Der neue Feminismus zementiert alte Rollenbilder

History Reloaded

Die bürgerlich-industriellen Gesellschaften schufen erst die Rollenbilder, die manche heute als «natürlich» bezeichnen. Foto: Popperfoto, Getty Images

«Feminismus» liegt im Trend. Wurden Feministinnen früher als Emanzen verschrien, scheint die Welt zurzeit nur noch aus Feministinnen und Feministen zu bestehen. Jung und alt, rechts und links loben die Tugenden der Frauen, ihre Einfühlsamkeit und ihren Gerechtigkeitssinn. Am weiblichen Wesen muss die Welt genesen.

Aber Feminismus ist nicht gleich Feminismus. Im Prinzip verfolgen die unzähligen Strömungen zwar die Aufhebung von Geschlechterhierarchien, über die Bedeutung der Kategorie Geschlecht sind sie sich jedoch uneins. Die Differenzfeministinnen und -feministen bestehen auf dem biologisch begründeten Unterschied von Frau und Mann. Der Gleichheitsfeminismus hingegen propagiert die grundsätzliche Gleichheit aller Geschlechter und führt die angeblich natürlichen Unterschiede zwischen ihnen auf kulturelle Traditionen und gesellschaftliche Machtverhältnisse zurück.

Wissenschaftlich befassen sich die Gender Studies mit der Kategorie Geschlecht. Sie weisen die soziale Konstruktion der Geschlechter nach: Biologie sei immer auch Kultur. Deswegen stellen sie die Eindeutigkeit der biologischen Geschlechtsmerkmale infrage. Letztendlich seien diese eine kulturelle Interpretation des Körperlichen.
Genau diese Forschung haben reaktionäre und bürgerlich-konservative Kreise jüngst zum neuen Feindbild erkoren. Sie bekämpfen den «Genderismus», den sie als Gleichmacherwahn oder «Gender-Blödsinn» abtun.

Die Erfüllung in der Mutterrolle

Wie schön waren die Zeiten, als Mann noch Mann und Frau noch Frau sein durften! Gewiss – doch nur für die, die sich daran hielten. Zart besaiteten oder einfühlsamen Männern wurde im 19. und 20. Jahrhundert ein effeminiertes, also «verweiblichtes» Verhalten vorgeworfen. Sie galten als «weibisch», weil sie nicht der «klassischen» männlichen Geschlechterrolle entsprachen. Drangen Frauen in die männlichen Sphären von Beruf und Öffentlichkeit ein, diffamierten ihre Gegner sie als «Mannweiber». Sie kämen ihren reproduktiven «Pflichten» nicht nach oder nähmen sich gar heraus, intellektuell oder politisch tätig zu sein. Die Frau sollte ihre Erfüllung in ihrer Funktion als Mutter finden. Immerhin: Die Bürgersfrau durfte sich philanthropisch betätigen und für die Armen Geld sammeln.

Im Paris der Belle Epoque etwa erregt die berühmte Diseuse und Schauspielerin Yvette Guilbert, die von Toulouse-Lautrec unvorteilhaft porträtiert wird, die Gemüter. Von den einen für ihre spitze Zunge gelobt, wird sie von andern als Prostituierte verschrien. Sie sei ein «Mannsweib», schreibt ein Schriftsteller vernichtend, eine «grosse, hagere Person mit eckigen, saloppen, gesucht unschönen, aber suggestiven Gesten», zeige einen «erschreckenden Cynismus, eine verruchte Blasiertheit», dieses «lebendig gewordene Plakat, halb verblühte Kokotte, halb englische Gouvernante».

Unakzeptable Grenzüberschreitungen

Hundert Jahre früher hat das Mannweib eine positive, wenn auch aus heutiger Sicht durchaus ambivalente Bedeutung: In «Wilhelm Meisters Lehrjahre» beschreibt Goethe, wie der Protagonist beim Betrachten eines Gemäldes vom Antlitz der Amazone Chlorinde ergriffen wird. Ihre «Mannweiblichkeit» habe «mit ihrem ganzen Tun und Lassen» seinen «Geist» angeregt. Im Mannweib sieht Goethe die ganzheitliche Symbiose von männlicher Vernunft und weiblichem Gefühl. Hier kommen die komplementären Geschlechter zusammen, die nicht grundsätzlich geschieden sind. Noch haben die Naturwissenschaften die biologischen und charakterlichen Differenzen der zwei Geschlechter nicht festgeschrieben.

Im nachkommenden Jahrhundert wird die bürgerliche Gesellschaft, flankiert von den Wissenschaften, zu einer männlich dominierten. Das «Weib» wird in den privaten Bereich des Hauses verwiesen, der Mann hat seine Rolle als Oberhaupt für Staat und Gesellschaft zu erfüllen. Das Mannweib ist nun nicht mehr Symbiose von Mann und Frau, sondern Auswuchs einer unakzeptablen weiblichen Grenzüberschreitung.

Mittlerweile interessiert das Mannweib niemanden mehr, nicht zuletzt wegen der feministischen Bewegungen, die einem einseitigen Biologismus den Kampf angesagt haben. Der neue, alte Differenzfeminismus aber stützt den Geschlechterdualismus und zementiert damit hetero-normative Rollenbilder, auch wenn er Geschlechtergerechtigkeit fordert. Wir sind wieder bei Goethe und der Komplementarität der Geschlechter angelangt. Und bald kehrt wohl das «Mannweib» wieder.

16 Kommentare zu «Der neue Feminismus zementiert alte Rollenbilder»

  • gabi sagt:

    „Feminismus“ liegt im Trend?

    – von wegen!

    Es ist zu einem vollkommen sinnleeren Ausdruck verkommen, wie schon die ersten beiden Abschnitte andeuten.

    Wenn links, rechts, alt, jung damit können und „unzählige Strömungen“ sich uneins sind, dann beweist das ja nur noch eins:

    Mittlerweile kann unter „Feminismus“ alles und jeder. Da Wort halt damit keinerlei Bedeutung mehr; es ist zur blossen Floskel verkommen, die man sowohl für die eine, als auch für die genau gegenteilige Position ins Feld führen kann.

    „Feminismus“ ist Geschichte.

    Wohl nicht zuletzt, weil sich emanzipierte Frauen schon seit Dekaden lieber konkreten Problemen und Missständen widmen, anstatt bloss hohle Phrasen zu plappern

    Der Feminismus ist an seinem Mangel an emanzipierten Frauen gescheitert.

  • Gina Günthard sagt:

    Ein toller und differenzierter Artikel von Miriam Janett. Wissenschaftliche Gender-Studien sind bei diesem emotionalen Thema äusserst wichtig.

  • Rachel Tanner sagt:

    In Zeiten der Renaissance, also 15.-16.Jhdt. waren die Rollenbilder sogar genau umgekehrt zu denen von heute. Damals war ein „echter Mann“ nur einer, der mindestens einmal pro Tag in Tränen ausbrach, am liebsten verzweifelte der „wahre“ Mann an der kalten Rationalität der Frauen. Damals galten Männer als besonders gefühlsbetont und zeigten dies auch gerne öffentlich. Wohingegen die Frau mit emotionaler Kälte und purer Rationalität ausgestattet war. Sie musste natürlich auch den ganzen Hausstand zusammenhalten und dafür sorgen, dass die Männer sich nicht zu irrationalen Handlungen hinreissen liessen, vor allem in Bezug auf Geld. Das nur zur Soziologie von Geschlechterrollen.

  • Eduardo sagt:

    Der sensible, zärtliche, rücksichtsvolle und aufmerksame Mann wird von den Feministinnen offiziell gefordert und doch selbst oder vielleicht sogar besonders von den Lesben instinktiv zutiefst verachtet. Als heimlich belächelter erkahlender schwuler Zausel mit kurzen Beinen in rosa Latzhosen wird er allenfalls als serviler Mitarbeiter in Genderbüros geduldet 😉

    Der kalte, egozentrische, testosterongeladene Mann dagegen, also der Macho, ist es, der die Frauen und ganz besonders linke Frauen in sein Bett bekommt.

    Dies nach dem Motto: „Wage es ja nicht, mir zu nahe zu kommen. Wenn es dir jedoch gelingt, meinen Widerstand zu überwinden, werde ich dir bedingungslos zu Füssen liegen!“

    Achtung, Frauen und Männchen, sofort einen persönlichen Angriff auf mich starten! 😉

  • Andreas sagt:

    >“Sie weisen die soziale Konstruktion der Geschlechter nach: Biologie sei immer auch Kultur. “

    Korrekter wäre: „Sie versuchen, eine soziale Konstruktion der Geschlechter nachzuweisen: Biologie sei immer auch Kultur. “

    Studien und Statistiken zeigen jedoch genau das Gegenteil auf. In Ländern, wo am meisten für Gleichstellung getan wurde und wird (Skandinavien), haben sich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sogar vergrössert, beispielsweise was Studienfelder und Jobwahl betrifft.

    • Ralf Schrader sagt:

      Wenn die Biologie das Risiko der bigeschlechtlichen Fortpflanzung eingeht, lohnt das nur, wenn die beiden Partner sich so weit, wie es die Art zulässt, unterscheiden. Nur so kann ein Nachkomme entstehen, der möglichst weit von beiden Eltern entfernt ist. Würde die Biologie weitgehend identische Reproduktionen der Eltern wünschen, reichte die ja die bereits vorhandene Möglichkeit der eingeschlechtigen Vermehrung.

      Auch sozial und politisch wünschen wir uns mehr Viel- als Einfalt. Umso mehr sich Binnengruppen, unter denen auch Männer und Frauen, unterscheiden, umso reicher ist die Bevölkerung und damit deren Kultur. Nur Chancen und Zukunftsperspektiven sollten davon nicht verzerrt werden und politökonomische Geschlechtscluster, z.B. in Parlamenten, wünschen wir nicht.

  • coco black sagt:

    der neue feminismus ist der queere feminismus und zementiert mal so gar nichts an rollenbildern. die rollenbilder sind auch nicht alt.

  • Jürg Oberli sagt:

    Ein Gunning-Fog Index von 17. Geil.
    Seit wann ist der Tagi eine akademische Fachzeitschrift?

  • sepp z. sagt:

    Das Äquivalent zum Mannsweib ist das Weichei. Interessanterweise wird das Bild vom schwachen Mann heute gerne von Feministinnen im Kampf gegen Männer bemüht und beschimpft. Als Beispiel sei auch hier im Tagi ein Artikel von Ch. Binswanger erwähnt, übertitelt mit: „Hört auf zu flennen, ihr Memmen“.

    Da sieht man, dass Rollenbilder der Geschlechter für Feministinnen durchaus willkommen sind. Wenn sie nämlich opportunistisch gegen die Männer angewandt werden können.

  • Ralf Schrader sagt:

    ‚Sie weisen die soziale Konstruktion der Geschlechter nach: Biologie sei immer auch Kultur.‘

    So ist das natürlich falsch. Die Konstruktion eines sozialen Geschlechts erweitert das bereits 2- dimensionale biologische. Alles was in den Gültigkeitsbereich der Naturwissenschaft Biologie fällt, hat zuallererst ein chromosomales Geschlecht, eine Zell- oder genetische Eigenschaft. Die Tatsache, dass der menschliche Chromosomensatz diploid ist, verweist auf Zweigeschlechtigkeit. 3- geschlechtige Wesen, welche die Biologie bisweilen annahm und nach denen erfolglos gesucht wurde, hätten einen triploiden.

    Individuen können Zellen nur eines, aber auch beider Geschlechter haben. Wenn es nur ein Zellgeschlecht gibt, beim Mensch, dann gibt es das Geschlecht auch als individuelle Eigenschaft.

    • Ralf Schrader sagt:

      Dennoch kann ein Individuum mit definierten chromosomalen und individualen Geschlecht anders als dieses erscheinen, sich anders fühlen. Das wäre dann die dritte, nicht mehr biologische Ebene, das phänomenologische Geschlecht.

      Das phänomenologische Geschlecht ist vor allem bei den Wenigen wichtig, welche kein eindeutiges biologisches haben, die Trans- oder Intersexuellen. Ein abweichendes phänomenologisches Geschlecht berechtigt zu einer chirurgischen Korrektur der äusseren Geschlechtsmerkmale.

      Darüber steht schliesslich das soziale Geschlecht, die Hauptrolle, welche ein Mensch im sozialen oder gesellschaftlichen Kontext einnimmt. Nur überschreiben soziales und phänomenologisches Geschlecht nicht das biologische, sie erweitern dieses.

    • Ralf Schrader sagt:

      Als kleine Zugabe oder Denkanstoss: Wenn ein leukämiekranker Knabe eine Knochenmarktransplantation von einem Mädchen erhält, hat er zeitlebens deren weibliches Blut in den Adern. Dann ist der Knabe individual zweigeschlechtig. Es gibt bisher aber keine Hinweise auf Konsequenzen für das phänomenologische oder soziale Geschlecht.

      Es zeigt vielleicht nur, dass es sprachlich und inhaltlich mühsam ist, den Begriff ‚Geschlecht‘ über 4 Instanzen zu schleifen. Im Englischen ist man da mit ‚Sex‘ und ‚Gender‘ deutlich besser bedient.

    • coco black sagt:

      wenn das biologische geschlecht (englisch: sex) so eindeutig wäre… es gibt chromosomen (xx, xy), ja, aber auch dort gibt es xxx, xxy. zudem ist wichtig, welche abschnitte aktiviert sind. epigenetik spielt auch hinein. dann kommen noch die hormone (die so gar nicht binär sind) und der phänotyp (der ebenfalls so gar nicht binär ist: intersex mal so als denkanstoss) und dann noch die funktionsweise der rezeptoren… nun stellen wir uns noch die kombination all dieser nicht eindeutigen biologischen geschlechteraspekte vor… da komme ich auf deutlich mehr als 2.

      • Ralf Schrader sagt:

        Das phänomenologische Geschlecht, der Phänotyp, ist nicht binär. Aber das chromosomale und das individualbiologische sind binär. Ein Nachkomme wird durch das Verschmelzen genau zweier Keimzellen erzeugt, was sich im diploiden Chromosomensatz beweist.

      • Eduardo sagt:

        Einverstanden, aber zu sicherlich 99 Prozent dürfte das mit der chromosomalen, hormonellen und phänotypischen Binarität ganz gut hinkommen und auch bei der geschlechtlichen Orientierung noch zu 93 bis 95 Prozent.

        Warum also trotzdem die völlig und ohne jedes Wenn und Aber zu respektierenden, aber eben untypischen Ausnahmen (X0, XXY (XXXY, XXXXY usw.) und XYY, chromosomale Mosaike diverser Art, komplette und teilweise testikuläre Feminisierung, Hyperandrogenismus und manch anderes sowie Homo- und Transsexualität aus modischen ideologischen Gründen zu Regelfällen machen?

  • Martin Frey sagt:

    „Der neue, alte Differenzfeminismus aber stützt den Geschlechterdualismus und zementiert damit hetero-normative Rollenbilder, auch wenn er Geschlechtergerechtigkeit fordert.“
    Was für ein Konstrukt!
    In einem Satz wird ansatzweise versucht, bei der Schilderung der Feminismusströmungen Objektivität walten zu lassen, nur um nachher den Differenzfeminismus in die Pfanne zu hauen. Natürlich ohne sich mit seinen Thesen oder auch nur ansatzweise mit Biologie auseinanderzusetzen. Lieber gräbt man etwas in der Geschichte und präsentiert Anekdoten.
    Genau an dem krankt alles, was irgendwie nach „Gender“ tönt und so gerne Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nimmt: Wenn aus ideologischen Gründen Resultate im Voraus feststehen, hat alle „Forschung“ dazu mit Wissenschaft nichts zu tun.

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