Zwei Frauen, die die Kirche veränderten

Endlich vollwertige Pfarrerinnen: Ordination von zwölf Theologinnen am 17. November 1963 im Zuercher Grossmünster. Foto: Keystone
Am 1. Januar 1519 bestieg Zwingli erstmals die Kanzel des Zürcher Grossmünsters – der Beginn der Reformation. Am Sonntag, 3. August 1919 – also vor 100 Jahren – bestieg wieder eine Persönlichkeit die Grossmünster-Kanzel: Rosa Gutknecht, die erste Pfarrerin am Grossmünster. Seit 1919 gibt es Pfarrerinnen bei den Schweizer Reformierten.
Rosa Gutknecht (1885–1959) hat als erste Schweizerin Theologie studiert. Ein halbes Jahr später schloss Elise Pfister (1886-1944) das Studium ab. Am 27. Oktober 1918 wurden die beiden früheren Primarlehrerinnen zusammen mit vier Männern im Zürcher St. Peter zum Pfarramt einer Landeskirche ordiniert – als erste Frauen europaweit. Der «Tages-Anzeiger» ging kurz darauf ein:

«Zu der prächtig renovierten Stadtkirche zu St. Peter erteilte am Sonntag Herr Kirchenrat Pfarrer Sutz an sechs Kandidaten und Kandidatinnen der Theologie die Ordination. Verzeihliche Neugierde konzentrierte sich hier namentlich um die Letzteren, die Fräuleins Gutknecht von Neftenbach und Pfister von Horgen.»: Ausschnitt aus dem «Tages-Anzeiger» vom 29. Oktober 1918.
Heute würde man das bestimmt anders formulieren – doch der «Tages-Anzeiger» ging als einzige Tageszeitung auf die erste Frauenordination ein. Das historische Ereignis spielte sich fern des öffentlichen Interesses ab. Das kurz zuvor aufgehobene Versammlungsverbot wegen der Grippeepidemie wirkte immer noch nach.
Gleichstellung erst 1963
Viel wichtiger war jedoch, dass beide Theologinnen 1919 ins Pfarramt traten, zuerst Elise Pfister in Zürich-Neumünster, ein halbes Jahr später Rosa Gutknecht am Grossmünster. Die offizielle Amtsbezeichnung war Pfarrhelferin, sie selber sahen sich als «weibliche Pfarrer unter dem Namen Pfarrhelferin», und die Gemeindeglieder sprachen anerkennend von ihrer «Fräulein Pfarrer». Beide amteten auf gemeindeeigenen Pfarrstellen und predigten regelmässig. Später kamen Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen und Konfirmationen hinzu – praktisch alle pfarramtlichen Aufgaben. Gutknecht hätte gerne mehr Gottesdienste und weniger Sozial- und Verwaltungsarbeit ausgeführt.
1963 wurden im Kanton Zürich die Pfarrerinnen den Pfarrern gleichgestellt. Vorher konnten sie nicht auf die vom Kanton (höher) besoldeten Pfarrstellen gewählt werden. Dazu hätten die stimmberechtigten Männer einer Gesetzesänderung zustimmen müssen. Das blieb in der Männerdemokratie jahrzehntelang völlig illusorisch. Die Einführung des kantonalen Frauenstimmrechts beispielsweise gelang erst 1970 im achten Anlauf.
Um die Volksabstimmung zu umgehen, wollte die reformierte Zürcher Kirche die Kirchenordnung ändern und so Frauen auf die staatlichen Pfarrstellen zulassen. Doch der Regierungsrat verweigerte 1921 die erforderliche Zustimmung, und das Bundesgericht deckte diesen Entscheid. Die Kirchenpflege Neumünster hatte an das höchste Schweizer Gericht rekurriert, weil sie Elise Pfister für eine solche Pfarrstelle vorsah.
«Feminisierung» der Religion
In den reformierten Kantonalkirchen der Schweiz wirkten zwischen 1919 und der Gleichstellung in den 1960er-Jahren lediglich 48 Frauen im Pfarramt. Viel zu wenige Kirchgemeinden waren bereit, zusätzliche gemeindeeigene Pfarrstellen für Theologinnen zu schaffen. Dabei verrichteten diese ausgezeichnete Arbeit und wurden von den Gemeindegliedern sehr geschätzt. Widerstand kam vor allem von ein paar kantonalen Kirchenbehörden, die den Theologinnen jegliche pfarramtliche Tätigkeit verweigerten oder den Handlungsspielraum möglichst einschränkten. Auch einige Pfarrherren verhielten sich äusserst unkollegial, wenn sie ihnen etwa die Feier des Abendmahlsgottesdienstes untersagten.
Keine Kirchenbehörde wagte es, gegen dieses willkürliche Verhalten einzuschreiten. Schliesslich waren auch in anderen Kantonen die Stimmberechtigten noch nicht bereit, Pfarrerinnen wie Pfarrer zuzulassen. In keinem andern Beruf war die Zulassung von Frauen so umstritten, wurde so hitzig darüber diskutiert und mussten sogar Volksabstimmungen darüber entscheiden.
1961 lag der Frauenanteil im Pfarramt erst bei 1,3 Prozent. Mit der Einführung der Gleichstellung wurde es möglich, Theologinnen auch in Kirchgemeinden mit nur einer Pfarrstelle zu wählen. Nun kletterte der Frauenanteil bis 1999 auf 21,5 und betrug Anfang 2018 40,4 Prozent. Diesen Anstieg empfanden einige Kirchenoberen als so rasant, dass sie meinten, vor einer Feminisierung warnen zu müssen.
Wegbereiterinnen der Emanzipation
100 Jahre Frauen im Pfarramt brachten viel Veränderung. Viele Frauen fanden leichter Zugang zu einer Seelsorgerin. Pfarrerinnen boten bewusst Veranstaltungen für ein weibliches Publikum an. Die Kirche präsentiert sich seither bunter, aufregender und spirituell reicher.
Pfarrerinnen standen auf der Kanzel, bevor die ersten 1.-August-Rednerinnen die Rednerkanzel bestiegen. Während Jahrzehnten waren sie praktisch die einzigen Frauen, die im öffentlichen Raum auftraten. 1963 schrieb eine Frau an eine frühe Pfarrerin: «Du warst bahnbrechend für uns Frauen.» Und eine andere meinte rückblickend, dass die Zeit mit «Fräulein Pfarrer» für viele «grundlegend für den späteren Einsatz für die Gleichberechtigung von Mann und Frau» geworden sei. Die Pfarrerin – eine frühe Wegbereiterin der Frauenemanzipation.
Zwingli und die Reformatoren wurden schweizweit ein ganzes Jahr lang gefeiert. Elise Pfister, Rosa Gutknecht und ihre Nachfolgerinnen gingen dagegen (fast) vergessen.
5 Kommentare zu «Zwei Frauen, die die Kirche veränderten»
Ich bin so eine! Dank der Kirchlich Theologischen Schule in Basel konnte ich nach der Ausbildung zur Lehrerin Theologie studieren (1968). Wir waren wohl der erste Jahrgang mit vielen Frauen. Und schon während des Studiums stellte ich fest, dass wir Frauen fähig waren. Ordiniert wurde ich in Schaffhausen, wobei der fromme Teil der Gemeinde absent blieb. Ich amtierte in der Zentralschweiz und übernahm trotz Familie mit 2 Kindern alle mir zugetragenen Leitungsaufgaben, damit man nicht sagen konnte: Seht, da kommt die Frau und drückt sich . Mit Kolleginnen aus der Innerschweiz haben wir Frauenkirchenfeste eingeführt, die sensationell ankamen. Im Kanton Zug habe ich als erste Pfarrerin in einem ökumenischen Gottesdienst das Abendmahl gehalten in einer katholischen Kirche. Das war bewegend.
Super Artikel vom Fachmann! Schade nur der Schlussatz in typischer Tagimanier. Die reformierte Zürcher Kirche hat die beiden Pfarrerinnen im letzten Herbst würdig gefeiert!
Ein sehr spannender Bericht von Peter Aerne, der mich dazu gebracht hat selber darüber nachzudenken, wann ich Frauen im Pfarramt zum ersten Mal begegnet bin. Dabei wurde mir wieder bewusst, dass meine Pfarrkollegin, mit der ich zusammen 1992 in einer Thurg. Kirchgemeinde installiert worden bin, die erste Frau Pfarrerin der Gemeinde war. Im Pfarrteam war es für mich als Pfarrer eine tolle Sache mit einer Pfarrkollegin zusammen zu arbeiten. Für mich war das damals völlig selbstverständlich. Der Bericht macht mir deutlich, dass sich doch in der evang-reformierten Kirchengeschichte eigentlich auch in „kurzer“ Zeit viel zum sehr Guten verändert hat. Eine Bereicherung für die Kirche war und ist die Ordination und Installation ins Pfarramt von Frauen allemal!
Offenbar ist es heutzutage nötig, Texte in Frakturschrift zu transkribieren. Aber dann bitte richtig: Der Pfarrer, der 1918 die beiden Damen ordiniert hat, hiess (Johannes) Sutz. Wie ein grosses G aussieht, ist drei Zeilen weiter unten zu erkennen.
Ich erinnere mich gut an unsere Pfarrerin in den 60erJahren. Sie organisierte Zusammenkünfte für alleinstehende Mütter, Geschiedene, Verwitwete, die damals noch rechtloser dastanden als heute. Es war für mich als Kind und Jugendliche ganz selbstverständlich, dass eine Pfarrein die Kanzel betrat. Erst später ist mir bewusst geworden, wie sozial denkend und bahnbrechend diese mutigen Frauen waren, die Frauen stärkten in ihrem Selbstbewusstsein, auch jemand zu sein. Nicht von allen Gemeindegliedern wurden sie gleich geachtet wie der Herr Pfarrer. Doch unbeirrt gingen sie ihren Weg. Es ist so viel natürlicher, wenn Frauen und Männer in der Kirche gleichberechtigt sind. Die röm. kath. Kirche wird von älteren mächtigen Herren dominiert, was in der heutigen Zeit geradezu komisch wirkt.