Wie primitiv sind wir eigentlich?

Auf Händen getragen: Ein Gentleman hilft beim Aussteigen aus einer Gondel an der Themse, 1925. Foto: Hulton Archive, Getty Images
Die Messlatte der Höflichkeit hängt niedriger, und öffentliche Äusserungen werden unverschämter. Dies stellte der grossartige John le Carré soeben in einem Interview fest. Der Meister des Politthrillers führte gleich ein paar Beispiele an: dass ein amerikanischer Präsident lauthals mit der Grösse seines Penis blufft. Dass die britische Premierministerin so über den Oppositionsführer redet: «Stellen Sie sich vor, wie Jeremy Corbyn allein und nackt einen Verhandlungsraum betritt. Ein Bild, das zu unerträglich ist, um nur daran zu denken.» Oder dass die alte «Times» of London heute ungerührt Begriffe wie «bugger off» abdruckt, «sich verpissen»: All das signalisierte für le Carré doch einen erstaunlichen Wandel.
Man las es und wog anerkennend den Kopf: hat was. Eine gewisse Verschiebung zum Vulgären, eine Aufweichung der Schamgrenzen ist ja wirklich unübersehbar. Viele bemerken es, und nur wenige stehen der Sache so locker gegenüber wie John le Carré. Der meinte im erwähnten NZZ-Interview ganz fröhlich: «Vielleicht klärt das in mancher Hinsicht auch die Luft, und die Heuchelei kommt aus der Mode.»
Das Oben-ohne-Paradox
Hat das wirklich was? Es liesse sich doch auch das Gegenteil behaupten: Wir sind heute in vielem kontrollierter, gebremster, vielleicht auch gehemmter als noch vor einem viertel, einem halben oder gar einem ganzen Jahrhundert. Wir tratschen zwar über die Detailmasse von Kim Kardashians Hintern, aber keine Frau wagt sich noch oben ohne auf die Badiwiese. Dass sich die Kinder auf dem Pausenplatz verprügeln, dass Autoraser rasen oder dass Fussball-Ultras im Stadion mit dem Feuer spielen, war noch vor wenigen Jahrzehnten eine halbwegs tolerierte Normalität. Aber wer traut sich heute noch, einen Zigarettenstummel auf den Boden zu werfen?
Still und leise verschieben sich also die Grenzen. Aber wohin? Die Frage dreht sich um den Prozess der Zivilisation. Dieser Begriff wurde geprägt von Norbert Elias (1897–1990). Der grosse Soziologe zeigte für Europa eine tausendjährige Entwicklung nach, in welcher die Menschen immer manierlicher und selbstbeherrschter wurden: Sie bauten stetig engere Scham- und höhere Peinlichkeitsschwellen auf. Sie kontrollierten ihre Triebe mehr und mehr. Sie begannen, mit Messer und Gabel zu essen und bemühten sich, dabei seltener zu rülpsen. Kurz: Sie versuchten von Generation zu Generation, ihre Affekte und Gefühle ein bisschen besser unter Kontrolle zu kriegen.
Und so benimmt sich jeder Teenager des 21. Jahrhunderts vornehmer als eine Königin des Mittelalters, und jeden vornehmen Herrn des 16. oder 18. Jahrhunderts empfänden wir heute als ausgemachten Schweinehund.
Weniger Gewalt, mehr Höflichkeit
Hier lässt sich nicht en détail ausbreiten, welche subtilen Verschiebungen Norbert Elias nachwies, indem er beispielsweise Manieren-und-Etikette-Ratgeber vergangener Zeiten verglich. Jedenfalls gelangte der Kulturphilosoph zur These, dass der einzelne Mensch immer stärker von anderen abhängig wurde, womit immer feinere Verbindungsketten entstanden. Zugleich erhielt der Staat das Monopol über die Gewalt: Das Individuum musste seltener selbst zuschlagen. Beides verlangte, dass sich die Europäer stärker unter Kontrolle haben, dass sie eher Rücksicht nehmen: dass sie höflicher wurden. Was mit der Zeit auch die Persönlichkeitsstrukturen veränderte.
Dass wir alle ein bisschen zivilisierter wurden, war natürlich eine unsäglich langsame Entwicklung in sehr fernen Zeiten. Und gerade verlief sie auch nicht, sondern voller Kurven und Rückschläge. Gerade Norbert Elias stellte dies sehr genau fest – weshalb er später dem Mega-Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus Hunderte Seiten Analyse widmete.
Was wurde aus den Wirtshausschlägereien?
Hin und her – aber wohin läuft die Entwicklung heute? Es gibt keine Wirtshausschlägereien mehr (was zu Grossvaters Zeiten noch alltäglich war). Mobbing gilt als böse. Und der Kondukteur schimpft einen ungebührlichen Halbstarken nicht mehr einfach Schafseckel, sondern schickt notfalls die konfliktgeschulten Herren von der Security vorbei. Andererseits scheinen viele Menschen ihre Affekte wieder weniger unter Kontrolle zu haben, Regeln der Etikette gehen wieder vergessen. Wir sehen es dauernd in den Social Media. Wir spüren es mittlerweile auch in der Politik.
So veröffentlichte ausgerechnet die «Times» – «bugger off» – heute einen Leitartikel mit dem Titel: «Wie wir zu einer schamlosen Gesellschaft wurden». Die Diagnose: In der hyper-individualistischen Kultur des Westens wurde es unzulässig, andere zu beschämen. Anything goes, auch Peinlichkeiten.
Schamlosigkeit statt Kontrolle und Selbstbeherrschung? Oder sind wir in Wahrheit nur sensibler und bauschen jedes Zivilisationsbrüchlein furchtbar auf?
Die Antwort entscheidet viel darüber, ob wir uns über politische Unflätigkeiten und alltägliche Frechheiten aufregen sollen – oder ob wir sie besser mit der britischen Gelassenheit eines John le Carré missachten.
Also: Werden wir jetzt unzivilisierter – oder doch nicht? Was meinen Sie?
14 Kommentare zu «Wie primitiv sind wir eigentlich?»
Im Kern ist der Menschen heute doch genau so unflätig wie eh und je. Viele Moralvorstellungen haben sich einfach nur verschoben oder pervetiert.
Während man sich früher auch unter „normalos“ schneller mal Physisch einen auf den Deckel gab, so ruiniert man sich heute wegen jedem bisschen auf dem juristischen Weg. Beides ist sehr unangenehm.
Während früher die Kinder körperlich gezüchtigt wurden und sich die Frauen keusch kleideten, so wird heute die Freizügigkeit toleriert und physische Gewalt verurteilt. Während in so mancher vergangener Epoche der Stammbaum die Elite definiert hat, welche die anderen ausbeuten darf, so ist es heute das Bankkonto.
Herr Muri, aber echt jetzt! Kim Jong Un ist schlicht ein Monster, gemäss Ihrem früheren Kommentar, Zitat „Aber informieren Sie sich doch bitte selber statt nur so aus Prinzip an der Nützlichkeit von etwas Reflexion zu zweifeln“.
Lesen Sie ein wenig über die Arbeitslager in Nordkorea, über die Giftmorde, über das geknechtete und verhungernde Volk.
Was ermutigt Sie zu der Ansicht, Kim Jong Un sei mehr als nur eine Marionette?
ES galt früher wie Heute
Aussen fix und innen nix
Der Trumpy ist das Paradebeispiel
Ein US-Präsident sollte weder nach „aussen“ noch nach „innen“, sondern allein nach dem Ergebnis seiner vierjährigen Amtszeit beurteilt werden (und relevant ist einzig die Beurteilung durch den US-Stimmbürger). Dafür ist es gegenwärtig noch viel zu früh. Den Privatmann Trump mögen Sie meinetwegen schon heute beurteilen, so lange Sie wollen. Nur ist das schon heute für die meisten Leute irrelevant, da die allermeisten ihn Beurteilenden ihn überhaupt nicht kennen, und er sie genausowenig. Beurteilen Sie doch lieber die moralischen Qualitäten des Mondes. den kann wenigstens jeder sehen.
Herr Knickli
alle oben die irgendwie Vorbilder sein sollten,
nur nach ihrer Leistung zu beurteilen ?
Wir wollen sehen ob nach 4 Jahren Trumpy
Friede, Freude, Eierkuchen herrscht .Mir ist es
eigentlich egal, weil vermutlich nicht mehr
anwesend.
Dass Sie sich zur Beantwortung dieser Frage das subjektive Urteil von Leserinnen und Lesern konsultieren und das Ergebnis dann veröffentlichen, ist Ausdruck einer wichtigen Dimension der Primitivisierung des Öffentlichen Lebens. Während die Welt in jeder Hinsicht immer komplexer wird und ihr Verstehen nach mehr Sachverstand verlangt, prämieren wir mehr und mehr das subjektive (intuitive) Urteil, womöglich öffentlich vorgetragen in einer sprachlich schon fast unerträglich primitiven und gedanklich armseligen Form. Heute werden Menschen, die nicht mehr können als das, mitunter zu Präsidenten mächtiger Staaten gemacht, wohlverstanden, um es in der Welt zum Besseren zu richten. Dass das nicht gut gehen kann, wird eigentlich (fast) jedem und jeder wenigstens beim zweiten Gedanken einleuchten.
Realität ist oft die beste Satire. Kleiner Hinweis: schauen Sie mal nach, was der vereinte infernalische Pressemob, also auch Ihre Kollegen von der SZ, so täglich gegen den gewählten Präsidenten der USA vom Stapel lässt, weil der Politik für die kleinen Leute und ein wenig Frieden machen will.
Eine Nummer kleiner: Suchen Sie die Beiträge Ihrer Kollegen über Jeremy Corbyn heraus, aber bitte die vor 2017.
Und jetzt ernsthaft: wären die verbrecherischen Rohstoffkriege der letzten Jahrzehnte mit ihren Millionen Toten ohne unsere vulgäre Verdummungs- und Hetzpresse möglich gewesen? Mit Sicherheit nicht.
Politik für die kleinen Leute? Meinen Sie die 20 Millionen, die mit Trumpcare ihren Versicherungsschutz verlieren würden?
@Muri: es wäre nett, wenn Sie ein Beispiel dafür geben könnten, wo Trump Politik für die kleinen Leute macht. Bisher geht seine Politik doch ausschliesslich auf Kosten der kleinen Leute.
@florian:
data.bls.gov/timeseries/CES0000000001?output_view=net_1mth
473.000 neue Jobs 2017, die ganz real sind – im Gegensatz zum Deep-State-choreographierten Mobstergeschrei unserer „Qualitätsmedien“, die schon längst den Kontakt zur Realität der meisten Menschen verloren haben.
Aber informieren Sie sich doch bitte selber statt nur so aus Prinzip an der Nützlichkeit von etwas Reflexion zu zweifeln.
@Muri: Trump – «ein wenig Frieden machen» – Das meinen sie jetzt aber nicht ernst? Ein massiver Luftschlag in Syrien, Kommandomissionen im Jemen, riesige Rüstungslieferungen an die Saudis, ein Flugzeugträger vor Nordkoreas Küste, wüste Kriegsrhetorik gegen den Iran und jede Menge Aufträgen an die US-Rüstungsindustrie. Wenn das Friede ist, dann kriegt Kim Jong-un tatsächlich den nächsten Friedensnobelpreis.
Nun, im Gegensatz zum heiligen Obama hat Kim Jong Un weder anderes Land angegriffen noch Zehntausende per Drohne töten lassen. Obama ht allein im letzten Halbjahr 26.000 Bomben abwerfen lassen – dagegen ist Kim Jong Un ein Vorbild an friedlicher Anständigkeit.
Trump will mit Russland gut auskommen, was auch im höchsten Interesse Europas ist – und eben nicht, wie die üblichen, aus dem kalten Krieg bestens bekannten Verdächtigen mit unserer Presse im Verbund, aus Russland ein riesiges, atomar verseuchtes Libyen machen.
@Albert Muri: Trump hat bereit im Januar den Drohnenkrieg ausgedehnt und der CIA erweiterte Befugnisse für Angriffe auf Terrorverdächtige erteilt. Unter Obama hatte nur die Armee diese Befugnisse. Wenn sie Trumps Kurswechsel für die Saudis und die Russen, und gegen den Iran begrüssen, dann schreiben sie das, aber machen sie Trump nicht zum Friedensapostel.