten Jahren mit immer mehr medizinischem Zusatzwissen belastet worden sei, das in keinem Zusammenhang mit der tatsächlichen kinesiologischen Arbeit stehe.

Der SVNMK befürchtet gar eine sektenhafte Entwicklung und schreibt in seiner Eingabe ans Staatssekretariat: «Über die blinde Anerkennung der Kinesiologie können inakzeptable Inhalte in das Gesundheits- und Erziehungswesen eingeschleust werden, nämlich Sektenlehren, rassistische und sexistische Inhalte, jede Menge Esoterik und wissenschaftlich längst widerlegte Irrlehren.» Weiter spricht der Verband von der Gefahr einer Scharlatanerie und verlangt eine unabhängige Überprüfung der Ausbildungsinhalte.

Zum Beleg zitiert der Verband aus den Ausbildungsinhalten: Wenn Bedürfnisse übersehen würden, «kristallisiert sich eine psychische Energie in den Nervenkanälen». Bei Wut, Angst oder Verwirrung würde sich eine Art lähmendes Gift in den Kanälen festsetzen. Der Kinesiologieverband liest weiter aus den Unterrichtsinhalten der Transformationskinesiologie, eines wichtigen Zweigs der Kinesiologie, eine offensichtliche Sektenlehre und akute Gefährdung der Patientinnen und Patienten heraus. Es sei völlig unverständlich, dass eine eidgenössische Behörde die Augen vor solchen Inhalten verschliesse und dem Gesuchsteller die eidgenössische Anerkennung zubillige.

Um den Vorwurf der Irrlehre und esoterischen Verstrickung zu untermauern, zitiert der SVNMK in der Einsprache an das Staatssekretariat aus den Ausbildungsinhalten der Transformationskinesiologie. Dort heisst es beispielsweise zu den Solarengeln:

«Zu Beginn hat die menschliche Seele keine Kontrolle über ihre eigenen Vehikel. Sie wird von ihrem Solarengel inspiriert, der ihr dabei hilft, sich von den physischen, emotionalen und unteren mentalen Welten zu lösen. (…) Die erste Einweihung heisst Geburt, womit die Geburt der menschlichen Seele gemeint ist. Jetzt ist der Mensch die Hoffnung auf Glorie, aus dem Inneren Christus geboren. Davor waren wir ein schlafender Same in der Gebärmutter des Solarengels.»

Zur Rassenlehre schreibt die Transformationskinesiologie:

«Wo steht die Menschheit? (…) Während der Periode des Erdenglobus hat sich die Menschheit durch 5 Wurzelrassen hindurch entwickelt. Die Adamische/Polare Rasse. Die Hyperboräische Rasse. Die Lemurische Rasse. Die Atlantische Rasse. Die Arische Rasse. Die Menschheit wird noch zwei weitere Rassen durchlaufen, die 6. und die 7. (…) Die Aufgabe besteht darin, während der Arischen Rasse (5. Wurzelrasse) in der Erdenglobus-Periode die Psyche zu entwickeln.»

Zur Krankheitslehre in der Transformationskinesiologie schreibt der SVNMK:

«Hier wird die Syphilis mit einer Lemurischen Rasse in Verbindung gebracht, der Krebs mit einer Atlantischen Rasse und die Tuberkulose mit einer Arischen Rasse.»

Andrea Bürki, Präsidentin ODA KT, verwahrt sich gegen die ihrer Ansicht nach haltlosen Vorwürfe, die die Kinesiologie in die Nähe von Sektenlehren sowie rassistischen und sexistischen Praktiken brächten. Es sei willkürlich, die angeführten Zitate in einen Zusammenhang mit ihrer Organisation zu stellen. Das Staatssekretariat ging gar nicht erst auf die Eingaben der sechs Verbände ein. Es ist also so gut wie sicher, dass sich Kinesiologen bald zu eidgenössisch diplomierten Berufsleuten ausbilden lassen können.

Das ist eigentlich ein Skandal. Das Staatssekretariat hat sich nicht vertieft mit den Inhalten und der Lehre der Kinesiologie auseinandergesetzt. Es scheint ihm egal zu sein, ob Kinesiologie als Diagnose- und Heilmethode funktioniert oder ob die Patienten allenfalls geschädigt werden, weil sie es verpassen, rechtzeitig eine wirkungsvolle Therapie zu bekommen. Für die Behörden zählt lediglich, dass die Ausbildungsanforderungen erfüllt werden.

Vor ein paar Monaten haben bereits mehrere alternativmedizinische Methoden den Segen des Bundes erhalten. In den Disziplinen Ayurveda, Homöopathie, Traditionelle Chinesische Medizin und Traditionelle Europäische Medizin dürfen eidgenössische Fachprüfungen durchgeführt werden. Eine Methodenkritik gibt es nicht, weil die Prüfungsexperten zwangsläufig Vertreter der Alternativmedizin sind. Es lassen sich in den Komplementär­methoden auch keine unabhängigen Fachleute finden.

Bereits wollen auch die Vertreter weiterer Alternativmethoden eine eidgenössische Anerkennung. Die ODA KT hat die Prüfungsordnung für die Höhere Fachprüfung für Komplementärtherapeuten eingereicht. Diese können sich dereinst in weiteren 13 Methoden eidgenössisch diplomieren lassen. Darunter befinden sich die Akupressur, Shiatsu, Craniosacral-Therapie, Polarity, Rebalancing, Yoga-Therapie und Heileurythmie. Ein wahrer Ausverkauf der Diplome. Die Patienten werden den Therapeuten viel Vertrauen entgegenbringen, weil sie eidgenössisch diplomiert sind. Auch den Scharlatanen unter ihnen.

Religionskriege: Warum outet sich Gott nicht?

Hugo Stamm am Samstag, den 16. Januar 2016
A Syrian refugee holding a baby swims towards the Greek island of Lesbos, September 12, 2015. Alkis Konstantinidis: Another inflatable boat packed with dozens of migrants and refugees heading towards the shore. That’s what I noticed in the distance. The sea was calm and they were cheering on the dinghy. Suddenly, some 200 metres away, the rear of the boat deflated for no obvious reason, and people started falling into the sea. Screams replaced cheers as they frantically tried to stay afloat on life tubes, or by clinging on to the boat. Those who could swim tried to help those who couldn’t. As this dramatic scene unfolded and people drifted away from each other, the biggest challenge was to capture as many of the different scenes as I could. There were people falling overboard; two men trying to keep their friend afloat; a man still on the boat lifting his child in the air; another man, nearing collapse from exhaustion, swimming towards the shore; volunteers rushing towards the boat. In this hectic moment, one man, tense and yelling really loudly, caught my eye so I shot some frames. Later, as he tried to catch his breath on the beach, I asked him where he was from. “Syria," he told me before heading towards a volunteer holding a baby. The distance of the shot hadn’t allowed me to see the details of the picture clearly. It was only when I began editing that I could make out the tiny head of a baby in a life tube, and the screaming man trying to keep himself and the baby above water. Everything I cover, from riots to politics and sports, trains me to be on the alert and try to get the best from what I am shooting. I learned from this experience that disaster can occur even in what appears to be the calmest of situations. Looking back, the most memorable moment was when I opened the picture and saw the baby, who looked fast asleep as if in a cradle - dreaming or listening to a lullaby. REUTERS/Alkis Konstantinidis SEARCH "STORY-YEAR" FOR ALL 14 PICTURES - R

Kann das Gottes Wille sein? Ein syrischer Flüchtling mit einem Säugling vor der griechischen Insel Lesbos (September 2015). (Reuters)

Die Welt brennt, und Gott glänzt einmal mehr durch Abwesenheit. Christen verteidigen ihn mit dem Argument, er habe uns Menschen einen freien Willen gegeben, das Leben und die Welt nach eigenen Vorstellungen, Wünschen und Ideen zu gestalten. Doch dieser Gedanke ist nicht zu Ende gedacht. Es sind vergleichsweise wenige Player im aktuellen politischen Machtpoker, die ihren Willen skrupellos durchsetzen und die Welt destabilisieren. Millionen von Menschen sind ihrem destruktiven Machtwillen ausgesetzt.

Ihre Opfer in den Krisengebieten haben zwar auch einen freien Willen, aber die Ohnmacht verhindert, diesen umzusetzen. Sie sind den Despoten machtlos ausgesetzt. Ihre «Freiheit» beschränkt sich meist nur auf die Möglichkeit, aus der irdischen Hölle zu fliehen. Und nicht selten endet der letzte Rest ihres freien Willens, den Gott ihnen angeblich gelassen hat, in einer maroden Barke, die im Mittelmeer versinkt. Schaffen sie es bis nach Europa, haben sie zwar ihr Leben gerettet, doch sie sind meist entwurzelt, werden angefeindet, sind ohne Zukunftsaussichten.

Eigentlich müsste sich Gott – der christliche, jüdische oder muslimische ─ angesichts der Not und des Elends die Haare raufen. Da säkularisiert sich seine schöne Welt, doch die aktuellen politischen Konflikte werden mehr denn je mit religiösen Ideen befeuert. In seinem Namen massakrieren die «Rechtgläubigen», primär fanatische Muslime, die «Ungläubigen», und die Mörder und Märtyrer sind überzeugt, sich damit das Himmelreich zu verdienen.

Tatsächlich sind die meisten gewalttätigen Konflikte heute religiös oder pseudoreligiös motiviert. Weil viele Staaten im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nord- und Westafrika ihren Bürgern wenig Schutz und Identifikationsmöglichkeiten bieten, gewinnt die religiöse Zugehörigkeit an Bedeutung.

Der christliche, muslimische, jüdische oder sonst wie gelagerte Gott könnte die Fanatiker und Gotteskrieger aller Couleur mit einer einfachen Massnahme bändigen: Er müsste sich lediglich in einer Weise offenbaren, die keine Zweifel mehr an seiner Existenz und Identität offenlassen würde.

Denn Gläubige der Buchreligionen (Christen, Muslime und Juden), die sich auf Abraham berufen, erheben den Anspruch, ihr Gott sei der richtige. Sie glauben auch, Gott habe sich sehr wohl offenbart: in der Bibel, dem Koran und der Thora. Sie glauben auch, Gott sei die Liebe. Die Christen zum Beispiel stützen sich auf biblische Aussagen wie: «Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.» (1. Johannes 4,16). Und sie verweisen darauf, dass er aus Liebe seinen Sohn geopfert habe, um uns Menschen zu erlösen.

Da stellt sich die Frage, wie er es aushält, dass der tödliche Kampf um den richtigen Gott Millionen von Menschen ins Elend stürzt. Und weshalb er sich nicht dazu entschliessen kann, sich zu outen und die weltweiten religiösen Konflikte zu entschärfen.

Verschwörungstheoretiker hetzen gegen Flüchtlinge

Hugo Stamm am Samstag, den 9. Januar 2016
German Chancellor Angela Merkel is depicted as "Fatima" by a supporter of the anti-immigration rightwing movement PEGIDA (Patriotic Europeans Against the Islamisation of the West) during their weekly gathering in Dresden, Germany October 26, 2015. REUTERS/Fabrizio Bensch - RTX1TC6C

Ideales Publikum für Verschwörungstheoretiker: Eine Pegida-Demonstration in Dresden. Foto: Reuters

Verschwörungstheoretiker sind meist braun eingefärbte Populisten mit einem sicheren Instinkt für die diffusen Ängste breiter Teile der Bevölkerung. Ihnen ist jedes Mittel recht, die Öffentlichkeit zu beeinflussen oder gar zu manipulieren. Dazu zählt auch die Lüge. Aktuell ist für sie die Flüchtlingswelle eine aufgelegte Steilvorlage, um ihr braunes Süppchen zu kochen.

Das jüngste Beispiel liefert der deutsche Verschwörungstheoretiker Udo Ulfkotte. Für ihn sind die Flüchtlingsströme ein Geschenk des Himmels, um gegen Ausländer, vor allem Muslime, zu hetzen und in der Bevölkerung die Angst vor den Flüchtlingen und dem Fremden allgemein zu schüren. Die Stossrichtung gibt der Titel seines neuen Bestsellers vor: «Die Asylindustrie – Wie Politiker, Journalisten und Sozialverbände von der Flüchtlingswelle profitieren».

Ulfkotte behauptet in einer abenteuerlichen Argumentation, die gigantische Zuwanderung in Deutschland sei schon vor 15 Jahren geplant worden. Die Vereinigten Nationen hätten bereits damals in einem geheimen Bericht die Strategie festgelegt. Er, Ulfkotte, habe das Papier entdeckt, das die barbarische Strategie der UNO entlarve. In diesem, behauptet Ulfkotte, forderten die Vereinten Nationen, Deutschland müsse sich öffnen und 11,4 Millionen Migranten aufnehmen, auch gegen die Widerstände der Bevölkerung. Ausserdem habe die Bundesregierung an einem geheimen Treffen bestätigt, dass sie allein in diesem Jahr mit 16 Millionen neuen Flüchtlingen rechne. Es gibt tatsächlich einen Bericht der UNO-Abteilung für Bevölkerungsfragen aus dem Jahr 2000. Nur: Er ist nicht geheim, sondern wurde damals schon in den Medien kontrovers diskutiert. Ausserdem gab es Pressemitteilungen dazu, und der Bericht wurde auf der Website der UNO publiziert. Also alles schön wissenschaftlich aufgearbeitet und transparent kommuniziert.

Der Bericht enthält auch keine Geheimstrategie, sondern zeichnet lediglich verschiedene Szenarien auf, die wegen der Überalterung der Bevölkerung drohen. Der Bericht rechnet auf, wie viel Einwanderung nötig wäre, um die schrumpfenden Bevölkerungszahlen in Ländern mit niedrigen Geburtenraten in den nächsten Jahrzehnten auszugleichen und die Sozialwerke zu retten. Ein Problem, mit dem auch die Schweiz konfrontiert ist. Es ist also eine Lüge, wenn Ulfkotte behauptet, das Papier plädiere für eine unkontrollierte Einwanderung. Der Autor stellt somit die Aussagen im Bericht völlig auf den Kopf. Der deutsche Journalist Stefan Niggemeier, Experte für Verschwörungstheorien, schreibt dazu, Ulfkotte verfälsche die UNO-Studie in grotesker Weise.

Dreist ist auch Ulfkottes Aussage, die Deutschen müssten in Zukunft bis zum 77. Altersjahr arbeiten, um die Einwanderung finanzieren zu können. «Dabei werden Völker mit dem Segen der UN einfach von anderen verdrängt und ersetzt», schreibt der Verschwörungstheoretiker. Mit dieser Behauptung versetzt er ängstliche und ausländerfeindliche Personen in Angst und Schrecken und stempelt die verhassten Vereinigten Nationen zum Erzfeind. In Wirklichkeit befasst sich die UNO-Analyse mit der Frage, wie die Sozialversicherungen gerettet werden können. Sie kommt zu folgendem Schluss: Entweder werde die Überalterung durch Zuwanderung ausgeglichen, oder das Rentenalter müsse bis 2050 schrittweise auf 77 Jahre angehoben werden. Der Bericht beleuchtet aber auch die Kehrseite einer starken Zuwanderung: eine überhitzte Migration führe zu sozialen Spannungen.

Auch diese Aussage des Berichts verkehrt Ulfkotte in seinem Buch ins Gegenteil. So behauptet er, die deutsche Regierung wolle «den Bevölkerungsaustausch» auch gegen den Widerstand der Bevölkerung erzwingen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das alles diene den Interessen der Industrie.

Als Zeugen für diese Aussage ruft Ulfkotte Jim Yong Kim, Präsident der zur UNO gehörenden Weltbank, auf. Dieser habe im Oktober 2015 verkündet, dass der «Bevölkerungsaustausch» in Europa ein Motor des Wirtschaftswachstums werde. Womit Ulfkotte gleich noch die Kurve zur Hochfinanz kriegt, die für die Verschwörungstheoretiker das Herz der angeblichen geheimen Weltregierung bildet.

Mörder werden im Heiligen Jahr begnadigt

Hugo Stamm am Samstag, den 2. Januar 2016
Der Papst bei der Weihnachtsmesse am 25. Dezember 2015. Foto: L'Osservatore Romano/AP

Wird sein Ablassversprechen dereinst als Anmassung und Sünde bewertet? Der Papst bei der Weihnachtsmesse am 25. Dezember 2015. Foto: L’Osservatore Romano/AP

Die katholische Kirche kämpft seit Jahren mit Imageproblemen. Die negativen Schlagzeilen überwiegen die erfreulichen Meldungen bei weitem: Sexueller Missbrauch, Verschwendungssucht, Skandale bei der Vatikan-Bank, magere Ergebnisse bei der Bischofssynode usw.

Da kommt die Ausrufung des Heiligen Jahres, wie es der Papst an Weihnachten getan hat, zur rechten Zeit. Es gibt der Kurie etwas Luft und ist ein Fest für die Gläubigen. Diese werden Rom 2016 stürmen – es werden 30 Millionen erwartet –, die Stadt wird sich in einen Rummelplatz verwandeln.

Der grösste Anreiz für eine Pilgerreise im Heiligen Jahr, auch Jubeljahr genannt, liegt im versprochenen Ablass. Wer das Ritual erfolgreich absolviert, fährt frei von Sünden heim, wie der Papst verspricht. Egal, ob er ein Kriegsverbrecher, Mörder oder Betrüger ist. Also auch Todsünden werden angeblich getilgt, das Tor zum Himmel öffnet sich nach dem Jüngsten Gericht auch den Verbrechern, wenn sie denn das Ablassritual absolviert haben.

Die Befreiung von den Sünden im Heiligen Jahr ist keine Hexerei. Es braucht keine Wiedergutmachung, keine Fronarbeit für das Reich Gottes, keine Kasteiung mit einer Dornenkrone oder einer Geissel. Die Gläubigen müssen für die grosse Reinigung lediglich die Beichte ablegen, die Kommunion empfangen, das Glaubensbekenntnis ablegen, ein Gebet für den Papst sprechen – hat er das nötig? – und eine heilige Pforte durchschreiten. Die beliebteste befindet sich in der Vorhalle der päpstlichen Basilika von San Giovanni in Laterano in Rom, die normalerweise zugemauert ist, in den Jubeljahren jedoch vom Papst feierlich geöffnet wird.

Heilige Jahre haben in der katholischen Kirche Tradition. Papst Bonifatius VIII. rief im Jahr 1300 zum ersten Mal ein Jubeljahr aus. Meistens fanden diese nach jeweils 25 Jahren statt, diesmal schon nach 15 Jahren. Die Kurie braucht offenbar dringend einen Befreiungsschlag.

Es ist eine der verstörenden religiösen Besonderheiten, dass ein Mensch einen Sündenablass verfügen kann. Pfuscht der Papst damit Gott nicht ins Handwerk? Das Ritual widerspricht dem Gerechtigkeitssinn. Ein Beispiel: Ein Mann, der Ehebruch begangen, den Ablass aber nicht geleistet hat, wird dereinst aus dem Himmel verbannt. Ein Mörder hingegen, der im Jubeljahr rasch durch die Heilige Pforte schlüpfte, findet beim Jüngsten Gericht Gnade.

Ob Gott da mitspielt? Und was ist, wenn sich die Päpste mit dem Ausrufen der Heiligen Jahre verspekuliert haben? Wird vielleicht ihr Ablassversprechen dereinst als Anmassung und Sünde bewertet?

Nimmt man die Bibel als Massstab, könnte dies durchaus passieren. So lesen wir beispielsweise bei Matthäus:

«Ihr Nattern, ihr Schlangenbrut! Wie wollt ihr dem Strafgericht der Hölle entrinnen?» (Mt 23,33)

In einem Korintherbrief heisst es:

«Wisst ihr denn nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber werden das Reich Gottes erben.» (1. Kor 6,9–10)

An anderer Stelle schreibt der Evangelist Matthäus:

«Wie nun das Unkraut aufgesammelt und im Feuer verbrannt wird, so wird es auch am Ende der Welt sein: Der Menschensohn wird seine Engel aussenden und sie werden aus seinem Reich alle zusammenholen, die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben, und werden sie in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt. Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen.» (Mt 13,40–42)

Bei solchen Worten kommen Zweifel auf, ob Gott den billigen Ablass der katholischen Kirche akzeptiert und Betrüger und Mörder begnadigt, die das Ablassritual absolvierten. Denn dieses garantiert ja nicht einmal, dass die Sünder ihre Taten bereuen.

Auch Jesus war ein Flüchtlingskind

Hugo Stamm am Samstag, den 19. Dezember 2015
Hugo Stamm

Überwiegt das Misstrauen oder die Barmherzigkeit? Muslimische Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos am 9. Dezember 2015. Foto: Santi Palacios (Keystone)

Für viele strenggläubige Christen sind die Flüchtlinge aus islamischen Ländern eine doppelte Bedrohung. Einerseits haben sie Ressentiments, weil in einigen islamischen Ländern die Christen verfolgt und teilweise brutal ermordet werden. Auf der andern Seite befürchten sie, dass zugewanderte Muslime die christliche Kultur bedrängen und die Christen in die Minderheit versetzen könnten. Zwar beteuern freikirchliche Verbände und Organisationen unermüdlich, sie würden muslimischen Flüchtlingen mit christlicher Barmherzigkeit begegnen, doch viele Gläubige an der Basis sind mehr als nur skeptisch und haben Angst vor den Folgen der muslimischen Flüchtlingsströme. So neigen nicht wenige dazu, die Terrorakte in Verbindung mit dem Koran zu bringen und Muslime pauschal zu verdächtigen.

Dabei vergessen die frommen Christen gern, dass die Bibel – vor allem das Alte Testament – eine Ansammlung von Geschichten über Verfolgung, Flucht, Migration und Integration in fremden Kulturen ist. Betroffen waren damals die Israeliten, die teilweise ihres Glaubens wegen verfolgt wurden. Und es gab damals schon Wirtschaftsflüchtlinge, denn zu urchristlichen Zeiten mussten Gläubige schon aus wirtschaftlicher Not flüchten, um nicht an Hunger zu sterben.

Der bekannteste Flüchtling aller Zeiten wird in diesen Tagen gefeiert, wir zelebrieren Weihnachten zu seinen Ehren: Auch das Leben von Jesus war geprägt von Verfolgung und Flucht. Maria und Josef mussten flüchten, weil Herodes alle Neugeborenen in Bethlehem töten liess. Sein Tod am Kreuz war der letzte Akt einer religiösen Verfolgung. Auch Israel, das Volk Gottes, war getrieben von der Angst vor Verfolgung. Es floh vor der Unterdrückung nach Ägypten, wo es mehrere Hundert Jahre Asyl bekam. Diese Erfahrung fand unter anderem im Buch Mose ihren Niederschlag. Darin werden die Gläubigen explizit aufgefordert, Fremde zu lieben, denn sie seien selbst auch Fremde gewesen.

Die Bedrohung durch fremde Heilslehren war auch ein Urerlebnis des Volkes Gottes in Israel selbst. Immer wieder versuchten fremde Mächte, ihren Götzendienst zu kultivieren und den Gott Israels zu verdrängen. Nichts von diesem Geist der Bibel will der Baptistenprediger Franklin Graham wissen, einer der bekanntesten und einflussreichsten Prediger Amerikas. Der Sohn des berühmten Kirchenführers Billy Graham hat in diesen Tagen verkündet, Amerika solle einen Einreisestopp für alle Muslime erlassen. Damit eilt er dem polternden Haudegen und Präsidentschaftskandidaten Donald Trump zu Hilfe, der diese radikale Massnahme im Wahlkampf vertritt.

Graham beruft sich auf eine Umfrage, wonach acht Prozent der in den USA lebenden Muslime erklärt hätten, Selbstmordattentate und andere Gewaltakte im Namen des Islam seien manchmal oder oft gerechtfertigt. Graham und viele fromme Christen demonstrieren mit ihrem Generalverdacht gegenüber Muslimen, dass christliche Barmherzigkeit ausserhalb der Kirchenmauern ihre Bedeutung rasch verliert.

Sexueller Missbrauch in buddhistischen Klöstern

Hugo Stamm am Samstag, den 12. Dezember 2015
Buddhist nuns pray at a religious event leading to the festival of lights at Shwedagon pagoda in Yangon, Myanmar on Sunday, Nov. 22, 2015. The festival marks the end of the rainy season and is an occasion for Burmese people to pay their respects in the predominantly Buddhist country. (AP Photo/Hau Dinh)

Buddhistische Nonnen in Yangon, Myanmar. Foto: Hau Dinh (Keystone)

Myanmar, früher Burma, gehört zu den packendsten touristischen Zielen in Asien. Durch die jahrzehntelange Abschottung und den wirtschaftlichen Boykott blieb es bis heute recht ursprünglich. Aber leider auch arm.

Ein grosser Teil der Faszination macht die tief verwurzelte Volksfrömmigkeit aus, die vielleicht nur noch in Bali so ausgeprägt ist. Die immense Zahl der Pagoden und Klöster wird nur noch durch das Heer der buddhistischen Mönche übertroffen. In Myanmar ist die sakrale oder spirituelle Atmosphäre spürbar, wie ich aktuell auf meiner Reise durch das sich seit ein paar Jahren rasch öffnende Land erlebe. Tempel, Klöster und Buddha-Statuen gehören zu den bevorzugten Zielen. Buddhismus sei Dank.

Auf der Reise zeigen sich aber auch Kehrseiten dieser religiösen Philosophie. Auf Schritt und Tritt stolpert der Besucher über Spendenboxen, meist in Form von riesigen Vitrinen. Auf dem Weg hinauf zum Mount Popa zum Beispiel stehen die sperrigen Behälter fast neben jeder Buddha-Statue, in jeder Gebetsnische, in jedem Tempel und hinter jedem Tor.

In einem Tempel auf dem steilen Hügel amtet ein Priester und schlägt mehrere Male sanft einen Geldschein auf den Kopf der Gläubigen. Dazu gibt er einen Singsang von sich. Das Ritual dient dazu, pekuniären Segen zu erlangen. Dazu braucht es aber vorerst eine Investition – in Form einer Spende an den Priester. Und in der Shwezigon-Pagoda in Monywa zähle ich in einem einzigen Raum 27 Spendenboxen, auf dem ganzen Gelände dürften es über 100 sein.

Den grössten Spendentopf – eine riesige Halbkugel – finde ich im Manuha-Tempel in Bagan, dem heiligen Gebiet mit den 4000 antiken Pagoden. Wer seinen Obolus entrichten will, muss das sperrige Teil über eine kleine Leiter erklimmen. Er kann zusehen, wie die Geldscheine auf den Grund der Kugel flattern. Daneben stehen noch mehrere Glasvitrinen, die ebenfalls gut gefüllt sind.

Immerhin profitieren die Mönche vom reichen Segen. Ein Lastwagen voll rotgewandeter Knaben und Männer kommt angebraust. Die Mönche lassen sich ihre Bettelschalen mit Reis füllen. Die malerische Szene wirft aber auch kritische Fragen auf. Warum tragen die Mönche nichts zu ihrer Existenzsicherung bei? Warum wird ihre Identität durch das radikale Schneiden der Haare beschnitten?

So sanft, wie der Buddhismus im Westen dargestellt wird, ist er beileibe nicht. Er kennt eine Reihe böser Dämonen, die Menschen gern foltern. Im Tempel Ananda in Bagan finden sich Bilder mit schaurigen Szenen: Menschen werden in riesigen Töpfen gekocht oder mit dem Schwert gevierteilt.

Das traurigste Kapitel im Buddhismus füllen aber die Geschichten vieler Kindermönche. Burmesische Familien geben oft einen Sohn oder eine Tochter schon als Kind in ein Kloster. Ihr Lebensweg ist meist vorgezeichnet. Somit verlieren sie ihr Selbstbestimmungsrecht. Niemand fragte sie, ob sie ihr Leben mit Betteln verbringen, auf eine Berufskarriere und Familie verzichten und zölibatär leben möchten. Die Praxis verletzt Menschenrechte.

Ausserdem ist es aus pädagogischer Sicht problematisch, Kinder ohne Familie in einer reinen Männergesellschaft aufwachsen zu lassen. Viele kommen fast um vor Heimweh. Ein späterer Austritt aus dem Kloster ist für viele keine Option, denn er wäre mit einer Schmach verbunden.

Und wie überall in geschlossenen Gemeinschaften leiden etliche Kindermönche, seltener auch Mädchen, unter sexuellen Übergriffen. Entsprechende Berichte von ausgestiegenen Mönchen und Nonnen sind erschütternd. Dokumentiert sind auch Razzien in Klöstern – es wurden Porno-Videos gefunden – und Gerichtsberichte über den sexuellen Missbrauch. Die Jugendministerin von Sri Lanka geisselte die pädophilen Übergriffe in manchen Klöstern schon vor ein paar Jahren mit deutlichen Worten. Es gibt auch Berichte, wonach sich Pädophilenringe in Klöster eingeschlichen haben sollen.

Die Verfolgung der Täter ist jedoch schwierig, weil es an Sensibilität und Problembewusstsein fehlt. Bevölkerung und Regierungen schauen lieber weg, weil sie Angst haben vor der Wahrheit und dem Imageschaden, denn die Klöster sind in buddhistischen Ländern heilige Institutionen. Zum Schutz der Kinder braucht es noch viel Aufklärungsarbeit.

Die göttliche Aura des Mondes

Blog-Redaktion am Samstag, den 5. Dezember 2015
vollmond

Zurück aus der religiösen Mottenkiste: Der Mond. (Bild: Keystone)

Unsere Urahnen verehrten die Sonne als göttliche Instanz. Ihnen war schon in grauer Vorzeit bewusst, dass alles Leben vom wärmenden Himmelskörper ausgeht. Auch der Mond wurde in früheren Epochen als nächtliches Pendant zur Sonne und «Nachtwächter» angebetet. Die grosse «Lampe» am Himmel weckte stets mystische Gefühle.

Mit der geistigen Entwicklung und den wissenschaftlichen Erkenntnissen wandelte sich die Bedeutung von Sonne und Mond. Die Astronomie gab uns Einblicke in die Zusammenhänge des Universums und entmystifizierte unsere zentralen Himmelskörper, die ihre religiöse Bedeutung verloren.

Doch nun drehen Anthroposophie und Esoterik das Rad der Zeit wieder zurück. Im Sinne der ewigen Wiederkunft des Gleichen von Friedrich Nietzsche holen sie den Mond aus der religiösen Mottenkiste. Dabei profitieren die beiden spirituellen Geistesströmungen vom Überdruss breiter Bevölkerungsteile gegenüber Wissenschaft und Technik.

Viele Anthroposophen und Esoteriker glauben, der Planet übe eine starke Wirkung auf Mensch und Natur aus. So achten die anthroposophischen Bauern bei der Bestellung der Felder und bei der Aussaat auf die Mondphase, um ihre biologisch-dynamischen Demeter-Produkte zu gewinnen. Rudolf Steiner, der Gründer der Anthroposophie, verlangt es so. Bereits 1924 hatte der Esoteriker seine ungewöhnliche, auf spirituellen und homöopathieähnlichen Erkenntnissen beruhende Anbaumethode dogmatisch festgeschrieben.

Obwohl bisher nicht nachgewiesen werden konnte, dass die Berücksichtigung der Mondphasen zu einer Qualitätssteigerung der Produkte führt, hinterfragen die Anthroposophen die okkult anmutende Methode bis heute nicht. Dabei zeigen schon einfache Fragen das Dilemma: Verändert der Mond die Gene der Pflanzensamen? Beeinflusst das Mondlicht Wachstum und Qualität des Gemüses? Strahlt der Planet eine spirituelle Energie aus? Reagieren Pflanzen auf übersinnliche Kräfte? Wie wirken diese auf die Pflanzen? Kurz: In der Demeter-Methode steckt wohl viel Aberglaube. Angefügt sei aber, dass die anthroposophische Anbaumethode sehr umweltschonend ist.

Noch krasser in die Mondfalle tappen viele Esoteriker, vor allem auch Anhänger der Astrologie, die ihr Leben auf den Mondkalender ausrichten. Ein Blick in einen solchen Kalender offenbart das geistige Bewusstsein der spirituellen Sucher. Aktuell empfiehlt zum Beispiel mondhandy.de bei abnehmendem Mond im Sternzeichen Jungfrau folgende Aktivitäten, die in dieser Phase besonders gut gelingen sollen:

  • Das Entfernen von Zahnstein ist bei abnehmendem Mond besonders günstig.
  • Abnehmender Mond wirkt sich auf Operationen, die nicht dem Mondstand zugeordnete Körperteile betrifft, positiv aus. Nicht zu empfehlen seien folglich Eingriffe an Darm, Milz und Nerven.
  • In dieser Mondphase lässt sich die Hornhaut besonders leicht entfernen.
  • Dauerwellen halten in dieser Phase speziell lang.
  • Die Zeit ist günstig, Haare zu entfernen, denn sie wachsen in diesen Tagen besonders langsam nach.
  • Schuhe lassen sich bei abnehmendem Mond besonders gut und gründlich reinigen.

So ist das mit dem Mond in unseren Tagen. Es macht ihn sicher stolz, dass wir unser Leben nach seinen Phasen ausrichten. Nur: Diese Phasen nimmt er wohl als ganz gewöhnlichen Schatten wahr.

Christen missionieren islamische Flüchtlinge

Hugo Stamm am Samstag, den 28. November 2015
Dem richtigen Gott nahe: Zeugen Jehovas im Zürcher Hallenstadion. (Bild: Steffen Schmidt/Keystone)

Dem richtigen Gott nahe: Zeugen Jehovas im Zürcher Hallenstadion. (Bild: Steffen Schmidt/Keystone)

Terror, kriegerische Auseinandersetzungen, Vertreibungen, Flüchtlingsströme aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Nordafrika: Die apokalyptischen Warnsignale könnten kaum dramatischer sein. So überrascht es nicht, dass das Endzeitfieber in radikalen esoterischen Gruppen und christlichen Gemeinschaften steigt. Die Johannes-Offenbarung, das letzte Buch der Bibel, kündigt die Vorzeichen der Endzeit mit Schreckensbildern an, die an die aktuelle Weltlage erinnern.

Die Flüchtlingsströme aus den islamischen Ländern lösen bei vielen Freikirchen einen zweiten Reflex aus, den Missionsdrang. Da ihr Verhältnis zum Islam gespalten ist und sie in radikalen Staaten verfolgt werden, sehen sie in der aktuellen Situation ihre grosse Chance: Sie müssen ihr Leben nicht mehr im Feindesland aufs Spiel setzen, sondern können die entwurzelten Flüchtlinge hierzulande abholen, sie betreuen und ihnen Jesus schmackhaft machen.

Tatsächlich glauben viele radikale Christen, die internationalen Konflikte seien ganz im Sinne Gottes, denn nun könnten viele verirrte islamische Seelen vor der anbrechenden Endzeit gerettet und dem richtigen Gott zugeführt werden. Dieser Auftrag, in der Bibel explizit festgehalten, hat in apokalyptischen Zeiten eine besondere Bedeutung.

Besonders auch für Zeugen Jehovas der Wachtturmgesellschaft. Sie sind Missionsprofis und haben ein Merkblatt für ihre Brüder und Schwestern herausgegeben. Dieses enthält klare Anweisungen zur Missionierung von Flüchtlingen. So heisst es unter anderem, man solle vor einer Asylunterkunft mit einem Missionsplakat auf und ab gehen, um Flüchtlinge kennen zu lernen. Sinn und Zweck zeigen sich bei der nächsten Empfehlung: «Am besten kommt man an dem Aufsichtspersonal vorbei, wenn man sagen kann, dass man von einem Bewohner direkt eingeladen sei.» Sind die Zeugen Jehovas erst einmal ins Territorium der Heiden eingedrungen, können sie ihre Missionskünste ungehindert anwenden.

In evangelikalen und charismatischen Freikirchen sind die Meinungen bezüglich der Missionierung von Flüchtlingen gespalten. Die freikirchlich ausgerichtete Zeitschrift «Spektrum» fragte deshalb kürzlich: «Gilt der Missionsbefehl Jesu eigentlich auch für Muslime, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen?» Die meisten Leitungsgremien der evangelischen Kirchen, vergleichbar mit unserer Landeskirche, raten zur Zurückhaltung.

Für viele Freikirchen ist der Missionsauftrag aber ein so zentraler Glaubenspfeiler, dass sie keine Ausnahmen kennen. Viele Gläubige befürchten, sündig zu werden, wenn sie die Rekrutierung von Ungläubigen vernachlässigen.

Schwester Rosmarie Götz, Diakonisse der landeskirchlichen Gemeinschaft «Haus Gotteshilfe» in Berlin, lässt sich von sozialen oder politischen Bedenken nicht beirren und hält stramm an der religiösen Prämisse fest: «Natürlich ist die Missionierung die wichtigste Aufgabe. Wozu sonst schickt uns Gott die Flüchtlinge hierher?», erklärt sie. Solche Haltungen stehen oft am Anfang von religiösen Konflikten. Auch im 21. Jahrhundert.

Der Psychiater als Geistheiler

Hugo Stamm am Samstag, den 21. November 2015
Werde mit Jesus verglichen: Der umstrittene Samuel Widmer. (Alessandro Della Bella)

Werde mit Jesus verglichen: Der umstrittene Samuel Widmer. (Alessandro Della Bella)

Das Leben des Lüsslinger Psychiaters Samuel Widmer hing kürzlich an einem dünnen Faden, wie er sich ausdrückte. Als «Guru» der tantrischen Kirschblüten-Gemeinschaft unweit von Solothurn hatte er schwere Stunden hinter sich. Eine Razzia in seinen Privaträumen war der Höhepunkt einer langen Kontroverse um seine Psycholyse, eine Therapie unter Einsatz von Drogen wie LSD und Ecstasy. Die Polizei führte Razzien durch, nahm ihn in die Zange und setzte seinen Sohn vorübergehend in U-Haft. Ein eingeschleuster Reporter des Senders ARD wies nach, dass an den Sitzungen der Kirschblütler Drogen verwendet wurden.

Gegen Widmer und drei Familienangehörige läuft eine Strafuntersuchung. Der «Tages-Anzeiger» hatte aufgedeckt, dass die Gemeinschaft offensichtlich seit vielen Jahren verbotene Psychotherapien mit Drogen durchgeführt und Hunderte Drogentherapeuten ausbildet hatte, die teilweise ihrerseits LSD-Sessions in der Schweiz und Deutschland mit Klienten organisieren. Dabei kam es auch schon zu einem tödlichen Zwischenfall.

Die Razzien und Strafanzeigen setzten Widmer offensichtlich zu. Salven von lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen hätten an seinem Herz gerüttelt und zu einem Herzinfarkt geführt, sagte er. Die Grenzerfahrung löste beim Psychiater aber auch eine übersinnliche Erscheinung aus. Im Spitalbett hörte er eine innere Stimme, die ihm den Auftrag gab, «sich den Menschen künftig auch als Medium für Geistheilung beziehungsweise Heilung durch Liebe für die Behandlung ihrer körperlichen Leiden zur Verfügung zu stellen».

Der 66-jährige Samuel Widmer sah sich immer schon als spiritueller Weltenlehrer, wenn auch als ein verkannter. In einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» sagte er, er sei überzeugt, dass seine Arbeit in 200 Jahren ganz anders beurteilt werde als heute. Aussteiger berichten denn auch, seine Anhänger würden ihn als neuen Messias verehren und mit Jesus vergleichen. Nun hat der Herzinfarkt aus dem spirituellen Meister einen Esoteriker gemacht, der Psychiater bezeichnet sich neu als Medium und legt seinen Klienten die Hände auf.

Die Schilderung seiner spirituellen Metamorphose erinnert an die 86-jährige Uriella. Das «Sprachrohr Gottes» stürzte einst vom Pferd, erlitt Kopfverletzungen und hörte während ihrer Nahtod-Erfahrung eine Stimme, die ihr einen Auftrag gab. Das Resultat ist bekannt: Uriella gründete Fiat Lux, empfing Endzeitbotschaften von Jesus und betätigte sich als Heilerin.

Psychiater Widmer empfängt seit kurzem Patienten, die sich von ihm in ein paar Minuten heilen lassen möchten. Regelmässig führt er zweistündige Heilungssitzungen durch.

Bisher hatte Widmer das Heil in der Drogentherapie, der Inzestfrage und in Tantrakursen gesucht. Der Psychiater sieht nämlich in den Drogen den Schlüssel zur Seele. LSD und Ecstasy sind für ihn Katalysatoren, die die psychische Genesung fördern. Im Angesicht des Todes tritt er nun als Geistheiler auf, um die Menschen körperlich zu kurieren. Er legt zwar immer noch viel Wert auf seinen Status als Psychiater, das wissenschaftliche Territorium hat er aber längst verlassen.