Die Balltänzerin und die Schweizer Neutralität

Anna Eynard-Lullin liebte das Feiern – und vermochte ihre Tanzpartner zu begeistern.  (Foto: Musée d’art et d’histoire, Genève)

Wurde das Rahmenabkommen mit der EU schlecht ausgehandelt? Schwierig zu beurteilen. Dennoch lohnt es sich, in die Verhandlungs-Trickkiste unserer Ahnen zu schauen.

1815 steht nichts weniger als die Neuordnung Europas auf der politischen Agenda. Dabei spielt eine Genferin eine unerwartet wichtige Rolle. Es handelt sich um Anna Eynard-Lullin (1793–1868). Die Frau ist 21 Jahre alt und Gattin des Bankiers Jean-Gabriel Eynard (1775–1863).

Dieser ist Sekretär der Genfer Delegation am Wiener Kongress. Er nimmt seine Gattin mit nach Wien, denn die lebenslustige Anna ist für die gute Stimmung zuständig: «J’ai choisi la fête», notiert sie in ihr Tagebuch, sie habe sich den Festen verschrieben. Sie trifft sich mit den Adeligen, Reichen und Schönen des damaligen Europas, trinkt Tee mit Prinzessinnen und begutachtet dabei mit sicherem Auge den Wert des Diamantschmucks der Damen. Bei ihren Besuchen von Empfängen, Banketten und Bällen zeigt sich Anna überrascht, wie zugänglich die Herrscher Europas in diesen Monaten in Wien sind.

Der Tanz mit dem Zaren

Eines Abends ist die junge Genferin zum Ball des russischen Botschafters eingeladen. Dort trifft sie niemand Geringeren als den russischen Zaren Alexander I. – den wichtigsten Mann des Wiener Kongresses, weil er den Vorsitz und sehr viel Macht hat. Anna tanzt Arm in Arm mit Herzögen. Und sie schafft es, gleich zweimal mit dem Zaren höchstpersönlich zu tanzen – wie die Neider es genau rapportieren. Anna Eynard-Lullin bleibt bis morgens vier Uhr am rauschenden Ball und lässt ganz beiläufig einige Worte über Genf fallen. Zar Alexander gilt als notorischer Schürzenjäger. Ob die Genferin wie andere Tanzpartnerinnen mit dem Herrscher Russlands im Bett landet, ist nicht überliefert. Auch nicht, ob das Zusammentreffen mit der Genferin politische Folgen hatte.

Aber Tatsache ist: Zar Alexander I. war im weiteren Verlauf des Wiener Kongresses der Schweiz sehr gewogen. Er stellte sich dezidiert gegen eine Aufteilung der Eidgenossenschaft oder gegen eine Eingliederung in den Deutschen Bund – beides stand ernsthaft zur Debatte. Auch stellte sich der Zar gegen die erneute Unterjochung der Waadt und des Aargaus und band die Berner Ansprüche zurück. Als Zugeständnis erhielten die Berner den Jura. Auf diese Weise wurde die Eidgenossenschaft gestärkt und um Neuenburg, Wallis und Anna Eynards Genf erweitert.

Die Neutralität der Schweiz

Es gibt sogar Stimmen, welche die Neutralität der Schweiz alleine Zar Alexanders Wirken in Wien zuordnen. Das ist zu weit gegriffen und zu sehr personifiziert. Aber was zutrifft: Der Wiener Kongress war ein Tohuwabohu von Ansprüchen und Zurückweisungen, von Versprechungen und Betrügereien, von Verhandlungsspielchen und Taktiken, von ausgelassenen Bällen und sexuellen Ausschweifungen.

Die Schweiz schaffte es in dieser konfusen Konstellation dank geschickter Diplomatie und persönlichen Beziehungen wie beispielsweise der von Anna Eynard-Lullin, die «Acte portant reconnaissance et
garantie de la neutralité perpétuelle de la Suisse et de l’inviolabilité de son territoire» auszuhandeln und unterzeichnen zu lassen. Sie ist die erste völkerrechtliche Anerkennung der Schweizer Neutralität. Es war der Genfer Charles Pictet de Rochemont, der diese Demarché ausgearbeitet hatte. Dieser war der Chef von Jean-Gabriel Eynard und der Onkel der tanzenden Anna. Ohne Alexanders Wohlwollen gegenüber der Schweiz wäre die Schweizer Neutralität kaum durchzusetzen gewesen.

Dieses Wohlwollen allein den Tänzen mit der Genferin Anna Eynard-Lullin zuzuschreiben, wäre zu einfach. Aber gerade bei komplexen Verhandlungen – und wie überhaupt in der Geschichte – spielen viele Variablen eine Rolle; da haben positive Ergebnisse nie nur mit einer Person, einem Moment oder einem Tanz zu tun. Aber alles miteinander entfaltet seine Wirkung.

4 Kommentare zu «Die Balltänzerin und die Schweizer Neutralität»

  • Lukas O. Bendel sagt:

    Letztlich hat aber doch ihr Onkel Charles Pictet den Vorschlag für eine neutrale „Schweiz“ inkl. Genf et al. ausgearbeitet und in die Wiener Kongress-Diskussion eingebracht. Deshalb ist dann wohl eher der tatkräfige und überzeugende Onkel zu feiern als seine vergnügungssüchtige „J’ai choissi la fête“-Nichte, welche im besten Falle die grossen Fürsten der grossen Idee ihres Onkels gefällig stimmte.

  • Roman Müller sagt:

    Pardon, aber da werden gleich reihenweise Schweizer Diplomaten „vergessen“ und die Verhandlungen am Wiener Kongress auf 3/4-Takt eingedampft. Van Oursow hat schon fantastisches geschrieben, aber hier bleibt er unter seinem Niveau.

  • Martina Hess sagt:

    Freue mich auf das Buch

  • Anh Toàn sagt:

    Hätte sich Frau Sommaruga nicht so geziert, als der Juncker sie küsste, hätten wir jetzt ein besseres Rahmenabkommen. Sommaruga ist an allem schuld.

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