Paris und die korsische Frage

Gilles Simeoni. Foto: Jean-Paul Pelissier (Reuters)

In seinem Büro in Ajaccio stehen die Flaggen Korsikas und der EU, nicht aber jene Frankreichs: Gilles Simeoni, Regierungschef seit Ende 2015. Foto: Jean-Paul Pelissier (Reuters)

«Die Geschichte Korsikas ist auch ein Teil der Geschichte Frankreichs», sagte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, als er die «Ile de la Beauté» im Februar 2018 besuchte. Tatsächlich ist die Vergangenheit Korsikas eine Geschichte der Unterdrückung und Fremdherrschaft wechselnder Mächte. Seit 250 Jahren sitzt diese Macht nun in Paris.

Die Insel gehört zuerst den Römern, dann Byzanz und ab 758 dem Papst, der ihre Verwaltung 1077 dem Bistum Pisa überträgt, weil er sie nicht gegen die regelmässig einfallenden Sarazenen zu schützen vermag. Nach der Niederlage Pisas gegen Genua übernimmt der aufstrebende Stadtstaat 1284 die Macht über Korsika. Bauernaufstände, Kriege gegen Aragon und eine kurzzeitige Besetzung Frankreichs sind die Folge.

Ab 1729 erheben sich die Korsen abermals gegen Genua. In ihrer Verzweiflung wählen sie den deutschen Abenteurer Theodor von Neuhoff zu ihrem König – eine kuriose Episode, die nach neun Monaten bereits wieder beendet ist. 1755 kann der Freiheitskämpfer Pasquale Paoli die Genuesen vertreiben. Er gibt der Insel eine moderne demokratische Verfassung und regiert sie als quasi souveränen Staat unter genuesischer Herrschaft. Am 15. Mai 1768 schliesslich kauft Frankreich Korsika dem chronisch hoch verschuldeten Genua für zwei Millionen Francs ab. Paoli lehnt sich gegen die Franzosen auf, muss aber nach einem Jahr heftiger Kämpfe die Waffen strecken und geht ins Exil.

Minderheit auf der eigenen Insel

Der Anschluss an Frankreich ist besiegelt. Die Insel wird als Provinz in den Staat integriert, doch ihre Beziehung zum Festland gleicht jener einer Kolonie. Später stärken die Erfahrungen der Weltkriege und der Resistance die Bindung Korsikas ans Festland. Doch der Burgfriede währt nicht lange. Nach der Unabhängigkeit Algeriens entschädigt die Regierung de Gaulle die Algerien-Franzosen auf Korsika grosszügig mit Ländereien.

Die Korsen werden zur Minderheit auf ihrer Insel. Ihr altes Trauma, fremdbestimmt zu sein und zu kurz zu kommen, bricht wieder auf. Die Konflikte entzünden sich an gepanschtem Wein und Landbesitz von Nicht-Korsen. Die Besetzung eines Weinguts, bei dem es zu einer tödlichen Schiesserei mit der Polizei kommt, und der anschliessende Prozess markieren 1976 die Geburtsstunde der gewaltbereiten Unabhängigkeitsbewegung «Front de libération national corse» (FLNC). Viele Jahre gehören Bombenanschläge zum Alltag der Korsen.

2014 dann die Wende: Die FLNC verkündet einen Waffenstillstand und ebnet damit den diversen Gruppierungen von Nationalisten und Separatisten den Weg, ihre Kräfte zu bündeln. Seither haben sie alle Wahlen gewonnen. Regierungschef Gilles Simeoni und Parlamentspräsident Jean-Guy Talamoni befinden seit 2015 im Rahmen der Korsika gewährten Kompetenzen über Wirtschaft, Soziales und Verkehr. Dies reicht ihnen freilich nicht. Sie fordern Steuerhoheit, das Korsische als zweite Amtssprache, die Begnadigung «politischer Gefangener» und die Bevorzugung der Korsen beim Immobilienkauf. Ihr Ziel ist eine Autonomie nach dem Vorbild Kataloniens.

Der Vergleich mit Katalonien

Anders als in Barcelona strebt man in Ajaccio nicht die Unabhängigkeit an – zumindest noch nicht. Talamonis Fernziel ist ein Unabhängigkeitsreferendum in 10 bis 15 Jahren. Derzeit aber wissen sowohl Talamoni, der Frankreich «un pays ami» zu nennen pflegt, als auch Simeoni, in dessen Büro die Flaggen Korsikas und der EU stehen, aber keine Frankreichs, dass Korsika für eine vollständige Loslösung zu abhängig ist vom Pariser Geld. Wie die Katalanen zeigen auch die Korsen mit dem Finger auf die Hauptstadt, wenn es mit der politischen Lösung harzt. Paris müsse sich bewegen, heisst es. Oder: Paris blockiere alle Entscheidungen, weil es die Verfassung nicht erlaube.

Tatsächlich erteilte Macron bei seinem Korsika-Besuch dem korsischen Forderungskatalog eine Absage mit dem Hinweis, dafür bräuchte es eine Verfassungsänderung. Er plädierte für eine Politik der kleinen Fortschritte. Der erste soll jene Verfassungsreform sein, mit der Korsikas Sonderstatus festgeschrieben werden soll. Damit könnten die Gesetze der «unteilbaren Republik Frankreich» an die Besonderheiten Korsikas angepasst werden. Die Reform soll 2019 verabschiedet werden.

Dies wird weder dem radikalen Separatisten Talamoni noch dem moderaten Autonomisten Simeoni genügen. Die «korsische Frage» dürfte nicht so bald eine Antwort erhalten. Solange wird die Geschichte Korsikas ein Teil der Geschichte Frankreichs sein.

5 Kommentare zu «Paris und die korsische Frage»

  • Marielle Larré sagt:

    Diese kurze Geschichte Korsika ist sehr interessant. Allerdings: als ich zur Abschnitt über die Algerien-Franzosen kam, wurde es mir leicht mulmig. Die sogenannten Pieds noirs haben nie Land als Entschädigung bekommen. Weder De Gaulle (der die Pieds noirs nicht mochte) noch Pompidou haben sich der Frage der indemnisation angenommen. Erst mit Giscard und Mitterrand kam Bewegung in der Sache. Als Entschädigung für die verlorenen Güter in Algeria (siehe https://www.memoireonline.com/01/06/69/m_debat-guerre-algerie-le-monde26.html) kam nur Geld in Frage. Die Algerien-Franzosen haben die vom Crédit Agricole angebotenen Kredit-Möglichkeiten gepackt und in Korsika Ländereien gekauft, die die Korsen nicht wollten, weil sie diese als minderwertig betrachteten (Namen wie Ghisonaccia zeugen davon).

  • M. Seiler sagt:

    Bevor man da eine Befriedung durch die Resistance sehen will: Besser mal nachlesen – leider überall verstreut – wie die kriminellen Korsen den Nazis in Südfrankreich geholfen haben bei der Unterdrückung des Aufstandes im Hafen von Marseille und anderer Schweinereien.
    Oder das Ausfechten von Clan-Kämpfen in den 70ern in Nizza mit nichtbeteiligten Toten.

    • M.T. sagt:

      ….die kriminellen Korsen …
      Kriminelle gibt es in jeder Gesellschaft und in diesem Fall mit ihrer Ausführung alle Korsen, Kriminelle, Kollaborateure und Mafiosi in einen Topf zu werfen, ist unpassend.
      M.T.

  • Anh Toàn sagt:

    Unter dem Dach der EU werden wir noch viele solche Bestrebungen sehen, weil sie unter dem Dach der EU möglich wurden, ohne kriegerische Auseinandersetzung. Bei einer kriegerischen Auseinandersetzung müssen sich die Sezessionisten sich fast immer immer in die starken Arme eines „Befreundeten“ begeben müssten, den die Sezessionisten sind eine Minderheit und haben keine Armee, keine Strukturen, ein Machtmonopol durchzusetzen. Sie riskieren, nur ihren Herrn zu tauschen. Ich schreibe „möglich wurden“, obwohl ausser in Ex Jugoslawien noch nirgendwo tatsächlich eine Abspaltung erfolgte, aber das Thema Katalonien ist noch nicht erledigt. In Ex Jugoslawien sage ich, mindestens so richtig wie simplifizierend finde ich, war Krieg, bis die EU sagte, nur ohne Krieg könnt ihr zu uns.

    • Anh Toàn sagt:

      „die Gesetze der «unteilbaren Republik Frankreich»“, das ist so 20 Jahrhundert Nationalstaatslüge: Die Wallonen sind doch nicht weniger Franzosen als die Korsen oder die Bretonen. Sind doch Welsche die Wallonen, wie unsere Welschen in der Schweiz auch. Die EU ist ein Schritt auf dem Weg, das Dogma vom natürlich entstandenen oder gottgewollten Nationalstaat zu überwinden. („Im Namen Gottes. Amen!“, unsere „National“hymne ist ein Psalm, eine Hymne auf Gott). Ich kenne keinen Nationalstaat, in welchem (fast) nur und (fast) alle Angehörigen einer Nation im Sinne der Definition leben.

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