Der Mann, der Stalin vom Sockel stiess

History Reloaded

Steiler Aufstieg unter dem Gewaltherrscher: Nikita Chruschtschow mit Josef Stalin 1936. Foto: Alamy Stock Photo

Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, 1894 in Südrussland geboren, verbringt seine Kindheit und Jugend mit harter Arbeit und all der Hoffnungslosigkeit armer Bauern auf dem Land. Früh schliesst er sich der Revolution an. 1929 geht er nach Moskau, wo er Stalins Ehefrau kennen lernt und unaufhörlich die Karriereleiter hochklettert, bis er zehn Jahre später im engsten Führungskreis um den Diktator ankommt. Während des Grossen Vaterländischen Krieges gegen Nazi-Deutschland ist er an der Front und erlebt die Gräuel des Zweiten Weltkrieges um einiges unmittelbarer als der Oberbefehlshaber Stalin.

Nach dessen Tod geht Chruschtschow als Sieger aus den Machtkämpfen hervor. Auf dem Weg zur Macht warnt und droht er. Oft blufft er und setzt seine Rivalen verbal unter Druck, indem er seine Positionen deutlich ausspricht – so auch im Februar 1956, als sich die KPdSU zu ihrem ersten Parteitag seit Stalins Tod einfindet. Einige Präsidiumskollegen wenden sich gegen einen «Bericht», mit dem Chruschtschow die Verbrechen Stalins an den Pranger stellen will. Er insistiert mit dem Argument, wenn sie die Wahrheit nicht jetzt aussprächen, würden sie gezwungen sein, sie irgendwann einmal zu erzählen. «Dann aber werden wir nicht berichten, sondern Menschen sein, gegen die ermittelt wird.»

Absage an den Personenkult

Als Chruschtschow den Präsidiumsmitgliedern droht, er werde die Delegierten bitten, ihn anzuhören, willigen sie ein. Und so findet am 25. Februar eine geschlossene Sitzung statt, an der weder Journalisten anwesend noch Tonbandaufnahmen erlaubt sind, mit nur einem einzigen Traktandum: der «Geheimrede».

Zwar rühmt er auch Stalins Verdienste, doch Chruschtschow kommt schnell zur Sache. Es sei dem Geist des Marxismus-Leninismus fremd, eine einzelne Person herauszuheben und sie in eine Art Übermensch mit übernatürlichen, gottähnlichen Eigenschaften zu verwandeln, sagt er. Die Delegierten verstehen sofort: Es geht um Stalin. Im Saal herrscht Totenstille, als Chruschtschow detailliert die Repressionen, Schauprozesse und Morde an unliebsamen Genossen schildert.

Nach fünf Stunden Rede sind die Anwesenden konsterniert. Doch Chruschtschow deckt längst nicht den ganzen stalinistischen Terror auf. Er spricht nur über die Verbrechen an Parteimitgliedern, nicht über den Terror gegen die Bevölkerung. Auch über seine eigene Rolle bei den Säuberungen schweigt er. Und sie bleibt unklar. Viele Akten sind unauffindbar. Dennoch ist davon auszugehen, dass Chruschtschow als Parteivorsitzender in der Ukraine Verhaftungen und Erschiessungen von Parteifunktionären genehmigt hat. Die Wahrheit nimmt er 1971 mit ins Grab.

Der Diktator ist zurück

In der Sowjetunion markiert die Geheimrede eine Zeitenwende: Millionen Häftlinge kommen frei, die düstere Ära des Stalinismus weicht einer innenpolitischen Entspannung, «Tauwetter» genannt nach Ilja Ehrenburgs Roman. Allerdings bringt dies die Regime in sozialistischen Bruderstaaten ins Wanken und weckt Hoffnungen auf demokratische Veränderungen, was Chruschtschow nicht zulassen kann. Bei Arbeiterprotesten in Posen droht er mit militärischer Intervention, worauf das polnische Militär im Juni 1956 den Aufstand beendet. Im November dann lässt er den Volksaufstand in Ungarn niederschlagen, die Panzer der Roten Armee rollen durch Budapest.

Derweil geht die Entstalinisierung in der Sowjetunion weiter: Stalin-Denkmäler werden vom Sockel gestossen sowie Strassen, Plätze und Städte umbenannt und sein Leichnam vom Lenin-Mausoleum an die Kreml-Mauer verlagert. Jahrzehntelang ist Stalin tabu, doch seit einigen Jahren ist er wieder da. Stalin-Denkmäler schiessen aus dem Boden. Das seit der Annexion der Krim international zunehmend isolierte Russland besinnt sich immer mehr auf die Triumphe der Vergangenheit. Der Sieg gegen Nazi-Deutschland gilt als grösste Leistung Russlands und demzufolge auch Stalins.

19 Kommentare zu «Der Mann, der Stalin vom Sockel stiess»

  • Lukas O. Bendel sagt:

    @Stefan W.
    Wie soll eine funktionierende Ordnung aufgebaut werden mit einem Volk, dass noch immer an (einen) starke(n) Führer glaubt und sich selbst als Einzelperson und Gesamtheit eigentlich nichts zutraut? In Russland bzw. der UdSSR gab es keine breite Aufklärung, kein Erkämpfen der Bürgerrechte (die Oktoberrevolution war ja eigentlich bloss das Austauschen der Führungsriege – die grosse Masse blieb Untertan wie zuvor) und nur beschränkt Zugang zu Bildung und nach Jahrzehnten der Indoktrination wurden die westlichen Ideen nicht gerade enthusiastisch aufgenommen (ausser von ein paar Egoisten, welche sofort ihren Vorteil aus dem Unverständnis der Massen zogen).

    • Stefan W. sagt:

      Das finde ich ein wenig arg paternalistisch: Die unterentwickelten Russen müssen vom intelligenten Westen an die Hand genommen werden, damit sie die korrekte Regierung wählen und nicht einen „starken Führer“ (Wie etwa Putin, Merkel, Macron oder, bewahre, Trump).

      Die Schwierigkeit liegt erstens darin, dass die Russen das anders sehen und zweitens, dass sie der Meinung sind, dass uns das nichts angeht, wen sie wählen. Und dieser Sichtweise kann man, wenn man ehrlich ist, nicht viel entgegensetzen.

      Nicht einmal die russische Gefahr taugt als Begründung für einen forcierten Regime Change: Alle bisherigen Kriege der Nato und die meisten der USA waren völkerrechtswidrig, daraus kann man nicht wirklich ein nacheifernswertes Vorbild herleiten, wenn man das mal von Aussen betrachtet.

      • Rudolf Wildberger sagt:

        @Stefan W: Ihr Kommentar etspricht auch meiner Ansicht. Dazu noch einige Ergänzungn:
        Gorbatschow, der bei uns mit Glasnost, Perestroika und dem Ende des kalten Krieges in Verbinndung gebacht wird, wird in Russland mit Wirtschaftszusammenbruch, Rentenverlust und Chaos assoziiert, wo sich ein paar klevere und schnelle Oligarchen riesige Vermögen aus Staatsbesitz unter den Nagel rissen. Das machte die westlichen Werte wie Pluralität, Freiheit und Demokratie in Russland nicht vertrauenswürdiger. So hat sich mit Putin die auoritäre russische Tradition durchgesetzt. Traditionnen sind zäh und diese zu ignorieren, sowohl fremde als auch eigene, ist naiv und arrogant und geschichtsblind.

  • Galvez henry sagt:

    Der Krieg gegen den Komunismus wurde in der ehemaligen SU als einer Krieg der Systemen ( Wirschaftlichen) angesehen, um den Bösen Feind ( Hitler) zu bekämpfen bräuchte man den Bösen Führer entgegen zu stellen ( Stalin), heute wiederhol sich die Geschichte und hierzulande wird Russland und deren Machhtaber (Putin) Als Böse Kriegstreiber in der Medien dargestellt und als ihren Gegenpol der „ Beschützer „ der Demokratie die USA (Trump) ………ein kalter Krieg ist das wenigste was uns erwartet.

  • Beni Jung sagt:

    Chruschtschow war zwar schlau, aber ansonsten Stalin weit unterlegen. Er hatte weder dessen Charisma, scharfe Intelligenz und erst recht nicht dessen Prestige. Nach dem Sieg über Deutschland und der Befreiung Europas von der Nazi-Plage war Stalin unerreichbar, eine historische Figur geworden.
    Chruschtschow konnte unmöglich vergleichbare Höhen erreichen. Jeder Vergleich der beiden fiel zugunsten Stalins aus. Also blieb ihm nur ein Mittel: Stalin zu diskreditieren. Er dichtete ihm allerlei Untaten an.
    .
    Heute, nachdem Stalin nicht mehr in der Tagespolitik, sondern in der Geschichte ist, ist wieder Raum da für eine objektive Beurteilung Stalins. Da wären in erster Linie der Sieg über Deutschland und die erfolgreiche Industrialisierung zu nennen.

    • Thomas Hartl sagt:

      Bevor sie nun Stalin in den Himmel rühmen, müssen auch seine Säuberungswellen erwähnt werden, denen nachweislich Millionen zum Opfer vielen, und die Russland beim Überfall der Nazis in eine verzweifelte Situatione brachte, weil erfahren Offiziere liquidiert worden waren. Stalin war ein paranoider Massenmörder, ähnlich wie Mao, dessen Leistungen heute von jenen verklärt wird, die glauben dass die Industrialisierung jedes Opfer rechtfertigt.

    • Beni Jung sagt:

      @Hartl
      1. Das ist ja genau das, was ich ansprach: Chruschtschow dichtete Stalin zahlreiche Untaten an, die bis heute rumgeistern.
      Werden wir doch besser konkret und gehen auf konkrete Vorwürfe ein:
      2. Zu Beginn des deutschen Überfalls auf RU kam dieses in eine schwere Lage, weil
      a) die deutsche Militärmaschinerie extrem potent war. FR z.B. wurde in 5 Wochen besiegt – waren in Paris etwa auch “erfahrene Offiziere“ liquidiert worden?
      b) niemand sich vorstellen konnte, dass DE so wahnsinnig sein würde, während eines laufenden Krieges im Westen auch noch einen zweite Front im Osten zu eröffnen. Niemand in Moskau rechnete ernsthaft mit einem Angriff. Dieser deutsche Zweifrontenkrieg war denn auch tatsächlich eine strategische Dummheit, die DE schliesslich das Genick brach.

    • Jack Stoffel sagt:

      Furchtbarer Mist, was Sie da auftischen. Den Tschugaschwili (Stalin war nur der „Künstlername“) musste niemand diskreditieren; denn da war längst kein Kredit mehr vorhanden… Es gab jedoch ein paar Millionen Opfer, die nur zu erzählen brauchten. Ausserdem hatte Chruschtschow höchstwahrscheinlich gar kein Interesse, mit Stalin „vergleichbare Höhen“ zu erreichen. Oder würden Sie es wollen, dass die (Un-)Taten eines durchgeknallten Gewaltherrschers und Massenmörders zum Massstab für Ihre Leistungen wird?

      • gabi sagt:

        Wahnsinn, zu was für abwegigem Quatsch Moskaus Trolle allenthalben noch angehalten werden.

        … Und alles mit dem Zaster unserer Gasrechnung. Zum Kotzen.

  • Stransky Rudolf sagt:

    Boris Jelzin schlechtzureden ist ein billiges Argument gegen ihn. Er hat seinerzeit einen beginnenden Aufstand gegen Michael Gorbachow beruhigt, der Gorbachow überraschte als er von einem Urlaub in Sotchi in die Hauptstadt zurückkehrte. Er tat dies mit einer Rede ans Volk, und zwar in der Luke eines Panzers stehend. Immerhin hatte er damit sein Leben aufs Spiel gesetzt, denn während dieser Rede hätte ganz leicht jemand aus der Menschenmenge ihn erschiessen können. Schlussendlich hat er dann Vladimir Putin an die Regierungsspitze gebracht. Ob man will oder nicht muss man einsehen dass Putin seinen Job gut macht.

    • Stefan W. sagt:

      Jelzin hat zweifellos Gutes erreicht. Leider siegte dann der Alkohol und die allzu grosse Liebe zu den Oligarchen, denen er Russlands Staatsvermögen verschacherte. Ohne massive US-Hilfe hätte Jelzin die Wiederwahl nicht geschafft. Seine Beliebtheit war zuvor bei ungefähr 10-15%. (s. zum Beispiel den online verfügbaren Time-Artikel „Yanks to the resue!“vom 15. Juli 1996 („The secret story of how U.S. advisers used polls, focus groups, negative ads and all other techniques of American campaigning to help Boris Yeltsin win“). Damals war man in den USA noch wesentlich weniger verkrampft, was ausländische Wahlkampfhilfe betrifft, als heute. Man gab sogar zu, dass man es tat, verkaufte es allerdings als gutes Werk.

    • Gerhard Engler sagt:

      Putin hat die russische Wirtschaft in den Abgrund geführt. Russland exportiert Erdgas und sonst nichts. Wenn der Gaspreis fällt, dann gerät Russland in die Rezession.

  • Beat Felber sagt:

    Irgendwie tröstlich, dass es auch in brutal totalitären Staaten immer wieder zivilcouragierte Menschen gibt, bei denen sich das Gewissen regt und die sogar eine Wende zum Besseren herbeiführen können. Man darf nur nie die Hoffnung verlieren.

    • Beni Jung sagt:

      @Felber
      Lesen Sie meinen obigen Kommentar. Da war keine Zivilcourage, sondern schlicht Machtkampf. Chruschtschow war Stalin weit unterlegen; um als sein Nachfolger bestehen zu können, musste er Stalin anschwärzen. Denn anderen schlechtmachen, um selber etwas besser dazustehen. Das und nichts mehr.

      • gabi sagt:

        Zivilcourage ist etwas GANZ ANDERES.

        … Aber ich gebe zu, dass ihm mit Zivilcourage, zur damaligen Zeit, in Russland im besten Fall(!) ein Genickschuss geblüht hätte.

        Übrigens ist „the death of Stalin“ weit weniger Komödie als einem lieb sein kann.

  • Stefan W. sagt:

    Einige Jahrzehnte später hat Russland dann die Hoffnungen des Westens mehr als erfüllt. Diesmal war es aber der Westen, der darin versagte, eine funktionierende Ordnung mit aufzubauen. Stattdessen begann die plötzlich sinnlos gewordene NATO ein imaginäres Bedrohungsbild aufzubauen, als dessen einzig mögliche Lösung sie ausgerechnet die immer engere Einkreisung des bösen Feindes propagierte. Und die USA mischten sich eifrig in innere Angelegenheiten Russlands ein, indem sie des eigentlich chancenlosen Jelzins Wiederwahl mit Milliarden Dollars und einer gut geölten amerikanischen Propagandamaschine sicherten.

    Als Ergebnis haben wir jetzt wieder zwei weitgehend unversöhnlich Blöcke, die einander waffenstarrend gegenüberstehend.

    • gabi sagt:

      Das übliche Propaganda-Gewäsch der Art, wie es ein Daniele Ganser auf Russia Today oder KenFM „expertieren“ kann.

      Immer nur Opfer… alle anderen Böse….

      Wie immer, als Vorbedingung von Faschismus jeder Couleur: die Dolchstoss-Legende!

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