Das Wort war nicht immer frei

Emotionale Angelegenheit: Stimmberechtigte an der Glarner Landsgemeinde am 1. Mai 1994. Foto: Keystone

Das Abstimmen per Hand hat ja etwas Ursprüngliches, genuin Demokratisches. Das gibt es nur noch in Gemeindeversammlungen oder an der Landsgemeinde. Am ersten Sonntag im Mai tagt der Kanton Glarus, eine Woche zuvor Appenzell Innerrhoden. Wenn sich am Sonntag also die «hochvertrauten, lieben Mitlandleute» auf dem Glarner Zaunplatz treffen (so beginnen die Redner ihre Voten), wählen sie Richter, Landammann und Landesstatthalter. Und sie stimmen über ein Dutzend Sachgeschäfte ab, darunter Hundekurse, Radwege, Finanzausgleich, Steuerfuss, Geld für Sport und Tourismus. Aber auch über die Einführung des Öffentlichkeitsprinzips für die Glarner Verwaltung. Jeder Bürger soll amtliche Dokumente einsehen können.

So weit der pragmatische Teil. Darüber hinaus ist die Landsgemeinde ein Ritual, das Zuschauer aus ganz Europa fasziniert. Die Versammlungsdemokratie, früher die einzige Möglichkeit, unter Einbezug der Bevölkerung Politik zu machen, ist zu einem Zeugnis vergangenen Lebens geworden, zu einer Art Ballenberg-Spektakel. Es scheint die reinste aller demokratischen Formen zu sein, wenn Menschen zusammenkommen, einander zuhören und dann vor Gott und der Welt ihre Meinung kundtun.

Das befürchtete Ende

Doch dieses Image wird der Landsgemeinde nicht gerecht. Heute nicht und auch nicht in der Vergangenheit. Das schreibt Lukas Leuzinger, Journalist und Autor, in seinem kürzlich erschienenen Buch «Ds Wort isch frii». Das Wort ist frei: Mit dieser Ansage eröffnet der Landammann die Debatte, nachdem er den Standpunkt der Regierung erläutert hat. Doch so frei war das Wort nicht immer, zumindest nicht für alle. Frauen waren bis vor knapp 50 Jahren ausgeschlossen. Der Widerstand war gross, als Anfang der 70er-Jahre das Frauenstimmrecht eingeführt werden sollte. Dies wäre das Ende der Landsgemeinde, sagten die Gegner. Das Frauenstimmrecht wurde dennoch knapp angenommen. Danach eröffnete der Glarner Landammann die erste gemischtgeschlechtliche Landsgemeinde 1972 mit den Worten: Er hoffe, er sei nicht der Letzte, der eine Landsgemeinde führe. Dabei musste wegen der Frauen nur die Holzbühne ein wenig vergrössert werden. Man mag sich dieses Beispiel vor Augen führen, wenn politische Anliegen als unrealistisch oder gar gefährlich bezeichnet werden. Vielleicht sind sie ganz harmlos.

Es sei hier jedoch angemerkt, dass die Ausserrhoder Landsgemeinde wohl tatsächlich auch an der Frauenfrage gescheitert ist. 1997 schaffte der Halbkanton sie ab, acht Jahre nachdem der knappe Landsgemeindenentscheid zur Einführung des Frauenstimmrechts zu grossen Debatten, ja beinahe zu Verwerfungen geführt hatte. Die Einschätzung des Landammanns, welches Mehr das grössere sei, war stark umstritten, manche sahen es anders als er. Dies trug möglicherweise zum Ende bei.

Weniger als ein Viertel

Bis 1971 waren also in Glarus die Frauen ausgeschlossen, 150 Jahre davor stand es noch viel schlechter um die demokratische Teilhabe im Kanton. Damals waren von 23’000 Einwohnern gerade einmal 5000 stimmberechtigt. Zugelassen waren lediglich ortseingesessene Männer. Wer von ausserhalb des Kantons zugezogen war, konnte sich das Stimmrecht nur mit Mühe und grossem finanziellem Aufwand erkaufen. «Demokratische Rechte wurden damals als Privileg aufgefasst», schreibt Leuzinger, «und weniger als ein Recht im heutigen Sinn.»

Auch heute ist die Landsgemeinde nicht das lupenreine demokratische System, als das sie manchmal in nostalgischer Verklärung angesehen wird. Sie hat gegenüber dem Urnensystem jedoch Vorteile, etwa die ausgebauten Antragsrechte der Bürger. So kam etwa die spektakuläre Fusion von 25 Gemeinden zu 3 wegen eines Antrags zustande, den ein Bürger spontan während der Diskussion gestellt hatte. Ein Vorteil ist auch das Kultivieren der Debatte: Einer redet, die anderen hören zu. Ausfälligkeiten sind nicht erlaubt, dreinrufen darf man auch nicht. Als Nachteil wird die offene Stimmabgabe angesehen: Das Stimmgeheimnis gilt als zentraler Faktor der Demokratiequalität. Auch ist die Stimmbeteiligung tief, weil die physische Anwesenheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer erforderlich ist. Und das Abstimmungsresultat kann nicht genau ermittelt werden. Wenn es knapp wird, schätzt der Regierungsrat. Allenfalls müsste man die Landsgemeinde reformieren, schreibt Leuzinger. Zum Beispiel mit einem elektronischen Abstimmungssystem. Regierungsrat und Landrat lehnen das ab, weil der Charakter des Anlasses verloren ginge. Eben: Die Landsgemeinde ist beides. Politische Kleinarbeit und Projektionsfläche für Nostalgiker.

Lukas Leuzinger: «Ds Wort isch frii – Die Glarner Landsgemeinde: Geschichte», Gegenwart, Zukunft. NZZ Libro, 176 S., 36 Fr.

 

25 Kommentare zu «Das Wort war nicht immer frei»

  • Othmar Riesen sagt:

    Unglaublich diese Kommentare hier. Es wird nicht begriffen, dass an Landsgemeinden nicht das Prinzip der vertraulichen Abstimmung herrscht. Die staatsbürgerlichen Kenntnisse dieser Kommentatoren sind einfach entsetzlich.
    Beste Grüsse
    O.R.

  • Dani Keller sagt:

    Bei der Landsgemeinde in Appenzell wird ausgezählt, wenn das Mehren kein klares Resultat zeigt. Das allfällige Auszählen (kommt selten vor) nach dem Mehren könnte man aber künftig durchaus auch elektronisch durchführen (wie bei Aktionärs Versammlungen per Knopfdruck oder per Fotoanalyse in wenigen Sekunden) – diesbezüglich sollte man einen Reformschritt in die Zukunft prüfen und wagen.
    Die Stimmbeteiligung in Appenzell ist gut.
    Und wer nicht gerade neben seinem Chef abstimmen will, kann sich im Ring ja entsprechend positionieren oder Hut und Brille tragen. Jedenfalls fördert die Landsgemeinde eher den Respekt für Andersdenkende. Denn dort ist man bei jeder Abstimmung neben Andersdenkenden, bzw. ist selber der Andersdenkende.

  • Margrit Ryssel sagt:

    Hier noch nachgeschoben ein Symbolbild auf dem die Säbel gut erkennbar sind:

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  • Margrit Ryssel sagt:

    Das gravierende Problem der Einführung des Frauenwahl- und -stimmrechts bestand massgeblich auch darin, dass die Frauen keine Säbel besassen. Der Besitz des Säbels signalisierte nämlich ursprünglich die Stimm- & Wahlberechtigung, war also quasi der hochoffizielle Stimmausweis.

    Frauen hätten ja grosse, lange Kochmesser mitbringen können – dies war jedoch zu beliebig (Kochmesser waren ja in jedem guten Haushaltswarengeschäft käuflich erhältlich). Für die Landsgemeinden war das also ein echtes Problem: Wie sollte eine Frau ihre Stimmberechtigung beweisen?

  • Sergio Biaggi sagt:

    Das Wort ist auch heute nicht frei. Kritische, scharfe, unbequeme Meinungsäusserungen waren den Obrigkeiten zu allen Zeiten verhasst, und sind es bis heute. Die Zensur der Kommentarfunktion in zahlreichen Qualitätsmedien ist das beste Beispiel dafür.

  • Gerald Balzer sagt:

    Auch wenn Sie es erwähnen, die offene Stimmabgabe ist ein massives Manko auf jeder Ebene. Für demokratische Abstimmungen ist es zwingend erforderlich, dass sie frei, gleich und geheim sind. Wenn meine Informationen richtig sind, hat die fehlende geheime Abstimmung an den Landsgemeinden, beinahe den UNO-Beitritt gekostet.

  • Enrico sagt:

    Ob Frauen auch je so viel Charakter aufbringen werden und sich mehrheitlich für den Militärdienst aussprechen werden. Oder das Pensionsalter selber erhöhen ? Oder die Witwenrente abschaffen. Oder mehrheitlich endlich, endlich den Vätern der geteilten Obhut zustimmen.

    Ich glaube kaum, das Frauen soviel Charakter besitzen. Ich lasse mich aber gerne etwas besserem belehren.

    • Anh Toàn sagt:

      Ich vermute, Sie haben keine Töchter.

      • Anh Toàn sagt:

        Sie würden kaum glauben, dass Ihre Töchter Charakter besitzen.

        Ich glaube, dass Sie Charakter besitzen, einen ziemlich miesen halt.

      • Enrico sagt:

        Oh, oh, Anh Toàn,
        Ich habe zwei Töchter und beide finden die heutigen Rechte recht sexistisch.
        Nur rechnen müsste man können. Was nützen 40 Prozent mit Charakter wenn die andern sechzig Prozent ihrer Opferrolle huldigen und sich so jeder Pflicht entbinden.
        Führen Sie doch mal eine Abstimmung unter den Tagimitarbeiterinnen durch. Wo steht’s da mit Charakter?

      • Anh Toàn sagt:

        @Enrico

        Wenn 40% der Frauen Charakter haben und 61 oder 62% der Männer, reicht es ja zur Mehrheit.

        Also sind die Unterschiede schon mal nicht eklatant und offenbar.

      • Anh Toàn sagt:

        Die Frauen müssen nichts mehrheitlich zustimmen, die Mehrheit insgesamt muss zustimmen. Für was sie gut finden, ist die Mehrheit verantwortlich, für was Sie schlecht finden, die Mehrheit der Frauen.

        Aber noch mehr stört mich, wenn Sie dies auf Charakterlosigkeit zurückführen. Vielleicht vertreten Frauen einfach ihre Interessen, genauso wie Männer, da ist es dann Charakterstärke, Durchsetzungsfähigkeit.

        Man könnte auch die Charakterlosigkeit der Männer sehen, den Frauen das Recht ein halbes Jahrhundert verweigert zu haben. Oder man könnte darin erkennen, dass die Frauen zuerst die Männer, zuerst „eines Besseren belehren“ mussten. 1971 waren 65.7% eines Besseren belehrt, heute sind es deutlich mehr, so hoffe ich. Bleiben Sie dran, Sie packen das.

      • Enrico sagt:

        Männer haben’s gepackt,
        Frauen packens nicht.
        Und Sie schnallen den Unterschied nicht einmal.
        Glaube kaum das Ihre intellektuellen Fähigkeiten das je packen.

      • Anh Toàn sagt:

        Die Männer haben’s gepackt, aber sie sitzen da und heulen darüber, dass sich die Frauen nicht Mehrheitlich für Ihre (Männer-)anliegen einsetzen:

        Werden Sie damit fertig, nur eine einzige Frau ist Ihre Mutter.

  • Jessas Neiau sagt:

    Vor allem ist der Landsgemeinde anzurechnen, dass sie das Frauenstimmrecht (wenn auch unter Druck) selber beschlossen hat und es sich nicht wie fast überall sonst auf der Welt von der Regierung befehlen liess. Auch das gehört zur Demokratie, dass nur Berechtigte über die Dinge abstimmen. Und dabei ist völlig egal, ob irgendjemand 3’000 Jahre später den Kreis der Berechtigten als nicht gross genug ansieht. Meiner Meinung nach wird die Demokratie heute viel zu exzessiv ausgelegt, als ob da „jeder“ mitbestimmen dürfte, etwa gemäss der unsinnigen Parole „one man one vote“. Was dabei herauskommt ist überall an den Ergebnissen zu beobachten: Idioten bestimmen und Idioten regieren. Die Stimmabstinenz ist teilweise schon bei 80%. Ja, dafür darf jeder. Ganz ganz toll.

    • Monique Schweizer sagt:

      Neiaberau – bei 80% Stimmabstinenz hat meine Stimme dann einfach das fünffache Gewicht, allerdings diejenigen der Gegenpositionen auch.
      .
      Man merkt der Schweiz an, dass sie nie eine Diktatur wie in vielen südamerikansichen Ländern durchlebt hat. Dort haben die noch Wahlbeteiligungen mit teilweise über 90% – die wissen die Demokratie eben noch zu schätzen, im Gegensatz zu manchen Leidgenossen hierzulande. Ob man bei uns überhaupt noch von einem echtem „Volkswillen“ sprechen kann, ist doch etwas zu bezweifeln.
      Vielleicht in Glarus an der Landsgemeinde ist das noch eher der Fall, aber national ist unsere Demokratie mittlerweile zu einem Trauerspiel verkommen!
      Vor hundert Jahren gabs noch (männliche) Stimmbeteiligungen von 70 bis über 80% – lang lang ist’s her!

    • Thomas Hartl sagt:

      Wie wollen sie den verhindern, dass in Demokratien auch Idioten mitbestimmen können, Herr Neiau? Stellen sie sich vor was für einen Aufschrei durchs Land gehen würde, wenn nicht mehr die 75% der Bevölkerung mit einem roten Pass abstimmen dürfte, sondern jene 75% welche durch einen Test ihrer moralische Integrität und ihre Intellektuelle Fähigkeit bewiesen hätte.

      • Mark sagt:

        Welche „moralische Integrität“? Welche „intellektuellen Fähigkeiten“? Wer hat das Recht darüber zu bestimmen, was der Benchmark ist?
        Demokratie in der Schweiz funktioniert eben darum, weil alle mündigen Bürger*innen abstimmen können. Und solange dies genug tun, werden die extreme durch die gegenseiten austariert. Also ist die Antwort: die Mehrheit der Stände und der Bevölkerung.
        Wer nicht stimmt ist selber schuld – und schadet dem System. Wir Bürger haben nicht nur Stimmtecht – wir hanen die Pflicht uns mit def Materie auseinander zu setzen, darüber zu diskutieren umd eine Meinung zu bilden.

      • Margrit Ryssel sagt:

        @ Mark: Theoretisch haben Sie recht. Praktisch sind die meisten zu faul, sich in komplexe Materien einzuarbeiten und folgen – so sie denn überhaupt stimmen geben – den Abstimmungsvorgaben der von ihnen präferierten Partei……..

    • J. Kuehni sagt:

      „Auch das gehört zur Demokratie, dass nur Berechtigte über die Dinge abstimmen. Und dabei ist völlig egal, ob irgendjemand 3’000 Jahre später den Kreis der Berechtigten als nicht gross genug ansieht.“

      Auch Louis XIV „stimmte ab“. Daher muss man nach @Jessasneiau-Logik annehmen, dass der eine vollwertige Demokratie repräsentierte: „L’état, c’est moi“, und wer sind wir, dass wir 300 Jahre später den „Kreis der Berechtigten“ (frei nach pluralis majestaetis: „L’état, c’est nous“) als „nicht gross genug ansehen“?

    • J. Kuehni sagt:

      „Als ob da „jeder“ mitbestimmen dürfte, etwa gemäss der unsinnigen Parole „one man one vote“. Was dabei herauskommt ist überall an den Ergebnissen zu beobachten: Idioten bestimmen und Idioten regieren.“

      Eine Meinung mit Hochkonjunktur. Eine gewisse Berechtigung wäre dieser auch nicht abzusprechen, würden in autoritäten Regimes weniger „Idioten bestimmen und Idioten regieren“. Dafür gibt es aber keinerlei Anhaltspunkte.

      So bleibt uns denn eine möglichst weitspannende Suffrage als bester Garant, dass „bestimmende Idioten“ nicht wegen eng gefasster, tribaler Loyalität an ihren „regierenden Idioten“ festhalten können.

  • U. Stüssi sagt:

    Liebe Frau Blumer, danke für denn Artikel zur Landsgemeinde Glarus.
    Frage: Ist es (oder war es…) nicht so, dass bei zentral wichtigen Geschäften mit schwer eruierbarem Mehr – die Stimmenden an der Landsgemeinde Glarus bei je einem der beiden Ausgänge ein Drehkreuz durchgehen und so mit Ja oder Nein stimmen und die Zählung exakt erfolgt?

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