Der Sound der Schweiz
Irischer Folk hatte und hat den Hauch des Rebellischen – gegen die imperialistischen Briten, für politische Eigenständigkeit. Ähnlich verhält es sich mit der Volksmusik der Basken, Katalanen oder Sarden. Der gemeine Franzose ist stolz auf die landeseigene Folklore; sie gehört genauso zu seiner nationalen Identität, wie sie das in den Ländern Ostmitteleuropas tut. Selbst die Musik einer Volksgruppe wie der Roma, die in Ungarn aus politischen Gründen wenig Grund zum fröhlichen Singen haben, wird als Teil des nationalen Kulturguts wahrgenommen – «Zigeunermusik aus der Puszta».
Anders verhält es sich mit der Folklore in der Schweiz, dem Jodel im Speziellen. Zwar pflegen zahlreiche Musikgruppen die Tradition mit viel Engagement, besonders in der Zentral- und Ostschweiz sowie dem Berner Oberland. Aber die urbane Bevölkerung hat ihre liebe Mühe damit und identifiziert sich mit dem Jodeln kulturell kaum: «Hinterwäldlerisch» oder «kitschig» lauten die Attribute, die schnell einmal fallen.
Die Walliser kamen erst spät
Dabei hätte der Schweizer Jodel kulturgeschichtlich mehr Anerkennung verdient, denn er hat etliches zur helvetischen Staatsfindung beigetragen. Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte die Volksmusik einen Aufschwung, besonders mit den Kompositionen zahlreicher Jodellieder, die diesen Gesang popularisierten. Die Schweiz war damals kein gefestigter Nationalstaat, sie war vielmehr von religiösen wie gesellschaftlichen Verwerfungen gebeutelt. Da waren kulturelle Projektionsflächen gerade recht, um an gemeinsame Wurzeln zu erinnern oder diese zu schaffen. Dies, selbst wenn der Jodel nicht im gesamten Schweizer Alpenraum eine Tradition hatte: Bündner und Walliser Bergler fanden erst spät zum Jodelgesang und kennen keinen eigenständigen lokalen Jodel.
Dennoch entdeckten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unternehmerisch denkende Einheimische die kommerzielle Seite des Jodelns: Die Schweiz war Sehnsuchtsort für Deutsche und Engländer; sie suchten die heile, unschuldige Bergwelt. Ihnen liessen sich halbindustriell angefertigte Souvenirs wie angebliche Älpler-Stoffe, Töpfereien und Schmuck andrehen, die in zahlreichen Manufakturen etwa des Berner Oberlands hergestellt wurden.
Der jodelnde Schwede
Dabei war der Jodel im Ausland viel verbreiteter, als man denken könnte und als es den ausländischen Besuchern damals bewusst war. In weiten Teilen des ländlichen Deutschland wird bis heute gejodelt, etwa in Thüringen und Bayern; die Skandinavier kennen beispielsweise einen ähnlichen Kehlkopfschlag wie die Schweizer, auch wenn der jodelnde Schwede uns eher ungewöhnlich erscheint.
Mit andern Worten: Der Jodel war nie typisch schweizerisch, aber er wurde im 19. Jahrhundert von den meisten Touristen so verstanden. Das reichte.
Weshalb der Jodlerverband 1910 entstand
Ähnlich war es in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als sich das nationalistische Gift in Europa verbreitete. Die Schweiz stand wieder vor einer Zerreissprobe, diesmal nicht aus religiösen, dafür aus sprachlichen Gründen. Da bekam die identitätsstiftende Kultur plötzlich erneut eine neue Bedeutung; 1910 wurde der Eidgenössische Jodlerverband gegründet.
Eine Generation später war das Land mit der nationalsozialistischen Bedrohung konfrontiert. Der Jodel gehörte damals mehr denn je zum kulturellen Alltag, ohne dass jemand die Nase gerümpft hätte, verankert im kollektiven «Landi-Geist», der Landessausstellung von 1939 in Zürich. Da störte es niemanden, dass dieser Gesang just auch im totalitären Deutschland sehr populär war.
Natürlich haben sich die heimischen Jodler den mancherorts spürbaren Argwohn teils selbst zuzuschreiben. Die Texte von Jodelliedern sind oft banal, um nicht zu sagen kindisch. Dabei hat es stets Musiker gegeben, welche die künstlerische Substanz des Jodels erkannten und ihn weiterentwickelten. Die Berner Interpretin Christine Lauterburg hat sich der Schweizer Volksmusik verschrieben. Oder der Appenzeller Noldi Alder wagte sich an alle möglichen Experimente mit den traditionellen schweizerischen und den avantgardistischen Musikformen: Da winkt musikalisch Inspirierten ein grosses Entfaltungspotenzial, auch wenn der Jodel heute seine politische Einigungskraft verloren hat.
7 Kommentare zu «Der Sound der Schweiz»
Mit dem Text von Rolf Hürzeler bin ich nur teilweise einverstanden. Jodel hat nichts mit „hinterwälderisch, kitschig, SVP etc.“ zu tun. Jodel ist erlernbar sogar für Städter, eine Gesangskunst der besonderen Art. Bergler erlernen sie von Kindsbeinen an, beim Heranlocken der Kühe. Ein Naturjutz geht unter die Haut, ist einzigartig und passend in unserer Berwelt, aber lässt auch und Städter nicht kalt, wenn er ertönt. Leider überaltern unsere Jodlerklubs in den Städten. Doch schauen Sie sich im Oberland um: Dort wächst der Zulauf bei den Jodlern, Jutze und immer neue, anspruchsvolle Lieder werden gesungen! Eine neue, kreative Art und Interpretation des Jodels entsteht, Musicals, Messen gewinnen Zuhörer.
Das Eidg. Jodlerfest mit 1600 Vorträgen war ein Traum! Jodel und Jutz sei Dank!
Bezüglich Jodeln gäbe es noch viel zu entdecken. Auch der „transfer“ in die USA scheint äusserst interessant zu sein. Hierzu ein Artikel auf Englisch: http://www.hillbilly-music.com/groups/story/index.php?groupid=12066
Ich liebe den Naturjodel, wie er z.B. im Toggenburg gesungen wird. Vor Jahren habe ich einen wunderschönen Film darüber gesehen. Peter Roth wurde darin portraitiert. Was mir weniger gefällt, sind die Jodellieder mit den viel zu vielen Strophen, deren Inhalt mir meist zu schwülstig ist.
Da sind einige alternative Fakten im Text; etwas schade für einen Artikel, der sich als „historisch“ ausgibt:
Können Sie mir ein Beispiel geben für die „zahlreichen Jodellieder aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“? Es gibt keine; das Jodellied in der Schweiz ist eine Erfindung des 20. Jhdts. (Oskar Friedrich Schmalz, Bi üs im Bärnerland, 1913)
Im 19. Jhdt galt das Jodeln als typische Tiroler Spezialität. Der Ausdruck „tirolern“ war gleichbedeutend mit „jodeln“. Erst im 20. Jhdt kippte dieses Bild und das Jodeln wurde – v.a. in den USA – zunehmend als typisch schweizerisch wahrgenommen.
Eine zwar gut erzählte, einleuchtende, aber ziemlich frei erfundene Darstellung der Entstehung des Jodelns in der Schweiz…
Es gab aber schon früh, wahrscheinlich durch germanische Einwanderung im Frühmittelalter einen Jodel, der war jedoch scheints anders wie was wir heute kennen! Der Naturjodel in der Ostschweiz soll das Relikt sein. Der moderne Jodel sei scheints von den Städtern und Jenischen (in Verbindung mit Ländler) beeinflusst worden. Wie der Jodel effektiv entstand steht oben leider nirgends. Interessant scheint mir hier, dass die SVP auch hier wieder fremdem Kulturgut inbrünstig huldigt und es als urschweizerisch verkauft. Beim Alphorn wäre ich eher einverstanden. Obwohl vor 3000 Jahren in Eurasien in diversen Formen weit verbreitet und der Ursprung evtl. auch nicht in Europa.
@Ronniem König: Genau, das habe ich mir auch gedacht. Guter Artikel, könnte aber noch ein bisschen ausführlicher sein. Insbesondere, was eben den „untemperierten“ Naturjodel- welcher mir viel besser gefällt, als der „SVP-Jodel“ angeht. Und all das wirklich wunderbare was Christine Lauterburg gemacht hat und macht, würde ich sogar nur noch als „Volksmusik“ im weitesten Sinne bezeichnen, eher als „Weltmusik“.
Bin gerade in Brig und habe das Gefühl in einer musikalischen Endlosschlaufe zu stecken.