Das Grauen im Osten
Jetzt ist es hundert Jahre her. Am 15. März 1917 setzten Parlament, Arbeiter- und Soldatenräte in Petrograd den Zaren ab. Damit endete eine fast 1000-jährige Kaiserherrschaft, es stürzte ein Regime, zu dem das Wörtchen «menschenverachtend» für einmal bestens passt. Eine provisorische Regierung übernahm die Macht in Russland. Sie konnte sich ein paar Monate halten, und was dann kam, war ein Grauen, wie man es im Westen bis heute nicht recht erfasst hat.
Um dieses Grauen dreht sich eines der eindrücklichsten Geschichtsbücher, die mir je begegnet sind: «Steinerne Nächte». Die historische Reportage entstand gut zehn Jahre nach dem Sturz der Kommunisten und wurde verfasst von Catherine Merridale, Professorin für Zeitgeschichte in London. Ihr Thema: der Tod in Russland. Oder genauer: Es geht um die Frage, wie die Menschen in Russland mit diesem Tod umzugehen versuchten – und am Schluss sogar irgendwie siegten.
Leben in Weissglut
Was 1917 folgte, war ein Blutbad, das über Jahrzehnte dauerte. Bereits der Zar hatte sein Reich in den Ersten Weltkrieg gezogen: 3 bis 4 Millionen Tote. Nach Lenins Oktoberrevolution brach der Russische Bürgerkrieg aus: 8 bis 10 Millionen Menschen verloren ihr Leben.
Es folgte die Hungersnot von 1922 mit bis zu 5 Millionen Opfern.
Es folgte die Kollektivierung ab 1930 mit neuen Hungersnöten: wohl über 10 Millionen Tote.
Es folgte der Stalinistische Terror ab 1934 mit – nach höchsten Schätzungen – bis 20 Millionen Opfern.
Es folgte der Winterkrieg in Finnland: Er kostete etwa 250’000 Russen das Leben.
Es folgten der Angriff Deutschlands und der Zweite Weltkrieg mit bis zu 25 Millionen Kriegstoten.
Es folgten weitere «Säuberungen» unter Stalin. Es kamen noch viele graue Sowjetjahre mit Gulag und Verfolgung derer, die anders dachten.
Verzweiflung war verboten
Niemals sonst in der Weltgeschichte wurde über solch eine Zeitdauer und mit solcher Weissglut menschliches Leben zerstört wie in Russland nach 1917. Keine Familie ohne Opfer, kaum ein Mensch ohne brutale persönliche Erfahrungen. Doch Catherine Merridale schildert eigentlich weniger den Höllensturz selber, die Ereignisse und Verhältnisse; ihr Hauptthema ist ein zweiter, tieferer Terror: Man durfte nicht einmal über das Grauen reden. Keiner konnte sich beklagen.
Die Verfolgten des Regimes durfte man nicht betrauern, sonst war man selber Verräter, also das nächste Opfer.
Um Soldaten durfte man nicht trauern, denn um Helden weint man nicht. Man feiert sie.
Wer eine der vielen Hungersnöte überlebte, konnte nicht über die Toten klagen: Hungersnöte gab es nämlich im Kommunismus nicht.
Der Tod war überall, der Tod war nirgends. Verzweiflung war verboten. Und so kreist die englische Historikerin in ihrem Schlusskapitel, halb verblüfft, halb ratlos und sehr fasziniert um die Normalität im heutigen Russland. Jetzt geht es nicht mehr um die Frage: Wie konnte das geschehen? Sondern: Wie um Himmels willen hat es dieses Volk geschafft, nach solch einem Schicksalsweg nicht völlig traumatisiert und verroht zu sein?
Der Sinn der Wärme
Merridale war in Russland keineswegs auf eine zerstörte Gesellschaft mit heilungsbedürftigen Männern, Frauen und Kindern gestossen. Und so geht es uns allen, wenn wir etwa nach Moskau oder St. Petersburg reisen: Manches wirkt auf den feinsinnigen Westler vielleicht etwas ruppig, aber darunter verspürt man viel Wärme und Freundlichkeit. Und vor allem erlebt man eine solide funktionierende Gesellschaft.
«Einige meinten, die Liebenswürdigkeit sei die grundlegende Lehre gewesen, die sie aus den Härten ihres Lebens gezogen hätten», berichtet Catherine Merridale über ihre Begegnung mit vielen Opfern des Terrors. «Ohne diese Wärme hätte alles keinen Sinn gehabt.»
Der Mensch ist des Menschen Wolf: Die Vorstellung, dass wir stets haarscharf davon entfernt sind, uns gegenseitig zu massakrieren, gehört zu den stärksten Gesellschaftsideen bis heute.
Russland hat gezeigt, wie sehr diese Vorstellung stimmt. Russland lässt uns hoffen, dass das Gegenteil stärker ist.
- Catherine Merridale, «Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Russland», Karl-Blessing-Verlag 2001. Antiquarisch erhältlich.
- Demnächst erscheint von Catherine Merridale: «Lenins Zug. Die Reise in die Revolution», S. Fischer (ab 23. März). Über die geheime Fahrt von Wladimir Iljitsch Lenin von Zürich nach St. Petersburg.
10 Kommentare zu «Das Grauen im Osten»
Der zweite Weltkrieg und der Angriff Deutschlands auf Russland war also die Schuld Russlands? Und wenn da geschrieben steht „Niemals sonst in der Weltgeschichte wurde über solch eine Zeitdauer und mit solcher Weissglut menschliches Leben zerstört wie in Russland nach 1917.“ – Die USA haben seit dem zweiten Weltkrieg ungefähr 25 Millionen Tote auf dem Gewissen. Beides ist natürlich schlecht.
Revolutionen sind nur attraktiv für Salonromantiker, Ideologen und Zyniker der Macht. Und wenn man bedenkt, dass der Zerfall der Sowjetunion mit dem mit ihm verbundenen wirtschaftlichen und politischen Chaos den Menschen noch einmal unnötig viel Entbehrungen abverlangt hat, so kann man wohl verstehen, dass heute für die meisten Russen Stabilität an erster Stelle steht. Darin sehe ich einen Grossteil der Attraktivität der putinschen Restauration. Stabilität als Menschenrecht und als Schutz vor Grausamkeit, denn im Chaos gilt das Gesetz des Stärkeren, auch in der Wirtschaft.
Die nötigen Veränderungen kommen von selbst, denn eine junge Generation wächst heran, die in einer anderen Zeit gross geworden ist. Man sollte Russland bei diesem Wandel nicht mit Sanktionen behindern.
Danke für diesen Blog in dem versucht wird, Russland zu verstehen. Aber ergänzend ist moch zu bemerken, dass Lenin und Stalin nicht bei Null angefangen haben in punkt Missachtung des Individuums. Schon zur Zarenzeit gab es so etwas wie einen Gulag (s. Tschechows Bschreibung seiner Reise nach Sachalin). Solche Traditionen verschwinden nicht von einem Tag auf den andern, den sie deren Basis ist die tausendfache persönliche Erfahrung wie Macht funktioniert. Darum zeugt der tagespolitische Kampfbegriff „Putinversteher“ höchstens von geschichtlichem Unverständnis und Unwissen.
Es ist immer gefährlich in einer Weltmacht zu wohnen, wo die Regierung diesem Ziel alle Bedürfnisse seiner Bewohner unterordnet. Noch gefährlicher wird es man ist ein heiliges Land und deshalb ist alles von Gott gewollt und tödlich wird es, wenn man den neuen Menschen kreiert und dies propagiert von Menschen, die für diesen Zweck die bösartigsten Abgründe menschlicher Existenz einsetzen und sich selbst als unantastbar und gütig betrachten.
Russland hat sich in einem Raum der Nomaden ausgebreitet, ähnlich wie die USA und Kanada. Nun diese Nomaden waren kriegerischer und mächtiger als die Indianer in Nordamerika. Grob gesagt, irgendwie brauchte es einen starken Staat, d.h. einen Zaren. War der Zar schwach, aber mit Ambitionen, war das Unglück da.
Auch wenn man hier versucht „Russland-Versteher“ zu spielen (was für ein dämlicher Ausdruck übrigens), wird schnell einem klar, wie voreingenommen und unwissend man in Westen gegenüber Russland auftritt. Schon die Zaristische Ordnung menschenverachtend zu bezeichnen ist typisch. Aus heutiger Sicht war vieles vor 100 Jahren menschenverachtend. Stichwort Kolonien. Weiter folgen die Opferzahlen. Da will ich auf keinen Fall den Kommunismus schönreden, aber wenn man schon alle Opferzahlen von 1917 bis 1945 zusammenzählt, die Bevölkerungsanzahl und -Entwicklung studiert, wird schnell einem klar, dass die Zahlen vollkommen übertrieben sind (Die Rede ist von der Kollektivierung und den Säuberungen in den 30er). Um Russland zu verstehen, muss man zuallererst die Befangenheit ablegen.
Vorab, durch familiäre Beziehungen liebe ich Russland, seine Kultur, seine Menschen, und die wunderschöne Landschaft. Ich nehme ab ihrem Namen an, dass Sie russischer Herkunft sind. Sie zeigen leider die typische reflexartige Verteidigungshaltung der Russen wenn es um ihre eigene Geschichte geht. Der Westen geht ziemlich offen mit seinen dunklen Flecken (Kolonialisierung, Nazideutschland) um, lernen Sie dies auch zu tun. Leider wird der Kommunismus in Russland immer noch glorifiziert, und jede Kritik an ihm sehr schlecht aufgenommen.
Na, dem Holodomor sind schon mehrere Millionen zum Opfer gefallen, selbst die defensivsten Schätzungen gehen von 2,5 Mio aus.
Wissen Sie, Herr Bykov, was die russischen slawophilen Intellektuellen von heute wie Sie nicht begreifen, ist die Anziehungskraft Ihrer Zivilisation. Wenn die Führungsschicht der islamischen Nationen die Anziehungskraft einer Zivilisation fürchtet, ist es nur die westliche. Fragen Sie einmal, wie es den Russen in Kasachstan ergeht? Gut geht es dem russischen Geld, aber nicht dem dortigen einfachen Russen. Die Putin Zivilisation ist für andere Völker der Sowjetunion, trotz Wiederbelebung des orthodoxen, ein toter Hund. Niemand will sie, nicht einmal das ukrainische Brudervolk. Die Sowjetunion war eine Theatervorstellung mit geschlossenem Vorhang. Alle progressiven westlichen Intellektuellen haben nur die prächtige Bemalung des Vorhangs wahrgenommen.
Sie kennen sehr gut den Spruch von Lenin vom Gefängnis der Völker im Zarenreich. Viele Nicht-Russen haben 1917 an diesen Spruch Lenins geglaubt und und die Bolschewiki werden sie befreien. Dieser Glaube der Nicht-Russen hat Stalin, dem Georgier, substanziell erleichtert, seine Grausamkeiten durchzuspulen. Chruschtschow, Mit-Verantwortlicher an Stalins Verbrechen, hat wirklich an den Sowjet-Kommunismus als beste aller Welten geglaubt. Zum Beispiel an die unsägliche Kollektivierung und dies als Ukrainer!
Für mich ein Dummkopf erster Güte. Warum Kuba 1962, dabei war es im nationalen Interesse die USA als ersten Verbündeten zu gewinnen, ein Blick auf die Weltkarte genügt. Diese Aufhetzung von Putin gegen die USA und Europa ist diametral gegen die ureigensten Interessen von Russland.
Naja, Zaren gab es eigentlich erst seit Iwan dem IV/dem Schrecklichen, davor waren es „nur“ Grossfürsten. Weit ärger dünken mich die Zahlen der Opfer, die nach 1917 dazu kamen, und die auch bis in die heutige Zeit von gewissen Seiten des politischen Spektrums bestritten oder geleugnet werden. Oder noch schlimmer, à la Hobsbawm für nötig befunden werden.
Selbst die ärgsten Auswüchse der Ochrana verblassen vor Lenins und Stalins Terror. Dieser Artikel ist eigentlich nur ein weiterer Beleg (wenn es diesen überhaupt noch gebraucht hätte) dass sich die beiden äusseren Ränder des politischen Spektrums in rein gar nichts unterscheiden was ihre Geringschätzung des menschlichen Lebens betrifft.