Der Zwingli des Islam

Er suchte im Kalten Krieg nach einer Alternative zum Kapitalismus und Kommunismus: Ali Shariati mit seiner Familie um 1976, kurz nach einer Haftentlassung. Foto: PD
Vor 500 Jahren erschütterten die Reformatoren Zwingli und Luther mit ihren Thesen Europa. Sie stellten die absolute Autorität der katholischen Kirche infrage, und ihre Überzeugung, der christliche Glaube müsse zurück zu seinen Ursprüngen und wieder ernsthafter gelebt werden, hatte Folgen, die bis heute nachwirken.
Doch nicht nur im Christentum, sondern auch im Islam gab es Reformatoren. Ein prominentes Beispiel als Erneuerer des schiitischen Islam ist Ali Shariati. Der 1933 im Nordosten des Iran geborene Intellektuelle entwickelte eine Theorie, wie sich der Islam modernisieren könne. Seine Ideen sind auch vor dem Hintergrund des jahrzehntelang im Iran herrschenden Schah-Regimes zu verstehen. Dieses führte zwar einerseits Reformen durch, verwestlichte aber andererseits das auf seine Geschichte stolze Land.
So pflegte der iranische Monarch enge Beziehungen zu den USA, was mit der Präsenz von US-Militärberatern einherging. Sie und ihre Angehörigen genossen im Iran diplomatischen Schutz und unterstanden nicht dem iranischen Gesetz. Gleichzeitig wurde das Schah-Regime ab den 1960er-Jahren immer repressiver, und der iranische Geheimdienst verfolgte iranische Oppositionelle. Viele Iraner fühlten sich wie Fremde im eigenen Land.
Angewidert durch diese Zustände, lehnte sich Shariati in seinen Schriften und Reden gegen die weltliche und geistliche Obrigkeit auf. In einer religiösen Familie aufgewachsen, sah er in der Religion ein Mittel, die Lage im Iran zu verändern und die iranische Gesellschaft sozialer und gerechter zu machen.
Glaube mit Erkenntnis verbinden
Gemäss Shariati sollte der islamische Glaube einerseits auf dem Individuum beruhen und andererseits gesellschaftsorientiert und am Gemeinwohl ausgerichtet sein. Er kritisierte, der Islam werde im Iran nur noch oberflächlich und ohne Bewusstsein und Reflexion gelebt, wofür Shariati die klerikale Oligarchie verantwortlich machte. Der iranische Intellektuelle, der an der Sorbonne in Paris doktorierte und dort auch mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre zusammentraf, sah als Voraussetzung für eine erfolgreiche Reformation des Islam, dass der individuelle Glauben und damit die Eigenverantwortung gestärkt werden. Nur indem jedes Individuum den islamischen Glauben verinnerliche, könne man das in islamischen Ländern viel diskutierte Dilemma lösen, dass die Religion den zivilisatorischen Fortschritt verhindere. Shariati argumentierte, dies sei in Europa durch die Reformation gelungen.
Für den persischen Denker war zentral, den Glauben mit der Erkenntnis und der Wissenschaft zu verbinden. Und er war überzeugt, dass die Erkenntnis und die Liebe zur Gemeinschaft konstitutive Elemente des schiitischen Glaubens seien. Shariati suchte so mithilfe des Islam einen dritten Weg zwischen den zur Zeit des Kalten Krieges sich bekämpfenden Modellen des westlichen Kapitalismus und des Kommunismus. In beiden sah er keine Alternative, da sie die Menschen ausbeuteten und materialistisch ausgerichtet seien.
Zusätzlich zu mehr bewusstem, eigenem Glauben statt unreflektierten Nachbetens von Gebeten forderte Shariati, jeder Muslim müsse sich für die Gemeinschaft einsetzen. Wie der Zürcher Reformator Zwingli stand Shariati dafür ein, dass Arme und Unterdrückte unterstützt wurden. Doch anders als Zwingli oder auch Luther lebte er in einem totalitären Zentralstaat und hatte deshalb keine einflussreichen Unterstützer.
Tod im Exil
Und so verhaftete das Schah-Regime Shariati aufgrund seiner revolutionären Schriften und Reden mehrmals. 1977 ging er nach England ins Exil, wo er zwei Jahre vor der Iranischen Revolution starb. Wegen seiner vor allem bei Studenten populären Thesen war er ein ideeller Wegbereiter der Iranischen Revolution. Diese verlief allerdings nicht in seinem Sinn, und die Revolutionäre um Khomeini, die sich nach dem Sturz des Schah-Regimes 1979 durchsetzten, distanzierten sich von Shariatis Schriften, der sich für die Gleichberechtigung von Frauen eingesetzt und einen Gottesstaat abgelehnt hatte.
Heute ist Shariati im Iran, wo Märtyrer geliebt werden, rehabilitiert, und Strassen und Metrostationen tragen seinen Namen. Und die nach ihm benannte intellektuelle «Neo-Shariati-Bewegung» knüpft an seine Ideen an. Ihr Ziel ist es, den Islam mit der Politik und Gesellschaft zu verbinden, ohne einen Gottesstaat anzustreben. Der Fokus ist vielmehr darauf gerichtet, die Menschenrechte und die Demokratie im Iran zu stärken und mehr Gleichheit in der Gesellschaft zu erreichen. Die Neo-Shariatis suchen einen dritten Weg zwischen einem säkularen Staat und einem islamischen Staat, der nicht zwischen Staat und Religion trennt. Als Wegweiser dient ihnen Ali Shariati.
18 Kommentare zu «Der Zwingli des Islam»
Zwingli und Luther konnten die katholische Kirche auch nicht reformieren, es entstand eine neue Kirche, die alte blieb, wie sie war: Religion „verkauft“ nicht ewiges Leben im Paradies (wäre nicht mal erstrebenswert), sondern Halt, Stabilität, Ordnung im Leben. Wenn die sich laufend reformiert, hätte sie keine Daseinsberechtigung.
Betreffend der Machtübernahme durch „theokratische“ Organisationen wie im Iran, Ägypten (Muslim Brüder) ist festzuhalten, dass man für eine erfolgreiche Revolution alternative Organisationsstrukturen braucht. Mit den alten Beamten und Folterknechten kann man keinen neuen Staat machen. Man braucht einen alternativen Apparat. Solche haben Armeen, Parteien oder religiöse Organisationen. Von denen droht den aktuellen Diktatoren am meisten Gefahr.
Dummheit reformieren zu wollen ist doch völlig vergebliche Liebesmüh. Insbesondere, wenn man selber „gläubig“ ist und eigentlich bloss nach Rechtfertigungsgründen für solchen Glauben sucht, die es natürlich niemals geben kann.
Ein Denker, der sich mit originellen Ideen ein bisschen von den anderen unterschieden hat, rettet deshalb noch nicht den Islam als geeignete Religion für den Westen. Immer wieder werden solche Gestalten wortreich hervorgekramt, um uns weiszumachen, dass mit Allah doch alles prima geht. Nein, danke. Solche „Wegweiser“und Nebenpropheten braucht es hier nicht.
Vergleiche mit christlichen Reformatoren „Zwingi des Islam“ sind einfach abgeschmackt und stiften nur Konfusion.
„… Um uns weiszumachen“ ist unfair. Zweifellos haben diese Menschen das selber geglaubt und sind es mit reinem Gewissen angegangen.
Letztendlich sind sie stets Opfer ihrer eigenen Kurzsichtigkeit.
Mit dem folgenden Zitat ist bereits alles gesagt: „Gemass Shariati sollte der islamische Glaube… “
Damit ist die Totgeburt vorprogrammiert. Denn aus ihm geht hervor, dass er den Glauben in eine BESTIMMTE Richtung gelebt wünschte.
Dies impliziert bereits, dass er die Schrift bewusst über das geschriebene Wort hinaus interpretierte (und einige problematische Stellen unter den Tisch fallen lassen musste). Ein Ding der Unmöglichkeit für all jene, die ihn wörtlich zu nehmen gedenken, wie ihnen dies der Koran – das ewig gültige Wort Gottes – genau so vorschreibt.
(was keineswegs negiert, dass die Frömmler und Fanatiker den – im Übrigen vor Widersprüchen STROTZENDEN – Koran ganz selbstverständlich ebenso interpretieren. Bloss mit dem brandgefährlichen, und im Laufe der Geschichte wohl ein paar Dutzend Millionen teuren, Unterschied, dass sie dies entschieden bestreiten!)
Zwingli war auch nicht für die Trennung von Kirche und Staat. Dieses Konzept gab es damals noch nicht. Moderne Menschenrechte und die Freiheit des Inviduums sind nur nach der Trennung von Religion und Staat möglich.
Davon ist der Islam mit oder ohne Shariati noch 1000 Jahre entfernt. Entweder Islam oder Demokratie. Insbesondere wir in der westlichen Welt müssen diese Wahl endlich treffen.
P.S.
Mir ist egal, was einer in seinem Privatleben macht – das gilt auf für Moslem. Mir ist nicht egal, wenn auf einmal Subkulturen von Einwanderern anfangen, unseren Staat in Frage zu stellen und Exekutiven auf Gemeinde- und Kantonsebene Gesetze aushebeln, um deren Sonderwünsche von Staates wegen zu befriedigen.
Beispiel vor 140 Jahren mit dem Zivilgesetzbuch beschlossen wir Schweizer, dass im Tod alle gleich sind. Die Toten werden vom alle einheitlich vom Staat und nicht von den Kirchen. Die Pfaffen haben nur Gastrecht auf unseren Friedhöfen.
Auf einmal kommen die Moslem daher und wollen Sonderrechte, Religionsfriedhöfe, schön separiert von den dumben Schweizern. Und auf einmal gilt das Zivilgesetzbuch nur noch für die blöden, die sich dran halten wollen.
@Jürg Brechbühl. Was ist mit jüdischen Friedhöfen? Stören die Sie auch? Wenn nein, warum nicht?
Sie gönnen nicht mal den Toten ihren Frieden, wie soll man mit Ihnen in Frieden leben?
Die Juden, Herr oder Frau Anh Toàn, stören mich nicht im Geringsten, weil wir hierzulande noch NIE irgendwelche Probleme mit Juden gehabt haben, die ihren Grund oder angeblichen Grund im Judentum hatten. Trifft das auf die Moslems auch zu? Eben, sehen Sie. – PS. Die Moslems stören mich auch nicht, auch dann nicht, wenn sie mit Kopftüchern rumlaufen und Moscheen bauen. Aber sie stören mich, wenn sie das Rad rückwärts drehen, wenn sie die Mädchen nicht in den Schwimmunterricht schicken und ihre rechtlichen Zwiste „unter sich“ lösen wollen und Frauen als minderwertig betrachten. Dann wünsche ich ihnen eine frohe Reise ins Land ihrer Herkunft. Wir haben schon genug „eigene“ Hinterwäldler.
@Patricia: aus https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/die-parallelgesellschaft/story/29169325
„So ist beispielsweise die Zahl der Dispensgesuche von Zeugen Jehovas für Räbeliechtliumzüge höher als jene von Muslimen für den Schwimmunterricht.“
„Strenggläubige Juden schicken ihre Kinder nicht auf eine staatliche Schule, sondern in den Privatunterricht. Die Bildungskarriere endet nicht selten an einer Talmud-Hochschule in England. Allerdings bereitet sie die Schüler nur mangelhaft auf das Berufsleben vor – im Unterricht überwiegen religiöse Inhalte.“ „Gemäss der Nationalfonds-Studie steigt die Zahl der von der Sozialhilfe abhängigen Ultraorthodoxen, weil diese keinen Beruf erlernt haben“
Warum reden Sie nur und dafür ganz allgemein über Muslime?
@ Ralf Schrader:
Vor einiger Zeit wurde ich Teil einer inteessanten Diskussionrunde im Iran. Aus rationaler Sicht plädierte ich für Religion als Privatsache und einen säkularen Staat.
Einige Anhänger der Revolutionswächter argumentierten sehr ähnlich wie Sie, Agnostiker wie ich würden Schwache und Ungebildete in die Perversion des Ego-Kapitalismus treiben.
Dazwischen waren einige Anhänger von Ali Shariati, die mindestens für eine Übergangszeit für einen gemässigten religiösen Staat waren.
Der Abschluss der Diskussion war für mich sehr eindrücklich: Wir tranken alle zusammen vom gleichen Tee aus dem gleichen Topf und dankten uns gegenseitig für die fairen und inspirierenden Gespräche.
Auch dies gibt es im „bösen Iran“.
An der Basler Fasnacht gab es ein Schnitzelbangg, mit etwa dem Inhalt:
Zwei Muslime, ein Jude, zwei Christen, drei Buddhisten und zwei Atheisten, diskutieren und essen und lachen zusammen. Das geht ganz gut, solange keiner davon ein Arschloch ist.
Herr Schrader, hier geht es aber nicht um das Thema Kapitalismus/Antikapitalismus, sondern in erster Linie um den Islam. Meines Erachtens ist es sehr passend, den Trend zu einem fundamentalistischen und rückwärtsgewandten Islam in Frage zu stellen, wo doch Ali Shariati interessante Gedanken zu haben scheint. Beispielsweise der Salafismus oder die Ideologie der Muslimbruderschaft wird von Fr. Elham Manea (jemenitisch-schweizerische Politologin) ganz klar als eine rechtsextreme religiöse Bewegung mit einer rassistischen und totalitären Ideologie bezeichnet. Der Islam kommt nicht darum herum, sich mit einer Reformation auseinanderzusetzen, will er nicht untergehen. Was wäre denn die Alternative zur Eigenverantwortung, Herr Schraner? Wäre diese Alternative wirklich attraktiver?
Wie definieren Sie „untergehen“?
Bzw.: zu welchem Zeitpunkt wäre die Definition „untergegangen“ angebracht?
Ich hoffe schwer, dass sich die von ihnen alleine als notwendige gesehene Religion vorher selbst abwickelt. Eigenverantwortung mit einem gesellschaftskonformen Menschenbild ist einer allen bestimmenden Religion immer vorzuziehen.
Der Ruf nach Eigenverantwortung ist Hauptsymptom eines dissozialen Menschenbildes. Das finden Sie in reifen Religionen und in reifen Gesellschaften nicht. Das gibt es nur im späten von allem Sozialen entfremdeten Kapitalismus.
Jede Kultur, die noch nicht vom Individualismus verseucht ist, sollte sich diesen Umstand zwingend erhalten. Die Idee von Eigenverantwortung ist eine der übelsten in der gesamten Kulturgeschichte der Menschheit.
Der Kapitalismus hat zwei Kategorien, von denen es viel zu viel gibt: Waren und Reformen. I.A. kommen grosse Systeme wie Religionen vollständig ohne Reformen aus. Die Reformation im Christentum war eine temporäre Notwendigkeit zur Herstellung von Kapitalismuskonformität. Nach dem hoffentlich baldigen Ende des Kapitalismus ist der Protestantismus wieder vollständig überflüssig und kann rückabgewickelt werden.
GlaubenSie an das, was Sie schreiben? Ob der Protestantismus überflüssig ist, beurteile ich nicht, aber das grosse System ohne Reformen auskommen und dass die Idee des eigenverantwortlichen Menschen eine der übelsten der Geschichte ist, sind so abstruse Thesen, dass sie ihre Diskussion kaum lohnt. Die Frage ist, wie weit eine individuelle Entscheidung überhaupt möglich ist und wier weit der Mensch biologisch determiniert ist, die hat aber nichts mit der „übelsten“ Idee zu tun. Wenn Sie hier dei Aufklärzung dekonstruieren, dekonstruieren Sie Ihren offenbar geliebten Marxismus gleich mit.