Gab es den Kinderkreuzzug wirklich?

History Reloaded

Mit Trommeln, Pfeifen und Steckenpferden: So stellte man sich im 19. Jahrhundert den Kinderkreuzzug vor. (Foto: Getty Images)

Im Frühsommer 1212 zogen sie los: Ohne Waffen und in Lumpen, aber mit Trommeln, Fahnen und Kreuzen machten sich Kinder auf den Weg ins Heilige Land, um Jerusalem zu befreien. Aus dem Dorf Cloyes-sur-le-Loir folgten sie dem Hirtenjungen Stefan, der behauptete, ihm sei Jesus erschienen.

Zur gleichen Zeit machten sich in Köln Kinder auf den Weg, wo sie Nikolaus folgten, einem nur zehnjährigen charismatischen Prediger, der schon einige Zeit diejenigen, die zu den Gebeinen der Heiligen Drei Könige in Köln pilgerten, belästigt hatte. Die Reliquien hatte Rainald von Dassel nur knapp 50 Jahre zuvor noch in den alten karolingischen Dom geholt. So war Köln zu einem mächtigen Pilgerzentrum geworden.

Doch was nun geschah, wurde Wunder und Legende. Beide Züge umfassten Tausende Kinder. Manchmal ist von 7000 Kindern die Rede, bezogen auf den französischen Zug sogar von 30’000, die sich schliesslich in Marseille einschiffen wollten. Der deutsche Zug ging rheinaufwärts und unter grossen Entbehrungen über die Alpen nach Genua. Dort, das hatte Nikolaus versprochen, werde sich das Meer teilen, sodass sie trockenen Fusses ins ferne Land ihrer Sehnsüchte gelangen könnten.

Enttäuschung in Genua

Die eigentliche Kreuzzugsbewegung war um diese Zeit in eine heftige Krise geraten. Hatte Papst Urban II. 1095 mit seinem Aufruf zum «heiligen Krieg» noch ein schwer bewaffnetes Heer in Marsch setzen können, das schliesslich nach der Eroberung der heiligen Stätten Balduin von Boulogne zum «König von Jerusalem» ausrufen konnte, so waren die weiteren Kreuzzüge vergleichsweise erfolglos geblieben.

Der IV. Kreuzzug ging überhaupt nicht nach Jerusalem, sondern diente nur dazu, die Reste des Byzantinischen Reiches in Konstantinopel zu plündern. In dieser Zeit machte das Gerücht die Runde, auch «das Wahre Kreuz Christi», die wichtigste aller Reliquien – tatsächlich nur ein Kästchen mit verschiedenen Holzsplittern –, sei von Muslimen unter Saladin erbeutet worden. Das wollten die Kinder der Sage nach zurückerobern.

Sollten nicht unschuldige Kinder sowieso mehr Aussichten auf Erfolg bei einem wahrhaft christlichen, nämlich friedfertigen Eroberungsversuch haben als Ritterheere? Doch der Pilgerzug der Kinder kam nicht weit. So war die Enttäuschung grenzenlos, als sich das Meer keineswegs teilte bei Ankunft des arg dezimierten deutschen Zuges in Genua. Die Bewegung zerstreute sich schnell.

Immerhin zogen einige der Kinder und Jugendlichen weiter zum Papst nach Rom, um sich vom selbst auferlegten Eid entpflichten zu lassen. Der französische Zug geriet dem Vernehmen nach sogar in die Fänge von Piraten, die eine Überfahrt anboten, die Kinder in Wahrheit aber schon in Alexandria auf dem Sklavenmarkt verkaufen wollten.

Verzweifelte Hunger- und Armutswallfahrten

Gab es diese sogenannten Kinderkreuzzüge wirklich? Oder handelt es sich dabei nahezu ausschliesslich um Trivialmythen und Geschichten? Die belastbare Quellenlage ist äusserst schwach. Augenzeugenberichte gibt es gar nicht. Einzig die Kölner Stadtchronik «Chronica Regiae Colonienses», die «Marbacher Annalen» und die stark ausgeschmückten Erzählungen des Zisterziensermönchs Alberich von Trois-Fontaines weisen auf eine «törichte Heerfahrt der Kinder und Unbesonnenen» hin. Aber schon die lateinische Bezeichnung «peregrinatio puerorum» zeigt eine mehr versprechende Spur auf.

Unter «pueri», also Knaben, Kinder, verstand man damals im erweiterten Sinne eher Knechte, Hirten und Mägde, jedenfalls die unteren Stände abseits des stolzen Rittertums. So muss man sich vielmehr eine bunte Truppe der Abgehängten samt Dirnen und Taschenspielern vorstellen. Das Wachstum der reichen mittelalterlichen Städte liess gerade ein verarmtes und wurzelloses Lumpenprekariat auf dem Lande entstehen.

Nicht umsonst wurden die Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner aus Protest gegen den Hochmut der neuen Reichen in den Städten etwa zur gleichen Zeit gegründet. So verweisen die Geschichten von den Kinderkreuzzügen eher auf verzweifelte Hunger- und Armutswallfahrten, die zu jener Zeit tatsächlich nicht selten anzutreffen waren. Einzig das Ziel Jerusalem unterschied die Pilgerfahrt der angeblichen Kinder von zahlreichen ähnlichen Wanderbewegungen.

Die Kinder sollen richten, was die Erwachsenen versäumen

Doch die Vorstellung vom Kreuzzug der Kinder wuchs sich aus zu einer bis heute wirkmächtigen Legende. Der grosse polnische Regisseur Andrzej Wajda hat den Stoff nach dem Roman von Jerzy Andrzejewski in seinem Film «Die Pforten des Paradieses» 1968 zu einer düsteren Studie über Erlösungssehnsucht und Autoritätsgläubigkeit verarbeitet.

Neben vielen trivialliterarischen Versuchen der Fiktionalisierung in Romanen verfasste auch Bertolt Brecht ein Gedicht, betitelt «Kinderkreuzzug 1939», in dem es darum geht, wie eine Gruppe von Kindern mitten im Krieg «ein friedliches Land» sucht. «Bitte um Hilfe. Wir wissen den Weg nicht mehr», heisst es da an einer Stelle.

So wird es auch den Teilnehmern aller Kinderkreuzzüge gegangen sein: Wenn schon die Erwachsenen die Zukunft nicht in die Hand nehmen wollen, warum nicht mit all ihrer «Kraft der Unschuld» die Kinder? Das ist der wahre Kern der Erzählung vom Kinderkreuzzug, und den hat erst kürzlich die 16-jährige Schwedin Greta Thunberg mit ihrem Aufruf zum Schulstreik für eine Verbesserung der Umwelt als Star eines neuen «Kinderkreuzzuges» wiederbelebt, bis hin zu einem Auftritt beim Weltwirtschaftsforum in Davos.

Wenn es ihn womöglich nie gab, dann müsste der Kinderkreuzzug vielleicht gerade heute neu erfunden werden.

11 Kommentare zu «Gab es den Kinderkreuzzug wirklich?»

  • Felix Biegel sagt:

    Sehr schönes Beispiel. Wie einst einfache Kinder Jerusalem befreiten, so sind auch heute wieder Kinder die Avantgarde. Greta Thunfisch ist der Held unserer Zeit. Sie führt eine mächtige Jugendbewegung an, die das Klima richten wird.

  • Ronnie König sagt:

    Es gab diese Wanderschaft, aber was die Gründe genau waren, das liegt in der Tat im Dunkeln. Tatsache ist auch, dass nur wenige überlebten, Hunger und Elend gross waren. In Alpen offwnbar viele verendeten und nicht alle in Genua landeten, sondern auch in Südfrankreich. Sklavenhändler einige an Nordafrika verkauften, an die Muslime. Dieser Teil fehlt oben. Warum? Ein Teil der Schiffe unterging mit Maus, Mann und Kinder. Wenige retteten sich im Sturm nach Sizilien. Es gibt dazu Aufzeichnungen. Was alles mit dem Marsch zusammenhängt ist letztlich schwer zu sagen. Verkaufte man Kinder letztlich und bildete die Legende um sich reinwaschen? Wann tauchte die Legende erstmalig auf? Nicht vergessen etwas später die Pest, Hungersnot wegen Vulkanausbrüchen, 100jähriger Krieg, Unabhängigkeit der Eidge

    • Urs sagt:

      Der Ronnie war dabei? Wie sonst weiss er mehr, als der Autor des Blogbeitrags?

    • Sam Fuller sagt:

      In der Tat, Herr König, ihr Eifer und ihre hohe Frequenz in diversen Blogs lässt auch mich aufhorchen. In diesem Blog finde ich ihre Beiträge, ohne Quellangaben oder andere wissenschaftliche Hinweise versehen, äusserst heikel. Besonders dann, wenn sie sog. „Wissen“ präsentieren und anhand dessen eine Frage an den Autor mit suggestives Potential stellen (ob er da etwas bewusst ausgelassen habe). Da ritzen sie für mich schon an etwas was ich als „argumentative Redlichkeit“ bezeichne, womit ihre Glaubwürdigkeit in Frage gestellt werden müsste. Was unschön wäre.

  • Stefan W. sagt:

    Das Instrumentalisieren von Kindern hat eine lange Tradition und wird gerade heute ja wieder sehr ausgiebig betrieben: Jeder Diktator wird zum grausamen Machthaber, wenn man Berichte über ihn mit Bildern von weinenden Kindern dekorieren kann. Jeder Flüchtlingswelle wird eine höhere Dringlichkeit zuteil, wenn als Aufmacher das Bild eines Kindes dient. Und die Umwelt geht erst dann für Wochen in die Headlines, wenn ein (wenigstens halbes) Kind zum Aufhänger genommen wird. Psychologisch ist das klar: Leidende Kinder wecken in uns allen starke Schutzinstinkte. Von den Redaktionen aber ist es mindestens ebenso unredlich und menschenverachtend, wie es im Mittelalter das Benutzen der „Kinderkreuzzüge“ für politische Zwecke war.

    • Urs sagt:

      Ist es nicht eher menschenverachtend, ausgebeutete, leidende Kinder zu missachten?
      Es müsste ja jedem Mensch klar sein, dass in einem Krieg (wie zB in Syrien) ganze Familien und damit auch Kinder betroffen sind. Dazu müssen sie nicht mal als Aufmacher in einer Zeitung erscheinen.

      • Stefan W. sagt:

        Sicher. Nur wirkt es halt ein wenig scheinheilig, wenn es denselben Leuten dann völlig egal ist, wenn Kinder zum Beispiel wegen Sanktionen oder wegen Kriegen der Guten(tm) leiden, Das ist dann etwas ganz Anderes und gibt keine Aufmacherbilder. Das meine ich mit „instrumentalisieren“: Kinder werden nicht deswegen zitiert oder auf die Titelzeile gehoben, weil sie leiden, sondern wenn und weil ihr spezielles Leiden einem niederen politischen Zweck dient,

    • Ralf Schrader sagt:

      Kinder und Katzen gehen immer. Deshalb haben Journalisten bis vor einiger Zeit mal die Regeln gelernt eingehalten, keine Bilder oder Beschreibungen von leidenden Kindern zu benutzen und keine Nachrichten mit Musik zu untermalen.

      Von Politik und Journalismus erwarte das gleiche, was schon Cicero von Berichterstattung erwartet hat:

      Unparteiisch, emotionsfrei, unvoreingenommen.

      Da kann man erzählen, dass nun auch privilegierte Schüler aus privilegierten Staaten zwischen zwei Café latte bei Starbucks für das Gute auf der Strasse lustwandeln. Selbstverständlich nur während der Unterrichtszeit. Aber eben nur erzählen, nicht das Jugendlich oder Kind Sein betonen, gar in den Mittelpunkt stellen.

  • Hansjürg sagt:

    Ich glaube auch vom aktuellen Kreuzzug der Kinder will man in ca. 50 Jahren nichts mehr wissen. Den dann Erwachsenen wird es ganz einfach viel zu peinlich sein, dazu gehört zu haben.

    • Ronnie König sagt:

      Da können sie lange hoffen, es gibt einige solchen Geschichten um den Globus und sie halten sich, wenn auch nicht täglich davon berichtet wird. Diesen marsch habe vor Greta in einem überregionalen Blatt mal gelesen im letzten Jahr. Auch der rattenfänger zu Hameln gibts. Kinder die Wunder wirkten oder Maria sahen etc., oder andere Erscheinungen und angebliche Wunder sind verbrieft, unabhängig voneinander. Da kann durchaus auch ein Urwunsch dahinter stecken, etwas psychologisches also. Auch der Wunsch dadurch Kinder wichtiger zu machen, als kostbar wahrzunehmen. Das Kind in jener Zeit hatte welche Stellung und Rechte? Es gibt auch ganz andere Geschichten aus neuerer zeit, die das Schicksal von Kindern beleuchten. Nur als Gedanke mal die „schwarzen Brüder“, Kleinstkinder/Säuglinge-Schmuggel

      • Hansjürg sagt:

        Von etwas nichts wissen wollen, heisst nicht, dass es das nicht gab!
        Ihr Kommentar ist allerdings sehr viel schwerer verständlich.

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