Der lange Weg zur späten Emanzipation

History Reloaded

Feministinnen während eines Protestmarsches in London 1971. Foto: Getty Images

Über ein Erbe lässt sich erbittert streiten. Wer bekommt was? Will dieser oder jener Nachkomme überhaupt das Erbe antreten, was ja auch bedeutet, eine Tradition anzunehmen? Und: Was gehört alles zum Nachlass?

Fünfzig Jahre nach dem Revoltenjahr 1968 wird über das Erbe der Achtundsechziger gestritten. Schnell tun sich alte Fronten auf. Die Achtundsechziger haben mit den autoritären Strukturen aufgeräumt, schwärmen die einen, und verlangen zugleich, alleine definieren zu dürfen, worum es damals ging: Nur ein Vater-Sohn-Konflikt soll 1968 gewesen sein, ein Aufstand der Jungen gegen Ex-Nazis, die mit ihrem Schweigen, ihrer Gefühlskälte, ihrer Kultur des Verbots den gesellschaftlichen Wandel blockierten.

Die anderen poltern, 1968 sei der Anfang vom Ende gewesen, gesellschaftliche Verbindlichkeiten befänden sich seither im freien Fall, das Leitbild Kleinfamilie, das Christentum als gemeinsamer Nenner, das Heimatbewusstsein. Sie sind vielleicht selbst in dritter Ehe verheiratet, leben in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft, gehen nie in die Kirche oder arbeiten in globalisierten Firmen – doch das Erbe von 1968 schlagen sie rundherum aus.

Das alles klingt wie in den Jahren 1968 bis 1989, als im Kalten Krieg die Auseinandersetzungen zwischen links und rechts, progressiv und wertkonservativ lustvoll zelebriert wurden. Nur: Das Erbe des Jahres 1968 ist ein gemeinsames, und vor allem im Privaten ist es gar nicht so unversöhnlich, wie es den Anschein hat.

Die Historikerin Christina von Hodenberg hat an Hunderten zeithistorischer Interviews gezeigt, dass im Mittelpunkt vieler familiärer Auseinandersetzungen damals weniger die konkrete NS-Vergangenheit der eigenen Eltern als der Kampf um eine gelassenere Sexualmoral stand. Verhandelt wurden demnach zunächst moderate Fragen: ob vorehelicher Sex und Verhütung akzeptabel sind, ob geheiratet werden muss, wenn ein Kind kommt. Dinge also, von deren Liberalisierung heute längst Anhänger aller Parteien profitieren.

Die Alleinverdiener-Familie war kein Glücksversprechen mehr

Erst die Frauen- und Homosexuellenbewegungen, die 1968 ihren Ausgang nahmen, stellten weiterreichende Forderungen für das Zusammenleben. Plötzlich ging es nicht mehr um ein bequemeres, sondern um ein anderes privates Leben. Putz- und Sorgearbeiten sollten geteilt, Kinder gemeinschaftlich erzogen werden. Häusliche Gewalt wurde erstmals Thema. Medien mussten sich sagen lassen, welch veraltetes Frauenbild sie produzierten. Die Alleinverdiener-Ehe war nun kein Glücksversprechen mehr, sondern galt als Abhängigkeitsfalle. Und: War das 1968 so gefeierte Konstrukt der offenen Partnerbeziehung wirklich im Sinne einer freien weiblichen Sexualität? Warum sollten Schwule ihre Liebe nicht genauso offen ausleben wie Heterosexuelle?

Der Slogan der Patriarchatsfeinde lautete damals «Das Private ist politisch». Er ging bald unter in den öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Studierenden gegen den Vietnamkrieg oder die Universitätshierarchien. Es folgten Jahre des erbitterten Geschlechterkrieges, in denen oft kaum noch eine Verständigung zwischen Männern und Frauen möglich erschien. Das hat das hoffnungsvolle Potenzial dieses Slogans lange dunkel vernebelt.

Jetzt sprechen die legitimen Erben von 1968

Jetzt aber, zwei Generationen nach 1968, entfaltet der Satz seine emanzipatorische Wucht und steht gleichberechtigt neben den allgemeinpolitischen Erfolgen der Studentenbewegung. In den vergangenen Jahren war die Parole «Das Private ist politisch» noch vielfach missverstanden worden als «Alles Private ist öffentlich». Das hatte zu einem Bekenntniswahn des Intimen in sozialen Medien und anderswo geführt und ist politisch nur insofern, als dass so viel plauderhafte Unbefangenheit Datenschutzprobleme mit sich bringt.

Seit dem Beginn der «Me Too»-Aktionen im Herbst 2017 aber besinnen sich immer mehr Menschen auf den utopischen Gehalt der Forderung von einst: Macht und Gewalt sind politisch, und wenn sie ins private Leben hineinragen und dort systematisch Schaden anrichten, dann gehört das benannt, veröffentlicht, gestoppt.

Vorangetrieben wird diese Entwicklung nicht von Politikern, sondern von Künstlern, die es gewohnt sind, im Kleinen das große Ganze zu erkennen. Den Anfang machten US-Schauspielerinnen mit ihren Berichten sexueller Übergriffe hinter den Kulissen ihres Berufs. Und gerade hat der Schriftsteller Christian Kracht in einer bewegenden Rede erzählt, wie ein Erzieher ihn als Knaben misshandelt hatte und was das für seine persönliche und literarische Entwicklung bedeutet. Derweil reicht die New Yorker Met Opera nach Aussagen missbrauchter Mitarbeiter Klage gegen den Dirigenten James Levine ein.

Die jetzt reden, sprechen auch für andere Betroffene. Sie sind die legitimen Erben einer der besten Errungenschaften von 1968. Es ist die Erkenntnis, dass eine Macht nur besteht, solange alle an sie glauben. Gemeinsames Reden und Handeln kann die Verhältnisse demokratisieren – für Frauen und Männer gleichermassen.

7 Kommentare zu «Der lange Weg zur späten Emanzipation»

  • Viola sagt:

    „…ist Emanzipation in meinen Augen nur soweit möglich, wie die Männer gewillt sind, Macht abzugeben.“ Ich kenne einige Männer die gerne etwas „Macht abgeben“ würden, leider sind viele Partnerinnen nicht begeistert davon. Ich kenne keine die ihrem Mann auch nur irgendeines seiner Hobbys und Vorlieben finanziert. Umgekehrt kenne ich einige Fälle in denen der Mann der Frau ihren frühen Kinderwunsch finanziert. In einem besonders schweren Fall hat die Frau dem Mann sogar mit Trennung gedroht falls das mit dem Kind nicht bald was wird (leider gab er nach).
    Kurz gesagt: Sind Frauen auch tatsächlich bereit auch die erhöhte Verantwortung die mit dem Anstieg an Macht im privaten mit einzieht zu übernehmen? Meiner Erfahrung nach gibt es dort Nachholbedarf. Solange sich dort nichts ändert…

  • Sportpapi sagt:

    „War das 1968 so gefeierte Konstrukt der offenen Partnerbeziehung wirklich im Sinne einer freien weiblichen Sexualität?“
    Warum nicht?
    Und: offene Paarbeziehung? Oder gar keine Paare mehr?
    Insgesamt scheint mir das alles sehr weit ausgeholt und wenig schlüssig argumentiert. Vor allem: Legitime Erben der 68er? Wirklich?

  • Maike sagt:

    Da wir nach wie vor in einem Patriarchat leben, ist Emanzipation in meinen Augen nur soweit möglich, wie die Männer gewillt sind, Macht abzugeben. Bestes Beispiel Abtreibung. Auch wenn es per Gesetz erlaubt ist, können sich viele (männliche) Ärzte weigern, weil das degen ihre christliche Grundeinstellung geht. Oder das unterschiedliche Lohnniveau zwischen Mann und Frau wird durch wen festgelegt ? Durch Männer. Da können wir Frauen noch hundert Mal auf die Strasse gehen. Wenn sich diese Altherrenriege nicht bewegt, passiert da garnichts.
    Und was Herr Schrader als Trittbrettfahrer abtut, ist schlich weg falsch. Herr Kinsey hat 1953 über das Sexualverhalten der Frauen geschrieben und die 68er haben es aufgegriffen und weitergeführt.
    Die DDR war ja auch kein leninistischer Trittbrettfahrer !

    • Ralf Schrader sagt:

      Die Interruptio ist keine medizinische und damit auch keine ärztliche Aufgabe. Ärzte führen diese im politischen Auftrag aus, allein wegen der methodischen Voraussetzungen. Deshalb kann man diese Leistung nur erbitten, nicht einfordern. Das gilt auch für alle anderen gesundheitspolitischen, nichtmedizinischen Aufgaben wie Impfen, Assistenz bei der normalen Geburt, Vorsorgeuntersuchungen, usw..

      • Viola sagt:

        „Oder das unterschiedliche Lohnniveau zwischen Mann und Frau wird durch wen festgelegt ? Durch Männer.“ Ist das wirklich so? Gerade bei der ersten Gehaltsverhandlung beim Vorstellungsgespräch sitzt man ja wohl mit Leuten vom HR zusammen, meist sind das aber in der grossen Mehrzahl Frauen. Soviel dazu wenn es um einen bestimmen Job geht. Der grösste Teil des Lohnunterschieds ist wohl den Frauen selbst anzulasten. Tut mir leid aber niemand hält Frauen von technischen berufen ab, Sexismus auch nicht. Den gibt es mindestens im selben Ausmass in Spitälern und da arbeiten viele Frauen.
        Auch „Altherrenriege“ ist nicht wörtlich gemeint, oder? Schliesslich sitzen im Silicon Valley eher Leute einer jüngeren Generation und da verdienen Frauen, im Schnitt wohlgemerkt, auch weniger.

  • Ralf Schrader sagt:

    Alles ist politisch und wenn man tatsächlich mal etwas findet, was nicht politisch ist, kann man es vernachlässigen. Man muss sich nur verständigen, was unter Politik zu verstehen ist. Da gehen die Meinungen weit auseinander, obwohl es verbindliche Definitionen gibt.

    Allerdings darf man davon ausgehen, dass Alles, was individuelle Dimension hat, Sexualität und persönliche Freiheiten, nicht gerade 1.- Reihe- Probleme sind. Man kann gelegentlich mal darüber reden, wenn die restlichen Thema zeitweilig ausgegangen sind. Auch erwarte ich vom reaktionärsten Ort der Welt, Hollywood, oder die UA als Ganzes, keine nennenswerten Impulse.

    Ich habe übrigens mal gelernt, dass die 68’er nur Trittbrettfahrer für Tendenzen waren, die sich lange davor etablierten, Stichwort Kinsey- Report.

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