10’000 politische Gefangene

Luzern, 1990: Ein Aktivist in Gefangenenverkleidung protestiert gegen die Inhaftierung von Dienstverweigerern. Foto: Schweizerisches Sozialarchiv

Während zwei Jahrzehnten, von 1975 bis 1996, begannen alle Jahresberichte von Amnesty International im Kapitel über die Schweiz mit demselben Thema: «Amnesty International war besorgt über die Inhaftierung von Militärdienstverweigerern aus Gewissensgründen.» 1984 wurde der Zusatz beigefügt: «… sowie über das Fehlen jeglichen zivilen Friedensdienstes.»

Im fraglichen Jahr wurden 788 Militärverweigerer zu Gefängnisstrafen verurteilt. Das macht drei Verurteilungen pro Werktag. Im Vorjahr waren es 745 gewesen. Für zehn von ihnen, die zu höheren Gefängnisstrafen verurteilt worden waren, setzte sich die angesehene Menschenrechtsorganisation direkt ein.

Beim namentlich genannten «Architekten Josef Egloff, der von einem Militärgericht in Luzern zu 15 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt» worden war, führte dieses Engagement bei der Aarauer Berufungsinstanz zu einer Reduktion des Strafmasses auf acht Monate. Bei einem anderen Fall, dem des «Pazifisten» Olivier Maulini, hatte die Menschenrechtsorganisation keinen Erfolg. Trotz seiner ausschliesslich ethischen Begründung war das Militärgericht Aigle nicht bereit, die achtmonatige Strafe zu reduzieren.

Jobverluste und Berufsverbote

Amnesty International betrachtete Verweigerer, «die sich bereit erklärten, einen alternativen Zivildienst zu leisten», als «gewaltlose politische Gefangene». Da praktisch alle diese Bedingung erfüllten, hatte die Schweiz von 1970 bis und mit 1990 etwa 10’000 politische Gefangene. Allein in diesem Zeitraum sind 10’238 Verweigerer ins Gefängnis gesteckt worden. In den sechs Jahren zuvor und danach kamen etwa tausend dazu. Militärverweigerer wurden häufig zusätzlich bestraft mit Berufsverboten und Jobverlusten.

Die Schweiz war bereits 1979 von Amnesty International als eines ihrer grössten Sorgenkinder unter den Mitgliedsländern des Europarates bezeichnet worden. Dessen parlamentarische Versammlung hatte im Januar 1967 das Recht auf Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen verabschiedet und die Mitglieder aufgefordert, ihre Gesetzgebung entsprechend anzupassen.

Während die meisten Länder die Entschliessung Nr. 337 in den 70er-Jahren umsetzten, wurde in der Schweiz 1977 sogar die sehr gemässigte Münchensteiner Zivildienstinitiative von zwei Dritteln der Stimmenden abgelehnt. Allerdings hatte wegen des Ausschlusses der politischen Verweigerer auch ein Teil der Linken Nein gestimmt. Amnesty International machte in der Folge die Schweiz zu einem der drei Schwerpunktländer ihrer «internationalen Kampagne gegen die Inhaftierung von Kriegsdienstverweigerern».

Tyrannei der Mehrheit

Wie wenig Menschenrechte und Amnesty International damals galten, illustriert der nächste Abstimmungskampf gegen die «Volksinitiative für einen echten Zivildienst auf der Grundlage des Tatbeweises» im Frühjahr 1984. Die folgenden Organisationen machten aus dem Tatbeweis eine Armeeabschaffung: Aktion Freiheit und Verantwortung, Verein zur Förderung des Wehrwillens und der Wehrwissenschaft, Arbeitsgemeinschaft für gleiche Wehrpflicht und eine friedenssichernde Milizarmee, Eidgenössisches Komitee für allgemeine Wehrpflicht, Schweizerisches Aktionskomitee gegen die Aushöhlung der Allgemeinen Wehrpflicht, Überparteiliches Komitee gegen die Unterwanderung unserer Milizarmee, Aktion wehrhafte Friedenssicherung, Offiziersgesellschaft, CVP, FDP, SVP und Nationale Aktion.

Obwohl neben der Linken auch kirchliche Kreise sowie die Mitteparteien EVP und LdU ein Ja vertraten, wurde der zivile Ersatzdienst von 64 Prozent der Stimmenden verworfen. Es handelte sich um ein klassisches Beispiel von «Tyrannei der Mehrheit», wie der französische Liberale Alexis de Tocqueville die «demokratische» Verletzung von Grund- und Minderheitenrechten nannte.

1997 verflog Amnestys «Sorge»

Viele Verweigerer und Zivildienstaktivisten beteiligten sich ein Jahr später an der Volksinitiative für eine Schweiz ohne Armee, um die Abschaffungsfrage tatsächlich zu stellen. Den hohen Ja-Anteil von 35,6 Prozent erklärten sich dann viele bisherige Gegner des Zivildienstes mit der ungelösten «Verweigererfrage». So schuf der Achtungserfolg der radikalen Initiative vor dem Hintergrund des Berliner Mauerbruchs eine neue Ausgangslage.

Am 17. Mai 1992 wurde dem Souverän der Vorschlag vorgelegt: «Das Gesetz sieht einen zivilen Ersatzdienst vor.» Sensationelle 82,5 Prozent stimmten ihm zu. Den höchsten Ja-Anteil lieferte Basel-Stadt mit 92 Prozent, den tiefsten das Wallis mit immer noch deutlichen 65 Prozent. Am 6. Oktober 1996 trat das Zivildienstgesetz in Kraft: «Militärdienstpflichtige, die den Militärdienst mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können, leisten auf Gesuch hin einen länger dauernden Ersatzdienst (Zivildienst).» 1997 war das erste Jahr seit mehr als zwei Jahrzehnten, in dem der Jahresbericht von Amnesty International nicht mit der «Sorge über die Inhaftierung von Militärdienstverweigerern» begann.

9 Kommentare zu «10’000 politische Gefangene»

  • Renato Ugolini sagt:

    Ist schon OK wenn das wieder Mal besprochen wird. Seltsam wirkt es auf mich, als Betroffener, dass dies von jemandem kommt der es selbst nicht durchgezogen hat. Verweigern statt jammern war das Thema und auch die politische Haltung. Viele Linke haben es jedoch wegen Job etc. oder ähnlichen nicht getan oder sind über Arztbrief raus. Also wenn schon Aufarbeitung dann richtig Jo.

    • Josef Lang sagt:

      Lieber Renato Ich verstehe nicht, was Du meinst. Ich ging ein Jahr nach dem Pinochet-Putsch (11. September 1973) als Antimilitarist in die RS, weil unsere Lehre aus Chile lautete: Soldaten organisieren! Folge: 4 Monate bedingt wegen Organisierens von Rekruten. Ein Jahr nach der Armeeabschaffungs-Abstimmung (26. November 1989) rief die GSoA die Militärdienstleistenden zum zivilen Ungehorsam zwecks Durchsetzung des Zivildienstes auf. Für mich bedeutete das die Verweigerung des letzten EK, bis die Forderung erfüllt war. Folge: 2 Monate unbedingt für 2 nicht geleistete Militär-Wochen. Das ist meine „Aufarbeitung“ in einer Kurzfassung.

  • Markus Ackermann sagt:

    Der Autor beschreibt die Dinge richtig, aber unvollständig.
    -> Viele Militärdienstverweigerer suchten den politischen Kampf als „politische Gefangene“ im Sinne einer Opposition gegen das Militär an sich. Sie wollten von den „weicheren“ Optionen keinen Gebrauch machen, zB dem medizinischen Weg oder dem ausgiebigen Verschieben von Militärdiensten (Rekrutenschule, WKs). Es gab Soldatenkommittees, die an sich sehr gut alle Optionen aufzeigten
    -> Es gab auch religiös Motivierte
    -> Es gab Leute, die hungerten sich unter das Minimalniveau für Soldaten,
    -> Viele gingen ins nahe Ausland (Elsass!)
    Wenn man nicht wollte, dann „musste“ man zwar pro forma, aber real eher nicht
    Ich selber kam zB frei erst mit Verschieben, dann mit „Kopfschmerzen ohne ersichtlichen Grund“ DB-Code 304.3

  • Rolf Zach sagt:

    Die Armee war damals die „Heilige Kuh der Schweiz“. Diejenigen, die Machtpositionen in unserer Gesellschaft einnahmen, waren im innersten überzeugt (mit wenigen Ausnahmen), dass nur die absolute Bejahung der Armee die Existenz der Schweiz absichert. Kommt noch dazu, dass viele ihre Förderung der zivilen Karriere einem Offiziersrang in dieser Armee verdankten. Oft war es der entscheidende Zusatz für höchste Positionen, mehr als Studium und Ausland-Erfahrung. Als Mitglied des Schweizer Militärs und da zählten natürlich mehr ein Unteroffiziers- oder Offiziersrang als darunter, galt dies als ein Zeichen der sicheren Loyalität zum Vaterland und persönlicher Verlässlichkeit. Übrigens auch bekannte Politiker der SP waren Offiziere und sogar in den hohen Rängen.

    • Rolf Zach sagt:

      Vergessen wir nicht, die Schweiz waren neben Schweden die einzige Demokratie, die den 2. Weltkrieg in ihren Institutionen unbeschadet überstanden hat. Dieser Erfolg musste ja einen Grund haben. Der edelste Grund war die bewaffnete Neutralität. Also die Armee hat uns vor Ungemach geschützt mit unserem Volkshelden als General. Nicht alle Schweizer Intellektuellen waren da einhellig gläubig, aber dies interessierte die Öffentlichkeit nicht und die Machtelite sorgte dafür, dass dies Allgemeingut wurde. Erst die Rothenturm-Initiative 1987 zeigte, dass da der Glauben nicht mehr so felsenfest war. Ein erstes Anzeichen, dass die Armee als normale staatliche Institution wahrgenommen wurde und nicht mehr als eine „Glaubens-Instanz“.

  • Beat Simmen sagt:

    Ich kenne noch Männer,die in den 70er Jahren den Militärdienst verweigerten und als Verbrecher oder als keine „richtigen Schweizer“ galten. Das war der kalte Krieg.
    Jedoch: Auch heute noch ist jeder Schweizer Mann wehrpflichtig. Wer nicht Soldat sein will oder kann, leistet Zivildienst – oder zahlt.
    Selbst nach 37 Jahren Gleichstellung wird dies meist schamhaft verschwiegen oder mit Ausreden umgangen.
    Zäh scheint sich das Männerbild vergangener Jahrhunderte zu behaupten.
    Nun ist Zeit für eine Klärung und für eine redliche Lösung, bei der sich niemand mehr schämen muss.

  • Anton Erwin Hann sagt:

    Ich habe im Religionsunterricht die 10 Gebote der Bibel kennen gelernt. Da steht, dass man nicht toeten und seinen Naechsten lieben soll. Dies ist unvereinbar mit dem Militaerdienst. Deshalb verweigerte ich den Kriegsdienst. Man ging mit brutaler Haerte gegen mich vor. Ich verlor meine Arbeitsstelle und wurde aus dem Fussballclub verbannt. Als ich aus dem Gefaengnis kam, stand ich vor dem nichts. Ich werde nie verstehen, dass ein Staat derart mit einem Buerger umgehen kann. Jetzt, nach ueber 45 Jahren sind die inneren Narben zugeheilt und ich kann in aller Ruhe sagen: Herr, vergib Ihnen, denn Sie wissen nicht was sie tun.

  • Andreas Weibel sagt:

    Es ist gut, dass dieses vergessene Kapitel der Schweizer Geschichte endlich wieder besprochen wird.

    Eigentlich bräuchte es eine Wahrheitskommission, welche auch die Berufsverbote jener Zeit aufarbeitet. Und schlussendlich müsste auch über Schadenersatz für die Tausenden von Personen gesprochen werden, welche damals aus politischen Gründen fichiert und um ihren Job und ihre Karriere gebracht wurden.

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