History Reloaded: Denn Geschichte ist News

Welche Schere? Statue des Superreichen Alfred Escher in Zürich. Foto: Christian Beutler (Keystone)

Bundesrat und Parlament sind abgehoben, die Classe politique folgt nur noch ihrer eigenen Logik und ihren Interessen: Solche Behauptungen gehören zum Wortschwall der SVP.

Nur – blickt man zurück auf die Gründungszeit des schweizerischen Bundesstaates, dann sieht man: Die Classe politique unserer Vorfahren war um Etagen abgehobener. Der erste Nationalrat nach 1848 bestand fast vollständig aus Kantonsmagistraten (34 Prozent), Rechtsanwälten (23 Prozent) und Unternehmern (22 Prozent). Und ausgerechnet dieser elitäre Zirkel brachte die moderne Demokratie auf die Schiene.

Die Schere klafft immer weiter auseinander, die Ungleichheit zwischen Superreichen und Armen wird grösser, der Mittelstand wird verdrängt, und hier liegt ein Kernproblem unserer Zeit: Solche Behauptungen gehören zum Dauerlamento der Linken.

Nur: War der Graben zwischen Alfred Escher und den Tunnelarbeitern am Gotthard denn geringer? War der Mittelstand in irgendwelchen Fünfziger-, Sechziger-, Siebzigerjahren solider, lebte er besser? Ach was.

Lügen leben vom Vergessen

Wir sehen: Manche Behauptung in Parlament, im TV oder auf Facebook wirkt völlig überzeugend – solange man ein kurzes Gedächtnis hat. Blicken wir jedoch aus der historischen Adlerperspektive auf unsere Welt, dann ist rasch Schluss mit den beliebten Immer-mehr-Deutungen. Was wie eine ernsthafte Analyse tönt, erscheint plötzlich oberflächlich, oft ist es auch kreuzfalsch. Es stimmt schon, dass die Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten in vielen Industriestaaten zugenommen hat – aber auf lange Sicht haben wir es vielleicht eher mit einer Wellenbewegung zu tun, bei der sich das Auf und das Ab alle paar Jahrzehnte abwechselt.

Deswegen starten wir diesen Blog: History Reloaded soll Ihnen einen weiteren Blick auf unsere Lage verschaffen. Momentan verunsichert es uns, dass Fake-News und Fern-Manipulationen den Ausgang der wichtigsten Wahl in der wichtigsten Demokratie der Erde gefärbt haben. Aber wenn wir uns bewusst werden, dass aberwitzige Lügen-Propaganda immer wieder mal eine starke Rolle spielte in den Demokratien; wenn wir uns erinnern, dass der CIA auch schon Wahlausgänge in Europa einfädelte – dann wirkt die Bedrohung bereits etwas milder. Demokratien überleben viele schwere Schläge.

Immer höher! Immer mehr!

Insgesamt lehrt die Geschichte, dass ihre Tendenzen selten schnurgerade weiterführen bis in den Abgrund. Meistens sind es eher Phasen, und auf eine Phase folgt eine Gegenphase. Aber weil unser Alltagsgedächtnis höchstens über eine Generation zurückreicht, wird jede Phase als gerade Linie ins Unendliche empfunden: Immer ungleicher, immer abgehobener. Bis zum nächsten Wendepunkt. Immer grösser, immer schlimmer. Bis sich das Problem still und leise aufgelöst hat. Immer höher, immer mehr. Bis die Finanzblase platzt – und alles staunt.

Insofern wird uns History Reloaded in der politischen Daueraufregung oft beruhigen.

Doch leider ist das nur die eine Seite. Denn die Geschichte zeigt auch, dass Institutionen und Sicherheiten, die jahrzehntelang betonfest erschienen, im Nu zusammenkrachen können. Es gibt Phasen, es gibt Gegenphasen, aber manchmal fliegt eben doch alles aus der Kurve. Am Wendepunkt steht eine grausame Revolution. Oder eine Mauer stürzt friedlich ein.

Eine dunkle Ahnung

Gerade die letzten Monate gaben vielen Menschen das Gefühl, dass etwas zerbrochen ist. Es ist eine dunkle Ahnung. Die seit 1989 tragende «Story» – Liberalismus, Globalisierung, Ausbreitung der Demokratie – gilt nicht mehr. Aber keine Ahnung, was danach kommt. In dieser Lage können wir in unserer eigenen Vergangenheit immerhin nach ähnlichen Erfahrungen suchen. «Wer die Geschichte kennt, wird von der Gegenwart nicht überrascht», sagt Timothy Snyder, ein bekannter amerikanischer Historiker.

Oder: «Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter wird man vorausschauen.» Das hat Winston Churchill einmal geschrieben.

Im Grunde dreht sich dieser Blog also nicht um die Vergangenheit. Er soll uns einen klaren Blick nach vorne erlauben.

16 Kommentare zu «History Reloaded: Denn Geschichte ist News»

  • Markus Wyser sagt:

    Es ist erhellend, dass sie in diesem Zusammenhang speziell Timothy Snyder erwähnen. Dieser renommierte (?) Historiker beweist mit seinem irritierend falschen Vergleich zwischen der Situation der Juden in der Weimarer Republik und der Moslems heute in den westlichen Staaten, dass sich die Rezeption der Geschichte ausgezeichnet eignet für die Kreation von „Fakenews“… Leider kann sich die Geschichte nicht wehren gegen solchen Murks, der im täglichen Kampf um Aufmerksamkeit offenbar unentbehrlich ist.

    • Ralph Pöhner sagt:

      Ich nehme an, Sie spielen auf diese Passage aus dem Interview an, das Timothy Snyder der «Süddeutschen» gegeben hat: «Ich beobachte momentan das Playbook der Dreißiger: Man nimmt eine ungefährliche, gesellschaftlich integrierte Minderheit heraus und macht sie verantwortlich für eine globale Bedrohung. Was damals die Juden waren, geschieht heute mit den Muslimen. Zu diesem Playbook gehört auch, Katastrophen für seinen Vorteil nutzen, um etwa einen Notstand auszurufen.» – Dies einfach zur allgemeinen Einordnung.

  • P.S. sagt:

    Ob wie Snyder, Churchill oder der deutsche Kabarettist Gerhard Polt, der über Geschichte zu sagen pflegt, dass sie unglaublich weit zurückreiche, und wenn man das Gefühl habe, sie reiche nicht mehr weiter zurück, so müsse man feststellen, dass sie doch noch weiter zurückreiche. Wenn man in die scheinbar endlose Vergangenheit zurückblicken möchte, um sich einen (klareren) Blick auf die Zukunft zu verschaffen, dann ist es zumindest sehr diskutabel, die USA als die wichtigste Demokratie der Erde zu bezeichnen. Da scheint eine allzu ökonomische Sichtweise die Historiographie bestimmt zu haben.

  • Renate Rubin sagt:

    Wissen über Vergangenes, historische Zusammenhänge kennen und daraus auch die Gegenwart besser verstehen; ein Grundanliegen der Geschichte. Doch darf dieses Wissen, dieser Blick aus hoher Warte nicht abheben, so dass der Kopf die Füsse verliert. „Es sind halt Phasen“. Sagen Sie das Mal einem Jugendlichen: „Du bist halt in der Pubertät, dass ist nur eine Phase.“ Ein Jugendlicher will ernst genommen werden. Genauso wie die Gegenwart, sie will ernst genommen werden. Denn es gilt ernst. Es braucht klare Standpunkte, es braucht Menschen, die sich engagieren, auf die Strasse gehen, wenn Trump Dekrete gegen die Menschlichkeit erlässt. Wir Menschen sind die Geschichte. Heute, morgen und ja, gestern.

  • Gabriel Aymon sagt:

    Wie mein Vorredner schon sagte, letztlich eine Idee, die es in der Schweizer Medienlandschaft schon gibt und bei „Geschichte der Gegenwart“ auf http://geschichtedergegenwart.ch/ ganz ausgezeichnet umgesetzt wird. Mein Schweizer Blog des Jahres!

  • Matthias Erzinger sagt:

    Geschichte der Gegenwart – eine gute Idee. Lobenswert. Und die TA-Idee ist auch so neu nicht: http://geschichtedergegenwart.ch/
    Konkret zum Thema Demokratie: Es waren nicht die «Eliten», welche die «Demokratie» auf den Weg brachten – im Gegenteil: Escher und & Co wehrten sich gegen die direkte Demokratie, und es waren die Demokraten und Arbeitervereine, die in der 2 Hälfte des 19. Jahrhunderts diese direkte Demokratie gegen Escher, Rieter, etc. durchsetzten. Oder die Proporzinitiative vor 100 Jahren… Da müsste man schon ehrlich sein…

    • Roland K. Moser sagt:

      So wegen ehrlich müssen Sie nur den ersten Absatz „…Bundesrat und Parlament sind abgehoben, die Classe politique folgt nur noch ihrer eigenen Logik und ihren Interessen: Solche Behauptungen gehören zum Wortschwall der SVP…“ lesen, dann wissen Sie, worum es geht.

  • Florian Müller sagt:

    Ausser des vergleichenden Rückblicks gäbe es den Rückblick auf Beständiges. Beispielsweise war BR Jonas Furrer von Winterthur während dreier Tage mit der Kutsche nach Bern unterwegs und weil Pendeln damals offenbar grösserer Intervalle bedurfte, wurden die 4 Sessionen erfunden. Diese wären in der heutigen Instant-Politik nicht mehr nötig. Sogar virtuelle Parlamentssitzungen wären möglich.

  • Florian Müller sagt:

    Es gibt einen langen Weg von Alfred Escher und die Einkommensschere war zwischendurch schon mal kleiner. Wenn man heute immer mit den schlimmsten Zuständen vergleicht, ja stimmt, dann haben wir es gut. Man denke nur an die Entdeckung der Elektrizität. Aber zwischendurch war es auch schon mal besser und schliesslich gibt’s auch das Prinzip Hoffnung: Dass es meinen Kindern besser geht als mir. Wo ich einig gehe: Geschichte kann nur rückwirkend geschrieben werden und ist immer politisch.

  • Daniel Ganzfried sagt:

    Tja, und manchmal passiert in der Gegenwart eben etwas Neues. Dann stehen wir ratlos und müssen neu urteilen. Mit neuen Begriffen, neuen Metaphern, vor neuen Akteuren. Achtung vor vorschnellen Parallelen und Vergleichen in der Geschichte. Es passiert immer als Überraschung, als Ereignis. Das Schlimmste verhindern, das Beste ermöglichen, und irgendwo dazwischen das Richtige tun. Darum geht es glaub ich….

  • Katharina Saluz sagt:

    Wenn man sieht, wie widersprüchlich die Geschichte selbst von Historikern gedeutet und erklärt wird, begreift der denkende Laie, dass es immer verschiedene Facetten der Wahrheit gegeben hat und geben wird. Es kommt halt auf den Standpunkt an.

  • Gorgolo Grauer sagt:

    Danke, Herr Poehner, für das Einbringen des ‚längeren Rückblicks‘ in die Betrachtungsweise.
    Könnte dieser -leider nicht übliche Zeithorizont- die Diskussion aus dem ideologisch eingefärbtem Geplänkel in pragmatische Gefielde führen?
    Hoffen ist erlaubt.

  • Alberto La Rocca sagt:

    Herr Pöhner, Sie müssten aber auch erwähnen, dass die damalige Elite – nicht wie heute – zur Hauptsache aus der 5. Kolonne der Konzerne bestand, die in deren Verwaltungsrats-Sitzungen den vertraulichen Inhalt von vorbereitenden Parlamentskommissions-Sitzungen offenbart, bzw. als deren Statthalter die Parlamentsarbeit direkt beeinflusst. Die vielgenannten Lobbyisten sind verglichen mit den Mehrfach-Verwaltungsräten im Parlament ein vernachlässigbares Übel.

  • Conne sagt:

    Sehr gut

  • Robert Hasler sagt:

    Insbesondere fände ich es auch interessant, bei solchen Rückblenden abzuschätzen, wie gut es wem geht – „damals“ verglichen mit heute. Dazu objektive Kriterien zu finden ist nämlich schwierig. Aber ihr Journies mögt doch ein wenig Denkarbeit.

  • Andra Fischer Schulthess sagt:

    Danke, lieber Ralph für diese Bereicherung, werde ich sehr gern verfolgen.

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