Es war einmal … der Rütlischwur

History Reloaded

Eine schöne Geschichte – aber eben nur eine Geschichte: Der Rütlischwur im Bild des Malers Johann Heinrich Füssli (1780). Foto: Wikipedia

Auf dem Rütli hätten 1291 nur Kühe geweidet, schrieb 1991 der Historiker Roger Sablonier im «Tages-Anzeiger» – und es stimmt: Das Rütli und der Rütlischwur sind keineswegs, wie oft gemeint, im Bundesbrief von 1291 erwähnt: Die Erzählung vom Schwur der drei Eidgenossen und von deren geheimen Zusammenkünften auf dem Rütli wird erstmals im Weissen Buch von Sarnen um 1470 überliefert. Im Originaltext des Weissen Buchs lautet die Passage vom Rütli (in neuhochdeutscher Übersetzung):

«Wenn sie beschlossen hatten, etwas zu unternehmen, so fuhren sie nachts am Mythenstein vorbei an einen Ort, heisst im Rütli (…). In dieser Zeit tagten sie nie anderswo als im Rütli.»

Wer hat diese Geschichten erfunden und das erste Mal erzählt? Es war der Obwaldner Hans Schriber, ein begabter Chronist. Von ihm schreibt Peter von Matt: «Kein Schweizer Autor hat je ein Werk von grösserer Wirkung hervorgebracht.» Ein seltsames Paradox sei nur, dass heute fast niemand den Namen Hans Schriber kenne. In England kennt jeder Shakespeare, der in seinem Hamlet – wie Schriber – Motive und Sagen aus der dänischen Geschichte des Roskilder Mönchs Saxo (+1220) übernommen und verarbeitet hat.

Ja, wer ist Hans Schriber, der die nordische Apfelschusssage von Saxo nach Altdorf verpflanzt hat?

Der Obwaldner Landschreiber

Schriber, aus Engelberg stammend, war im Rathaus zu Sarnen Landschreiber von 1434 bis 1478. Er war ein humanistisch gebildeter, politisch einflussreicher und angesehener Schreiber, Notar, Tagsatzungsabgeordneter und Schiedsrichter zur Zeit von Bruder Klaus. Um 1470 hat er, nach dem Brand von Sarnen, ein Kopialbuch mit Abschriften von wichtigen Urkunden der Staatskanzlei geschrieben.

Am Schluss dieses Kanzleibuchs, des Weissen Buchs von Sarnen, fügte Schriber eine Chronik über die Entstehung der Eidgenossenschaft bei und erzählt erstmals die Geschichte der Befreiung vom habsburgischen Joch durch den Tyrannenmord. Er schrieb diese tendenziöse, antihabsburgische Geschichte wohl nicht ganz ohne politische Absicht, da Obwalden wegen des Kollerhandels stets in offener Fehde mit Erzherzog Sigismund von Tirol lag und auch gegen einen Friedensschluss mit Habsburg-Österreich war (1474).

Schriber erzählt die «Befreiung» der Waldstätte vom Willkürregime der österreichischen Vögte mit episodenhaften Erzählungen: Die Blendung des Bauern im Melchi, das tödliche Bad in Altzellen, die Auseinandersetzung Stauffachers mit Gessler vor dessen Steinhaus in Schwyz, die Begründung des Geheimbunds in Uri mit den Beratungen und dem Schwur auf dem Rütli und die listenreiche Eroberung der unteren Burg von Sarnen. Der Obwaldner Landschreiber hat lokale Episoden, die damals im Umlauf waren, zu einer erzählerisch glänzenden Befreiungsgeschichte zusammengefügt, und sie in die ihm vertraute Kulisse um den Vierwaldstättersee hineingestellt – mitsamt dem Rütli und dem Schwur der drei Eidgenossen.

Durch diese hohle Gasse muss er kommen …

Höhepunkt der Erzählung ist die Tellsgeschichte. In der Tellsgeschichte kombiniert der Obwaldner brillant die nordische Tokosage und den Apfelschuss mit einer Urner Sage und dem unvermeidlichen, tödlichen Pfeilschuss auf Gessler in der Hohlen Gasse. Dazu wurde der Obwaldner offenbar durch einen zeitgenössischen Vorfall von 1465 angeregt, wo in einer hohlen Gasse im Schwarzwald der aus dem Zürichkrieg verfemte österreichische Hauptmann und Ritter Hans von Rechberg mit einem Pfeil erschossen wurde, zwar nicht aus politischen Gründen, sondern weil er der Braut des Schützen nachhielt.

Die Tellsaga inspirierte viele Künstler: Bild von Ferdinand Hodler (1897).

Die Geschichten aus dem Weissen Buch sind via die gedruckte Fassung des Luzerner Chronisten Petermann Etterlin (1507) von Schiller in sein 1804 vollendetes Drama «Wilhelm Tell» übernommen worden. Schillers Tell wurde zur literarisch fixierten eidgenössischen Freiheitsgeschichte und das Rütli, das «stille Gelände am See», im 19. Jahrhundert zum patriotischen Wallfahrtsort.

Sogar der «Märchenkönig» Ludwig II. folgte den literarischen Spuren Tells. In mondhellen Nächten fuhr er 1885 von Brunnen aus wiederholt über den See aufs Rütli und liess sich vom Schauspieler Ludwig Kainz Verse aus Schillers Drama rezitieren. Tell wurde in der Schweiz im 19. Jahrhundert zum nationalen Schauspiel.

Das Erstaunliche – und kaum Bekannte: Der Anfang dieses nationalen Schauspiels liegt in Sarnen, in der Chronik des Weissen Buchs von Sarnen, geschrieben um 1470 vom Obwaldner Landschreiber Hans Schriber. Ohne ihn und seine glänzend geschriebene Befreiungsgeschichte hätten wir vermutlich Schillers Tell und Rossinis gleichnamige Oper nie bekommen.

17 Kommentare zu «Es war einmal … der Rütlischwur»

  • Hansueli Kaufmann sagt:

    Die „Gesta Danorum“ (Die Taten der Dänen), in welcher auch die Abenteuer des Kriegers Toko beschrieben wurden, lag erst 1514 in gedruckter Form vor, somit lange nach der Lebenszeit des Obwaldner Chronisten Hans Schriber. Das einzige handschriftliche Exemplar aus dem 12. Jahrhundert befindet sich in der Dänischen Königlichen Bibliothek. Die These, dass ein Chronist in der damaligen Schweiz (1250 km entfernt) von diesen nordischen Sagen Kenntnis hatte und diese dann in eine schweizerische Urgeschichte hinein verarbeitete, scheint mir mindestens gleich fragwürdig als Erklärungsthese wie die Tell-Geschichte selber. Ebenso abenteuerlich ist die Erklärung für Tyrannenmord in der Hohlen Gasse. Da die Armbrust damals wohl die einzige Distanzwaffe war, lag deren Verwendung nahe.

    • Garovi Angelo sagt:

      Die Überlegung ist interessant. In der Tat ist eine vollständige Überlieferung der Gesta erst 1541 gedruckt worden (zusammengestellt aus Einzelteilen). Vom Originalmanuskript aus dem 12. Jh. sind nur noch kleinere Fragmente vorhanden. In der Mitte des 14. Jh. wurde ein Auszug gemacht (Compendium Saxonis), der dann im 15. Jh. stark verbreitet war und sogar ins Niederdeutsche übersetzt wurde. Eine Handschrift wird, wie der Literaturgeschichtler Max Wehrli vermutet, wohl über das Konzil von Basel in die Schweiz gekommen sein – darüber wurde in Humanistenkreisen diskutiert (wie auch über die Herkommenssagen). Auch Schriber scheint sie gekannt zu haben. Über die Armbrust als Waffe des 15. Jh. hat Werner Meyer („Burgenmeyer“) geschrieben, bei Tokio im 12. Jh war es ein Bogen.

      • Angelo Garovi sagt:

        Der Druck der Gesta in Strassburg war natürlich 1514 (nicht 1541, Verschrieb). Ja – und auch die Verbreitung durch Lieder ist anzunehmen: Beim Luzerner Chronisten Melchior Russ wird in den 1480er Jahren ein Tellenlied erwähnt. 1501 erschien eines im Druck. Und der „Hexenhammer“ mit einem Apfelschuss (allerdings auf eine Münze) ist 1488 sogar in Bern nachzuweisen.

      • Angelo Garovi sagt:

        Der Name des Schützen heisst natürlich Toko, in der ältesten überlieferten Handschrift (um 1400) in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen wird er mit zwei „kk“ geschrieben ( Tokko).

    • Thomas Hartl sagt:

      Sie unterschätzen die reichhaltige Lieder-, Sagen- und Märchenvielfalt des mittelalterlichen Europas. Zu einer Zeit, in der Singen und Erzählen für das einfach Volk eine der wenigen Unterhaltungsmöglichkeiten waren, kursierte eine Vielzahl mündlicher Überlieferungen. Durch Wandergesellen und Händler verbreiteten sich diese auch über grosse Distanzen. Sogar im berüchtigten Hexenhammer, der etwa zur gleichen Zeit wie das Weissbuch entstand, ist eine ähnliche Geschichte zu finden.

      • Peter Meier sagt:

        Der Gotthard war seit dem 14. Jahrhundert eine Fernhandelsroute. Da erzählte man sich an den langen Abenden in den Herbergen wohl die eine oder andere Geschichte aus fernen Ländern. Das gedruckte Buch als Hauptquelle von Geschichten ist eine relativ neue Erscheinung.

  • Fritz Swiss sagt:

    Es ist doch sehr interessant zu lesen, dass Leute, die über 600 Jahre nach 1291 geboren sind meinen, vieles besser zu wissen. Auf die historische Analyse des selbst ernannten Historikers Garovi kann ich verzichten. Es gab schon vor über 100 Jahren Pseudowissenschaftler wie ihn, aber die sind alle vergessen. Und das ist gut so.

    • Marcus Ballmer sagt:

      Träumen Sie weiter und glauben Sie an Märchen, Geschichten und Legenden. Es soll ja auch Erwachsene geben, die unverändert an den Weihnachtsmann, den Osterhasen und das Spaghettimonster glauben. Warum also nicht auch an einen Tell und einen Rütlischwur mit ebensolchem Wahrheitsgehalt. Nur sollten akzeptieren, dass man Sie nicht ernst nimmt mit ihrem kindlichen Trotz.

      • Jack Stoffel sagt:

        Swiss: Oh, wie schön! Sie sind offenbar eines der letzten perfekten Exemplare des praktisch ausgestorbenen super(senk)rechten Dumpfeidgenossen. Eine faktenresistente, realitätsferne, bildungsfeindliche, geschichtsleugnende Spezies.

    • Thomas Hartl sagt:

      @Fritz Swiss: Warum schreiben sie in einem Geschichtsblog, wenn Geschichte sie nicht interessiert?

    • Peter Meier sagt:

      Herr Swiss (warum eigentlich englisch?), der «selbst ernannte Historiker» Garovi ist nicht nur promoviert, sondern sogar habilitiert. Aber «selbsternannt» hört sich immer gut an, wenn einem die Argumente fehlen.

  • Jack Stoffel sagt:

    Ich finds grossartig, dass wir in einem Land leben, dessen angeblicher Nationalheld – als solcher höchst erfolgreich vermarktet von einem deutschen Nationalisten!! – nach heutigem Wissensstand nie existiert hat. Der Name Tell, so die Namenforschung, bedeutet höchstwahrscheinlich „einfältiger Schwätzer“. – Und so kommt die Sage auch daher: angeberisch, vom zeitlichen Ablauf her unmöglich, historisch falsch.
    Was ich jedoch heute noch skandalös finde: dass diverse Lehrer uns damals in der Primarschule Schillers erfundene bzw. abgeschriebene Geschichte als historische Wahrheit verkauft hatten.

    • Marcus Ballmer sagt:

      Nicht nur Tell, auch der Rütlischwur sind erfunden – und wenn man die diversen „Heldentaten“ der Eidgenossen unter die Lupe nehmen würde, dürften sich zahlreiche davon ebenfalls in Luft auflösen. Das schmerzt die Rechtsnationalen, die sich ja auf nichts anderes als Geschichtlein und erfundene Legenden stützen, ganz besonders. Entsprechen aggressiv reagieren sie, wenn man darauf aufmerksam macht. Nebenbei: uns wurden in der Schule die Heldensagen der Eidgenossen ebenfalls als Wahrheit eingetrichtert. Was habe ich später einstecken müssen, weil ich mich heftigst dagegen wehrte, es sei alles nur erfunden… – es hat lange gedauert, bis ich akzeptiert hatte, dass wir damals nur angelogen wurden.

  • Claude Fontana sagt:

    …und Sie Schworen beim Chrütli, bis sie es nicht mehr drin behalten konnten.

  • Othmar Riesen sagt:

    Die Situation von 1291 betr. Eidgenossen c. Habsburgern vor 727 Jahren soll die Schweiz 2018 für die Zukunft wappnen? Also bitte! Wie kann man nur einen solchen Stus glauben.
    Beste Grüsse
    O.R.

  • Angelo Garovi sagt:

    …und Tschudi geht auf das Weisse Buch zurück, das er 1569 in Sarnen abschrieb.

  • Christian Sieber sagt:

    Schiller hat die Tellsgeschichte über die Schweizerchronik von Aegidius Tschudi (1505-1572) rezipiert, deren 1734/36 erstmals gedruckte Ausgabe er sich in der Herzoglichen Bibliothek in Weimar für anderthalb Jahre ausgeliehen hat. Entsprechend sind einzelne Passagen bis in den Wortlaut Tschudi verpflichtet. Schillers „Wilhelm Tell“ ist ohne Tschudi nicht denkbar.

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