Der Mythos von Amerikas frommen Gründervätern

Die Aussicht auf Profit dürfte bei der Besiedlung der USA eine weit grössere Rolle gespielt haben als religiöse Utopien.
History Reloaded

«Die Landung der Puritaner in Amerika», Gemälde von Antonio Gisbert aus dem Jahr 1883. Foto: Senado de España

Eine Gruppe gottesfürchtiger Pilger legte Anfang September 1620 mit einem Dreimaster von Plymouth ab. Sie wollten in Nordamerika eine neue Gemeinschaft aufbauen, die auf Gleichheit, Brüderlichkeit und Gottes Wort beruhen sollte. So fromm ist die Legende von der Mayflower, deren Geschichte für den Beginn der englischen Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents steht.

Dumm nur, dass die Mayflower vor 400 Jahren keine Ratte interessierte, als sie im November in Cape Cod (Massachusetts) landete. Zahlreiche europäische Siedlungen hatten sich bereits an der nordamerikanischen Küste etabliert. Zwei Drittel dieser Auswanderer waren sehr diesseitig orientiert und suchten vor allem ein sicheres Auskommen oder, noch besser, Reichtum – genauso wie die meisten Passagiere der Mayflower. Nur eine Minderheit der 102 Auswanderer auf dem Schiff waren fundamental-christliche Zeloten, die sich nach einem Gottesstaat sehnten. Die meisten der Mayflower-Abenteurer würden heute als Wirtschaftsflüchtlinge durchgehen, die dem damals verarmten England den Rücken kehrten. Zu diesem Schluss kommen der amerikanische Historiker John Butman und der englische Publizist Simon Targett in ihrem lesenswerten Buch «New World, Inc.».

Zu schön, um nicht wahr zu sein

Die tief gespaltene US-amerikanische Gesellschaft brauchte im 19. Jahrhundert dringend eine Legitimation wie die Mayflower für ihr Staatswesen. Da bot sich die religiöse Vorsehung an; zumal pietistische Bewegungen wie die Mormonen damals mehr denn je angesagt waren. Diesen Zeitgeist spürte etwa der Politiker und nachmalige US-Aussenminister Daniel Webster (1782–1852). Er schwärmte 1820 an dem angeblich exakten Landungsort von den frommen Urvätern aus dem englischen Plymouth: «Wir sind heute an diesem Felsen zusammengekommen, um unsere Pilgerväter zu ehren, ihren Leiden Tribut zu zollen und ihnen zu danken …» Denn sie lebten gemäss Webster das Ideal einer freien Gesellschaft nach dem Gebot der Gleichheit, wie es die Französische Revolution propagiert hatte.

Staatsmann Daniel Webster erkannte das Potenzial der Mayflower-Geschichte. Foto: Getty

Schön wärs. Die Fundamentalisten der Mayflower setzten in Wirklichkeit auf einen autoritären Gottesstaat, in dem alle, wie damals allgemein üblich, an sechs Tagen in der Woche unentgeltlich für die Gemeinschaft zu arbeiten hatten. Nach weniger als drei Jahren lag das utopische Unternehmen in Trümmern. Die Frommen hatten sich heillos zerstritten, was das Schicksal mit schlechten Ernten zusätzlich bestrafte. Governor William Bradford beschrieb den Niedergang ausführlich in seinen Aufzeichnungen «Of Plymouth Plantation», die lange Zeit verloren waren und erst Mitte des 19. Jahrhunderts in London auftauchten. Sie konnten dem frommen Ruf der Mayflower-Pilger nicht mehr schaden. Er war so gut in der angloamerikanischen Gedankenwelt verankert wie damals die Legenden rund um die Gründung der Eidgenossenschaft in den Schweizer Köpfen.

Lösung der «sozialen Frage»

Auch der französische Staatskundler Alexis de Tocqueville (1805–1859) würdigte die Demut der Gottesfürchtigen. Er spielte sie gegen die südlichen Siedler in Jamestown (Virginia) aus, die lediglich der Gier wegen zu den neuen Ufern aufgebrochen seien. Oder besser aus materieller Verzweiflung, denn wirtschaftliche Perspektiven in Europa hatten auch diese nicht.

Die Mayflower-Reisenden profitierten von der finanziellen Unterstützung begüterter Handelsleute, in deren Auftrag sie neue Märkte erschliessen sollten. Auch die englische Krone hatte ein Interesse an ihrem Auszug. Ähnlich wie in der Schweiz hoffte man dadurch, «die soziale Frage» zu lösen.

Bleibt die Frage nach der Atlantik-Überquerung von Greta Thunberg. Vielleicht findet diese in einigen Jahre neue Beachtung – als ein Zeichen für politische Veränderung, welcher Art auch immer.

4 Kommentare zu «Der Mythos von Amerikas frommen Gründervätern»

  • Kathrin Remund sagt:

    „pietistische Bewegungen wie die Mormonen“… oh je. Ich glaube, mein Kirchengeschichtsprofessor selig würde sich glatt im Grab umdrehen ab dieser Aussage. Pietisten gibt es in allen möglichen Spielarten, aber die Mormonen gehören ganz bestimmt nicht dazu 😀

  • Rolf Rothacher sagt:

    Gretas Trip in einen Vergleich mit der Mayflower zu ziehen, ist lächerlich. Nein, ihr Segeltörn wird höchstens als ein CO2-Vergehen in Erinnerung bleiben, eine Verzweiflungstat eines authistischen Mädchens mit ihren Eltern, um sein Publikum zu bedienen.
    Vor allem aber hätte die Schweiz (wie jedes andere Land) genug mit sich selber zu tun, um all die Lügen in ihren eigenen Mythen aufzuklären. Doch besser, man schaut sich dafür beim politisch verhassten Gegner um 😉
    Es ist richtig, wenn US-Historiker die US-Historie aufarbeiten und Erklärungen für ein US-Publikum finden. Es ist sinnfrei, wenn man diese Erkenntnisse irgendwo sonst auf der Welt verbreitet. Das ist nichts anderes als billig Polemik gegen ein anderes Land.

    • Lukas O. Bendel sagt:

      Anderer Artikel und wieder dieselbe, verblendete Wut in einem Kommentar von Ihnen:
      > Der Autor weisst zwei Mal auf die ebenso haltlosen Schweizer Legenden und die wahren Beweggründe dahinter hin.
      > Schon immer konnte der Mensch aus den offensichtlichen Fehlern anderer besser für sich selber lernen (auch um die eigenen Fehler zu überwinden); teils durfte auch gar nicht auf die Fehler im eigenen Lebensbereich hingewiesen werden (die NZZ durfte anfangs nicht über Zürcher Politik berichten – rapportierte aber detailliert über den Bastille-Sturm 1789; de la Fontaine vermenschlichte Tiere; …). Wenn es denn bei sich hilft, sind auch kritische Bericht über fremde Staaten zulässig – und wenn es nicht Ihnen hilft, dann doch sicher vielen anderen.

    • M. Cesna sagt:

      Man flucht hier immer noch über die bösen Habsburger, dass die eigenen Landvögte die Bevölkerung auch nicht viel besser behandelt haben, wird dann lieber verschwiegen. So wurden die Jungen als Landsknechte ins Ausland verhökert, in manchen Teilen wegen schreiender Armut sogar die Kinder nach Italien verkauft.
      Aber das religiöse „Wohlstandsevangelium“ (Wen Gott liebt, den macht er reich, der Arme ist daher des Teufels) ist hier zur Staatsdoktrin geworden bis zum Neokapitalismus, ähnlich den USA heute.

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