Über 20 Jahre Winter nach dem Prager Frühling

Vergeblicher Widerstand: Menschen blockieren in Prag den Vormarsch sowjetischer Panzer. Foto: Libor Hajsky (Keystone)
In der Nacht auf den 21. August 1968 startet die «Operation Donau»: Über eine halbe Million Soldaten der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens marschieren in die Tschechoslowakei ein, nehmen wichtige strategische Orte ein, besetzen Redaktionen, bringen Untergrundsender zum Schweigen und sperren Strassen. Dann kommen die Panzer. Wie an einer Perlenkette aufgereiht, rollen sie durch die Strassen Prags. Die Kunde der Invasion macht schnell die Runde. Noch in der Nacht drängen Hunderttausende Menschen auf die Strassen und umzingeln die Panzer. Einige klettern auf die Fahrzeuge und schwingen tschechoslowakische Fahnen.
Die Menschen sind gekommen, um ihre neu gewonnenen Freiheiten zu verteidigen. Auf Plakaten wird zu zivilem Ungehorsam aufgerufen. Dazu gehören das Abmontieren und Umdrehen von Orts- und Strassenschildern, um die Invasionstruppen in die Irre zu führen, oder das Umleiten von Nachschubzügen für die Rote Armee auf Abstellgleise. Doch von Tag zu Tag heizt sich die Stimmung mehr auf. Es kommt zu blutigen Auseinandersetzungen, bei denen etwa 100 Tschechoslowaken und 50 Soldaten ums Leben kommen.
Neue Freiheiten für die Bevölkerung
Es sind die Bilder der von Menschen umringten Panzer, die sich ins Gedächtnis eingebrannt haben. Dabei markiert die sommerliche Invasion den Anfang vom Ende des Prager Frühlings, der im Winter zuvor beginnt. Nach jahrelangen Querelen um eine zögerlich durchgeführte Entstalinisierung und um die ungelösten Probleme zwischen Tschechen und Slowaken setzen sich in der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPC) die Reformer gegen die Konservativen durch. Am 5. Januar 1968 kommt es an der KPC-Spitze – mit Duldung Moskaus – zum Machtwechsel vom stalinistischen Hardliner Antonín Novotný zum slowakischen KP-Chef Alexander Dubček.
Der als farbloser Funktionär geltende Dubček soll das Land aus der Krise führen. Ihm schwebt ein «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» vor. Kaum einen Monat im Amt lockert der neue KP-Chef die Pressezensur. Im «Aktionsprogramm» vom 5. April will die KPC auf ihr Machtmonopol verzichten, Wirtschaftsreformen durchführen und der Bevölkerung weitreichende Versammlungs-, Meinungs-, Informations-, Rede- und Reisefreiheiten einräumen.
Fingierter Hilferuf
Die Menschen im Land sind begeistert. Es entsteht ein lebhafter Diskurs über die Gleichberechtigung der Slowaken, die Rehabilitierung der Opfer des stalinistischen Terrors und die Zulassung einer Opposition. Die Euphorie schwappt von Prag nach Bukarest und Belgrad über. In Warschau, Sofia, Budapest und Ost-Berlin aber haben die Machthaber gar keine Freude an den Entwicklungen und drängen auf eine militärische Lösung. Auch Moskau ist alarmiert. Die Spaltung des Warschauer Pakts droht. Dennoch bemüht sich Leonid Breschnew lange um eine politische Lösung.
Im März fordert er Prag auf, das KPC-Monopol wieder herzustellen und vom Reformkurs abzukehren. Doch Dubček und Staatspräsident Ludvík Svoboda lassen sich nicht zur Räson bringen. Das Fass zum Überlaufen bringt das am 27. Juni veröffentlichte «Manifest der 2000 Worte» des Schriftstellers Ludvík Vaculík, das Intellektuelle und zahlreiche Bürger unterschreiben und das die Beschleunigung der Reformen fordert. Für die Reformgegner ist dies ein Aufruf zur Konterrevolution.
Ein fingierter Hilferuf tschechoslowakischer Altkommunisten ist die Rechtfertigung für die Invasion. Am 21. August rollen die Panzer durch Prag, Dubček wird verhaftet und nach Moskau geflogen. Doch der Plan der Besatzer geht (vorerst) nicht auf: Die Bevölkerung steht geschlossen hinter ihren Reformern. Svoboda weigert sich, eine Marionettenregierung einzusetzen. Ende August hebt das «Moskauer Protokoll» fast alle Reformen auf. Dubček kehrt nach Prag zurück und bleibt bis 17. April 1969 im Amt. Dann ersetzt ein Winter den Prager Frühling, der bis zur «Samtenen Revolution» 1989 über 20 Jahre andauern wird.
Dieser Text ist eine aktualisierte Version, Titel und Schlussatz wurden korrigiert. Besten Dank für die Hinweise. Die Redaktion
7 Kommentare zu «Über 20 Jahre Winter nach dem Prager Frühling»
Rechnen scheint eine schwierige Aufgabe zu sein, ich komme im nur auf 21 Jahre Winter. Oder wurde der Ostblock nicht 1989 weggefegt?
Es sind noch 50 Jahre nicht 30 Jahre
Sehr gute Erinnerung an die Relevanz des heutigen Tages. Ist „Winter, der über 30 Jahre andauern wird“ ein Tippfehler, oder sehen Sie das Ende des Kommunismus etwa 20 Jahre darauf nicht als Ende des politischen Winters?
Die Ostblock- Staaten waren weder sozialistisch noch kommunistisch.
Rückblickend würde ich sagen, in allen diesen Staaten, ausser der Ex- DDR und der RF, gab es nach 1990 einen kurzen Frühling, der kurz danach in einen noch kälteren Winter überging, welcher immer noch anhält.
Die heutigen ungarischen, polnischen, tschechischen und slowakischen Staaten befinden sich auf dem Weg immer tiefer in Nationalismus und Autokratie. Weit entfernt von den Werten, welchen sie sich nach dem Fall des eisernen Vorhangs zugehörig bezeichnet haben.
Was würde ein Vaclav Havel zum heutigen Tschechien sagen, was sagt Lech Walesa zum heutigen Polen? Die erbrechen sich.
Lech Walesa lebt noch!
Er hat sich zwar gegen die Justizreform gewandt und betont die Wichtigkeit der Gewaltenteilung. Aber ansonsten kann ich mir vorstellen, dass er in Vielem mit bigotten PiS-Anhängern überein stimmt (siehe seine Äusserungen zur Homo-Ehe).
Tschechien: Tragisch.
Ein russendevoter Verschwörungstheoretiker als Präsident und ein marktliberaler Kapitalist mit wenig Berührungsängsten korrupten Praktiken gegenüber und ohne jede politische Vision als Regierungschef… 50 Jahre nach einem Kampf für ein anderes Land.
Tragisch, tragisch.
Es waren nur 21 Jahre, danach folgte die demokratische Regierung von Vackav Havel, in Jahr 1989 …..
Aber was kam nach Vaclav Havel?