Ideologisch verordnetes Skifahren
Eine Olympiasiegerin hilft mit, dass die Schweizer Jugend das Skifahren und Snowboarden nicht verlernt: Goldmedaillengewinnerin Tanja Frieden wirkt heute als Aushängeschild der Schneesportinitiative Schweiz. Seilbahnen, Sporthandel, Skischulen, Skiverband und Tourismus spannen bei dieser grossen PR-Offensive zusammen.
Bereits seit Jahrzehnten lernen Hunderttausende von Schweizer Kindern in Skilagern den Stemm- und Parallelschwung (und andere lebenswichtige Beschäftigungen wie Jassen, Kafi-fertig-Trinken und Flirten). Dabei waren es keineswegs sportliche Gründe, die zum Skiboom führten, sondern wirtschaftliche und politische. Es brauchte quasi einen ideologischen Slalom, bis Skifahren zum Schweizer Volkssport wurde.
Leere Betten wegen Weltkrieg
Drehen wir die Zeit zurück. Im Winter 1940/41 tobt der Zweite Weltkrieg. Nazi-Deutschland hat Frankreich, Benelux, Norwegen und Dänemark besetzt, kämpft in Afrika und plant den Feldzug gegen Russland, die Alliierten bekämpfen Italien in Nordafrika und so weiter.
Die Welt steht in Flammen – doch in der heilen Schweiz sorgt sich der Tourismus, weil die Betten leer bleiben. Deshalb organisiert 1940/41 die «Nationale Vereinigung zur Förderung des Fremdenverkehrs» Gratisunterricht in Skischulen für Tausende von Kindern. Im gleichen Winter findet das erste Schweizer Jugendskilager statt, 500 Knaben kommen nach Pontresina. Ein Jahr später dürfen auch die Mädchen ins Wintersportlager.
Die Verherrlichung der Alpen ist spätestens seit dem Rütlirapport vom Juli 1940 ein Teil der hiesigen Kriegspropaganda. Da passt der Wintersport in den Bergen sehr gut dazu und ist quasi der sportliche Beitrag zur Geistigen Landesverteidigung und zum Alpenreduit. Skifahren gilt als patriotische Pflicht.
Kein Wunder, besucht auch General Henri Guisan diverse Kinder- und Jugendskilager und lässt sich dabei gerne ablichten. Kleines, aber nicht unwichtiges Detail am Pistenrand: Guisans Sohn Henry ist damals Präsident des Schweizerischen Skiverbandes, seine Frau Mary Guisan-Doelker leitet ab 1943 die Jugendskilager in Engelberg.
Multimediale Werbeoffensive
Die Werbelawine für den Schweizer Skisport rollt jetzt sogar multimedial zu Tale. 1943 dreht Josef Dahinden (1898–1993), ein Skipionier von der Rigi, den Film «Ein Volk fährt Ski». Er leitet die Skischule auf Rigi-Kaltbad und mit seiner Frau Eugenie das Hotel Bellevue und tut alles, um neue Gäste zu rekrutieren. 100’000 Menschen sehen Dahindens Film, den der Schweizer Tourismusverband mit einer gross angelegten Plakatkampagne begleitet. Zudem erhalten 3500 Personen mit kleinem Einkommen einen Gratis-Skikurs. Das funktioniert – ideologisch, aber vor allem auch wirtschaftlich.
Denn tatsächlich buchen in der Folge die Schweizerinnen und Schweizer vermehrt Skiferien in der Heimat, sodass gegen Ende des Krieges die Hotelfrequenzen wieder bei 90 Prozent des Vorkriegsniveaus liegen. Ein beachtlicher Erfolg! Bundesrat Karl Kobelt (1891–1968), Chef des Militärs und Oberst im Generalstab, fasst zusammen: «Die Schweizer Jugend fährt Ski, das ganze Volk fährt Ski, und die Schweizer Armee fährt Ski.»
Vico singt, und alle singen mit
Damit nimmt der Bundesrat vorweg, was der Schlagersänger Vico Torriani 1963 trällert: «Alles fahrt Ski, alles fahrt Schi, Schi fahrt die ganzi Nation.» Die halbe Schweiz singt mit, wenn sie beim Skilift anstehen muss – und sich trotzdem nicht die Laune verderben lässt.
Eine Coverversion von QL aus dem Jahr 2006. Video: QLVEVO (Youtube)
Als dann die Schweiz 1972 in Sapporo so viele Goldmedaillen gewinnt und neue Helden wie Bernhard Russi und Marie-Theres Nadig hervorbringt, ist die Schweiz endlich eine veritable Skination. Schauspielerin und Sängerin Ines Torelli legt 1975 nach und bejubelt in ihrem Hit den «Gigi vo Arosa», in einem anzüglichen Song über einen Alpenplayboy.
Ines Torelli live im Studio am 7. Februar 1975. Video: SRF Archiv (Youtube)
Nach der #MeToo-Debatte wäre der «Gigi» heute keine geeignete Werbefigur für den Schweizer Wintersport. Deshalb ist jetzt Tanja Frieden das Aushängeschild.
Literatur: Michael Lütscher: Schnee, Sonne und Stars. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2014. 272 S., 88 Fr.
3 Kommentare zu «Ideologisch verordnetes Skifahren»
Wie es auch immer begründet wird: Das Gefühl, auch hochalpine, abgelegene Orte zu „Heimat“ zu zählen, ist die Basis dafür, dass Städter oder Ackerlandbewohner im fernen Mittelland bereit sind, Steuergeld in Infrastrukturen zu pumpen, die in anderen Ländern einfach sich selbst überlassen werden.
Ich halte gerade den Verkauf all der vielen Skilager-Gebäuden, die nach Gemeinden der Unterländer benannt waren und von deren Kindern genutzt wurde, für einen dummen Fehler. Nicht nur aus obengenanntem Grund, sondern schlicht auch im Wissen, wie wichtig Bewegung und Sport für Heranwachsende wäre. Wenn sich das alles dann damit verbinden liesse, Freude an der Umgebung zu wecken (und damit das inländische Besucherpotential von morgen zu pflegen) so kann ich darin nichts Verwerfliches erkennen.
Bereits beim Turnvater Jahn ging es um eine Nationalbewegung, die preussische Jugend fit zu machen für den Krieg gegen Napoleon. Jugend und Sport in der Schweiz ist eine Nachfolgeorganisation des „militärischen Vorunterrichts“. Die Sportschule Magglingen war als Bundeseinrichtung verfassungsrechtlich nicht mit Sport legimiert, sondern mit Landesverteidigung. Noch heute gehört der Sport nicht zum Dep des Innern (Gesundheit) sondern zum Militärdep.
Nicht nur das Skifahren, sondern auch allgemein der organisierte Sport an den Schulen, sollte zur frühen Wehr-Ertüchtigung der Schweizer Jugend beitragen. Zu Zeiten des kalten Krieges hatten wir im Aargau das zweifelhafte Vergnügen, im stark ausgebauten Sportunterricht der Bezirksschule metallene „Wurfkörperli“ (Handgranaten-Imitationen) in mit Bändern markierte Ziele zu werfen. Andere Zeiten, andere Sitten und Weltanschaungen….