Ein Schweizer Vordenker und Vorkämpfer

Eine grosse Figur: Josef Victor Widmann. Foto: Keystone/Photopress-Archiv/Str

Die Schweiz mit ihrer pragmatischen Politkultur war noch nie das Land der grossen Intellektuellen. Zu den Ausnahmen gehört der 1842 geborene und 1911 als «Bund»-Redaktor verstorbene Josef Victor Widmann. Wenn der langjährige Feuilletonredaktor nicht völlig in Vergessenheit geraten ist, verdankt er dies seinem Verdienst, den Bieler Dichter Robert Walser entdeckt zu haben.

Widmann hat noch weitere Künstler entscheidend gefördert, beispielsweise den Maler Ferdinand Hodler, die Schriftstellerin Ricarda Huch oder Hermann Hesse. Vor allem aber war der erste Literaturredaktor der Schweiz ein politischer Vordenker und Vorkämpfer. So forderte er 1884 im Zusammenhang mit einer Debatte über die Volksrechte die Einführung des Frauenstimmrechts: «Auch im eingefleischtesten Referendumsdemokraten steckt ein Landvögtlein, so bald sich’s um die andere Hälfte der Menschheit handelt.» Um aufzuzeigen, wie grotesk der Ausschluss der Frauen ist, bringt Widmann zwei konkrete Beispiele: «In die Kirche gehen hauptsächlich unsere Frauen, aber die Pfarrer, die wählen wir Männer.» – «An den Schulprüfungen», denen mehr Mütter als Väter «beiwohnen», «hat die Frau bei den Lehrerwahlen kein Stimmrecht.»

Neben der Diskriminierung der Frauen war auch die der Juden ein Schlüsselthema. 1887, ein Jahrzehnt vor der Dreyfus-Affäre, warnte Widmann vor dem «antisemitischen Schwindel» in Frankreich. 1902 skandalisierte er ein Vorlesungsverbot für den jüdischen Literaturprofessor Robert Saitschick an der ETH Zürich. Er machte sich stark für das Asylrecht und nannte dessen Verteidigung eine «Rückenstärkung des demokratischen Republikanertums». 1888 erreichte er die Entlassung des Direktors einer Armenanstalt, in der «Pfleglinge» verprügelt worden waren.

«Unterströmung im Volke»

Josef Victor Widmann gehörte zu den Ersten, die 1886 die Kolonialgräuel im Kongo verurteilten. Dabei geisselte er die Komplizenschaft der «christlichen Missionäre». Folgenschwer war seine Polemik gegen Kaiser Wilhelm II., der 1888 an einem Bankett erklärt hatte, «lieber wird man achtzehn Armeekorps auf der Strecke liegen lassen», als Elsass-Lothringen aufzugeben. Widmanns Verurteilung eines solchen Ausdrucks aus der Jägersprache als «Menschenverachtung» veranlasste seinen Musikerfreund Johannes Brahms, ihm die Freundschaft zu kündigen. Es brauchte die Intervention Gottfried Kellers, sie wieder notdürftig zu kitten. Ein Jahr später wandte sich Widmann gegen die wachsenden Sympathien in führenden Kreisen der Schweiz für den deutschen Kaiser. Gleichzeitig stellte er fest, dass die republikanische «Unterströmung im Volke» profranzösisch sei.

Widmann hatte grosse Sympathien für den aufkommenden Pazifismus. So würdigte er 1890 Berta Suttners Schrift «Die Waffen nieder». Als Pionier des Tierschutzes nannte er «die Gleichstellung von Tieren mit leblosen Sachen eine Rohheit, welche allmählich überwunden werden wird». Es dauerte genau 99 Jahre, bis die Bundesversammlung im Jahr 2003 diesem Anliegen nachkam. Als Umweltschützer verfluchte Widmann das Auto als «pustenden, tutenden und stinkenden Hohn auf die Wohlfahrtsinteressen». Wie mutig Widmann war, zeigte ein Artikel nach einer Italienreise, in dem er Verständnis für Landarbeiter bekundete, welche einen anarchistischen Attentäter als Märtyrer feierten.

Sein Vater war Mönch

Seine Radikalität war das Aufbäumen eines klassischen Freisinnigen gegen den neuen «Militärgeist», den «frivolen Luxus von Ausbeutern», die Verwechslung von «Vaterlandsliebe» mit «Selbstbewunderung», wie er aus Gottfried Kellers Altersroman «Martin Salander» zitierte. Gemeinsam mit Keller war der Direktor der Berner Mädchenschule 1873 zuständig gewesen für die kulturelle Gestaltung der grössten Kundgebung der Schweizer Geschichte. Zugunsten der Totalrevision der Bundesverfassung in einem fortschrittlichen Sinne hatten sich in Solothurn 30’000 Radikale und Demokraten versammelt. Sieben Jahre später wurde Widmann von Konservativen als Rektor abgesetzt, weil seine Dichtung «eine zersetzende Weltanschauung» vertrete. In der Folge wurde er 1880 vom liberalen «Bund» als erster Literaturredaktor der Schweizer Pressegeschichte eingestellt.

Widmann war nicht nur eine besondere Persönlichkeit, er hatte auch eine sonderbare Herkunft. Sein Vater war Mönch in einem Kloster in der Nähe von Wien gewesen und hatte sich in die Tochter eines Buchhändlers verliebt. Die beiden türmten nach Mähren, wo Josef Victor auf die Welt kam. 1845 fand der in die Schweiz geflüchtete und zum Protestantismus konvertierte Vater in Liestal eine Stelle als Prediger. Das Pfarrhaus wurde bald zu einem geistigen Zentrum, in dem Carl Spitteler ein und aus ging. Das Porträt, das der spätere Nobelpreisträger über die Familie Widmann verfasste, verstand er als Beitrag über «den Einfluss» der «Flüchtlinge auf das Geistes- und Gemütsleben in der Schweiz». Dieses wäre ohne Josef Victor Widmann einiges ärmer gewesen und geblieben.

7 Kommentare zu «Ein Schweizer Vordenker und Vorkämpfer»

  • Beat Eberle sagt:

    Einen Denker zu würdigen ist nicht dasselbe wie eine Meinung zu etwas zu haben. Das Zweite scheint heute gefragt zu sein. Das twittert dann um die Welt. Die Freisinnigen, die Radikalen des 19./20. Jahrhundert, Männer wie Widmann, hatten noch eigene Ideen, die Zukunft zu denken und zu gestalten. Heute werden Meinungen gekauft und vertrieben, die den Status quo zementieren, die Alleinherrschaft des Kapitals. Weil jeder seine Meinung äussern darf, wähnt man sich demokratisch. Wahre Demokratie jedoch schützt die Minderheiten, die Andersdenkenden, die Querdenker und straft sie nicht über die Mainstream-Meinungs-Maschine ab. Insofern war Widmann ein Visionär. „Martin Salander“ von Keller zeigt exakt auf, was aus den radikalen Ideen in einer vom Geld regierten Welt wird. Bravo, Jo Lang!

  • Jürg Brechbühl sagt:

    So ein Zufall, dass vor 130 Jahren ein österreichischer Secondo das Parteiprogramm der Revolutionär Marxistischen Liga vorweggenommen hatte und ausnahmslos Positionen vertrat, die auch Jo Lang unterschreiben würde!

    • Jack Stoffel sagt:

      Brechbühl: Gründlich misslungen, Ihre Analyse.
      Die Positionen Widmanns waren nichts anderes als Ideen, die im Liberalismus des 19. Jahrhunderts (dem wir immerhin unsere gut funktionierende Demokratie verdanken) gerne diskutiert wurden. Aber die viel zu vielen Brechbühls des 19. und 20. Jahrhunderts sorgten in der Schweiz dafür, dass die Kellers und Widmanns so lange wie möglich nichts bewirken konnten und es heute so gut wie keine Liberalen mehr gibt.
      Noch was: Die Revolutionäre Marxistische Liga gibts schon lange nicht mehr, und ich argwöhne, dass Sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mal den Hauch einer Ahnung von deren Parteiprogramm haben. Insofern danke für Ihren Versuch in Nonsensdichtung.

  • Rolf Rothacher sagt:

    Josef Victor Widmann war mit Sicherheit ein bedeutender Mann. Doch die Betonung muss auf „war“ gesetzt werden. Nur weil Widmann gewisse Dinge zur Sprache brachte, die seiner Zeit „voraus“ waren, bedeutet keineswegs, dass er heute irgendeine Bedeutung für uns hätte. Nur weil wir in unserer so bigott gewordenen Welt uns kaum mehr zurechtfinden und uns die Linken mittlerweile einen Staat und ein Land beschert haben, in denen sich die bisherige Bevölkerung immer fremder vorkommt, bedeutet keineswegs, dass Widmann auch nur in einem einzigen Punkt Recht behält. Woher will Josef Lang heute wissen, dass die Entwicklungen der letzten 100 Jahre langfristig betrachtet sinnvoll für uns sind? Gerade als Historiker müsste er anerkennen, dass erst die Zukunft das zeigen wird.

    • Jack Stoffel sagt:

      Rothacher: Sie schreiben also, die seit beinahe ewigen Zeiten im eidgenössischen Parlament regierende und alles beschliessende rechtskonservativ-bürgerliche 75%-Mehrheit bestehe aus lauter Linken… Entweder velwechsern Sie fatalerweise lechts und rinks oder haben erbärmlich wenig bis gar keine Ahnung von der Schweizer Geschichte oder sind weltanschaulich in der Steinzeit stecken geblieben. Oder sind Sie gar SVP-Anhänger?

  • Jürg Brechbühl sagt:

    Für das Frauenstimmrecht und gegen den damals wie heute in der Schweiz nahezu inexistenten Antisemitismus und noch ein paar Sprüche zu weltpolitischen Themen und schon ist einer ein grosser Visionär????

    Nur weil Widmann zu allem möglichen eine Meinung hatte, zu Gott und der Welt sich äusserte, ist er noch lange kein intellektueller Vordenker.
    Wenn so wenig genügte, so müsste man nämlich dereinst eine Strasse und einen nationalen Feiertag nach Jürg Brechbühl benennen, dem visionären Trendforscher, dem Ökologie-Propheten und Staatsfeind No.1

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