Die Schweiz, ein Land der Streiks

History Reloaded

Der Landesstreik war ein prägendes Ereignis für die moderne Schweiz: Soldaten bewachen während des Streiks das Bundeshaus. Foto: Keystone

Die Schweizer Arbeiterschaft ist fleissig, brav und produktiv. Das war das Bild, das die Schweiz gerne verbreitete. Doch vor genau hundert Jahren erlebte die Schweiz einen Generalstreik mit verbreitet niedergelegter Arbeit. Hunderttausende in den Schweizer Städten streikten im November 1918. Die massenhafte Arbeitsverweigerung bekam aufgrund ihrer Ausbreitung sogar den Namen «Landesstreik». Der Streik war eine Ungeheuerlichkeit in der sonst von Fleiss geprägten Schweiz!

Das wirkt bis heute nach – in diesem Herbst finden unzählige Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen, Vorträge, TV-Filme, Theater und Debatten dazu statt. Sogar Bundesrat Alain Berset äusserte sich dazu, und auch Christoph Blocher gab seine gegenteilige Meinung dazu ab.

Was dabei vergessen geht: Der Generalstreik war keine Einzelerscheinung – vielmehr war die Schweiz damals ein besonders streikfreundliches Land. Allein im Generalstreikjahr 1918 gab es in der Schweiz 264 Streiks mit 24’109 Streikenden. 1919 waren es 233 Streiks und 1920 immerhin noch 174. In einer linken Zeitung sprach man stolz vom «Streikgewitter». Dagegen sieht sogar das heutige Italien als Streikland schlechthin geradezu bescheiden aus.

Maurer, Steinbrecher, Schreiner

Die Arbeitsbedingungen durch Arbeitsverweigerung zu verbessern, war 1918 auch hierzulande ein durchaus probates Mittel. Das Geld war weniger wert, und Brot und Milch kosteten immer mehr, doppelt so viel wie vor dem Krieg. Das führte landauf, landab zu Unmut und trieb die Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Strassen. Am streikfreudigsten waren übrigens die Maurer, gefolgt von den Steinbrechern und Schreinern. Aber auch in der Schweizer Textil-, Metall-, Maschinen- und Uhrenindustrie kam es immer wieder zu Arbeitsniederlegungen.

Ein Beispiel von vielen, das aber besonders viel Aufsehen erregte, war ein Arbeitskampf in Luzern. Er betraf die Firma mit dem langen Namen «Dampfschifffahrtgesellschaft für den Vierwaldstättersee» und dauerte von Juli 1919 bis Dezember 1920. «Die Stimmung im Personal, und zwar im gesamten, ist eine erbitterte», schrieben die «Luzerner Neusten Nachrichten», «dass es mit der Erbitterung des Personals so weit gekommen ist, daran tragen die Uferkantone eine grosse Schuld, indem sie der Dampfschiffgesellschaft die Unterstützung vorenthalten.» Der Arbeitskonflikt betraf dadurch nicht nur Luzern, sondern insgesamt fünf Kantone rund um den Vierwaldstättersee.

Der Stolz der Innerschweiz: Das Dampfschiff Uri (Baujahr 1901) ist der älteste im Einsatz stehende Raddamper der Schweiz. Foto: Coronado 1992 (Wikipedia)

Das Personal wollte vom Salär her eine Gleichstellung zum eidgenössischen Verkehrspersonal. Doch eine «Einigungskonferenz» mit Direktion und Belegschaft brachte keine Zugeständnisse. Deshalb entschieden sich die Kohlenlader, Heizer, Maschinisten, Kassiere, Kontrolleure, Matrosen, Steuermänner und Kapitäne mit 163 gegen 5 Stimmen für den Streik. Was sich nie jemand vorstellen konnte: Die «Gallia», «Schiller», «Luzern» und wie die heroischen Dampfschiffe alle hiessen, blieben einfach liegen.

Das Dampfergrounding war eine Schmach sondergleichen für die Tourismusregion Zentralschweiz, die sich nach dem Ersten Weltkrieg gerade wieder aufzurappeln versuchte. Nicht einmal die stolzen Dampfer, die Aushängeschilder im mystifizierten Herzen der Schweiz, blieben von der Krise verschont. Nach zwei Tagen gab die Direktion zähneknirschend nach und erfüllte alle Forderungen des Personals.

Hohe Wellen wegen Entlassungen

Doch schon bald zog der nächste Sturm auf: Die Belegschaft forderte Teuerungszulagen. Statt darüber zu verhandeln, argumentierte die Dampfschiffgesellschaft mit der grassierenden Wirtschaftskrise und reduzierte schnurstracks alle Löhne um 300 Franken, zudem entliess sie 13 Mitarbeiter, einzelne hatten 24 Dienstjahre. Diese Massnahmen warfen hohe Wellen, nicht nur beim Personal, sondern in der ganzen Öffentlichkeit rund um den Vierwaldstättersee.

An einer Protestversammlung im Saal des «Löwengarten» nahmen «über 1200 Personen» teil, «aus allen politischen Kreisen der Bürgerschaft», wie ein Reporter bemerkte, es «drängte sich Kopf an Kopf und ganze Scharen suchten vergeblich einen Platz». Die Masse liess mächtig Dampf ab. Die Dampfschiffherren konnten den Sturm nicht vorüberziehen lassen, sondern mussten reagieren. Sie stellten fünf der Entlassenen wieder an, vier erhielten Abfindungen von 150 Franken pro Dienstjahr.

Damit zeigte sich der Unterschied zwischen grossem Landesstreik und lokalem Arbeitskonflikt: Die Anführer des Landesstreiks mussten sich vor Gericht verantworten und bekamen Strafen aufgebrummt; die Luzerner Streikführer waren teilweise erfolgreich und gefeierte Helden.

Literatur:

  • Rossfeld, Roman/ Koller, Christian/ Studer, Brigitte (Hg.); Der Landesstreik, Die Schweiz im November 2018; Baden 2018.
  • Orsouw, Michael van/ Vogel, Lukas; Goldglanz und Schatten; Die Innerschweiz in den 1920er-Jahren; Luzern 2005.

Ein Kommentar zu «Die Schweiz, ein Land der Streiks»

  • Christian Müller sagt:

    Der Streik einer Belegschaf mit konkreten arbeitsrechtlichen Forderungen gegen eine konkrete Firma ist auch etwas prinzipiell anderes als ein Generalstreik, der ein politischer Akt mit politischen Forderungen ist. Der Name mag gleich sein, nicht aber Ziele und Motive.

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