Der grässliche Schweizer

Die Gefangenen des KZ Natzweiler-Struthof missbrauchte August Hirt für Senfgasexperimente. Foto: Horace Abrahams (Getty)
Es ist eine heikle Aufgabe, über die sich eine Gruppe von Wissenschaftlern im Auftrag der Universität Strassburg beugt: Befinden sich in der anatomischen Sammlung der Uni immer noch Relikte von Opfern der Nazis? Wie verhält es sich mit zwanzig Kisten, in denen Skelettteile und menschliche Überreste liegen? Auf den Behältern steht ein Name: Hirt.
Vorletzte Woche stellte Michel Cymes diese Fragen in den öffentlichen Raum. Cymes ist ein Arzt, der in Frankreich durch TV-Sendungen und Dokumentarfilme prominent geworden ist. Und nun legte er auf France 2 eine anderthalbstündige Dokumentation vor, die sich jenen Ärzten widmete, die im Dienst der Nazis mit Gefangenen experimentierten: «Hippocrate aux enfers», Hippokrates in der Hölle. Bereits Cymes‘ gleichnamiges Buch hatte sich 150’000-mal verkauft, und eine Kernaussage lautete dort: Dr. Mengele war kein Einzelfall. Hunderte Ärzte verrieten den Ethos der Medizin. Und ein besonders übles Beispiel war August Hirt.
Als Schweizer in der Armee des Kaisers
In seinem Bestseller hatte Cymes schon vor zwei Jahren behauptet, die Überreste von 86 Juden befänden sich bis heute in der Strassburger Universität. Die Menschen waren 1943 eigens aus Auschwitz ins Elsass transportiert worden, weil dort ein Anatomieprofessor den Naziwahn auf Naziart zu Ende dachte: Da die «jüdische Rasse» nun bald verschwinden werde, fand August Hirt, sollten einige Skelette zu einer späteren musealen Verwendung und für die anthropologische Forschung konserviert werden. SS-Oberchef Heinrich Himmler fand das sinnvoll.
August Hirt, geboren am 29. April 1898, Sohn des Johannes und der Charlotte Hirt: Beide Eltern waren Schweizer, eingewandert nach Mannheim, und den Schweizer Pass hatte auch der Sohn. Dennoch zog er schon 1914 als Freiwilliger mit der Armee des Kaisers in den Weltkrieg. Er wurde am Kiefer schwer verletzt und begann nach Kriegsende ein Medizinstudium, bald untermalt von einer Nazikarriere.
Den Befreiern bot sich ein unfassliches Bild
1921 liess sich Hirt einbürgern; es ist nicht definitiv gesichert, ob er Doppelbürger blieb, aber sehr wahrscheinlich. Früh trat er der NSDAP bei und verfolgte eine Karriere, die ihn erstens zum Professor für Anatomie an verschiedenen deutschen Universitäten machte – und zweitens zum SS-Sturmbannführer. Nachdem Hitlers Truppen Frankreich überrollt hatten, wechselte Hirt 1941 an die neu gegründete «Reichsuniversität» in Strassburg.
Der SS-Anatom nutzte seine Stellung, um furchtbare Senfgasexperimente mit Gefangenen des nahe gelegenen KZ Natzweiler-Struthof zu veranstalten. Und auch, um seine Schädel- und Skelettsammlung anzulegen. Die Opfer wurden gleich nach ihrer Ankunft in Natzweiler-Struthof durch Gas getötet, dann an die «Reichsuniversität» überstellt und zuerst einmal konserviert.
Den französischen Soldaten, die ein Jahr später Strassburg befreiten und die Universität besetzten, muss sich ein unfassbares Bild geboten haben. Sie fanden 16 Tote, ein Mensch lag noch auf dem Seziertisch; hinzu kamen 224 einzelne Körperteile. Aber fast alle Köpfe waren verschwunden.
Man beerdigte die Menschen auf dem jüdischen Friedhof von Cronenbourg; ein Monument erinnert dort heute an die 86 Opfer des August Hirt. Aber ruhig wurde es bis heute nicht mehr um diesen Fall, der so sehr schaudern lässt und so manche kleine Frage offenlässt.
Brachte er sich um? Tauchte er unter?
Michel Cymes hatte seine Schilderungen 2015 stark skandalisiert, teilweise musste er danach auch zurückkrebsen. Im Juli jenes Jahres bestätigte die Strassburger Stadtverwaltung aber, dass man einige wenige Überreste gefunden habe, die auf August Hirts Untaten zurückzuführen seien; sie wurden ebenfalls in Cronenbourg ordentlich bestattet. Und inzwischen hat die Universität eine internationale Kommission eingesetzt, damit wirklich keine Frage offenbleibe. Ein Teil der Relikte in jenen 20 Schachteln stamme wohl kaum aus der Nazizeit, gab die Universitätsleitung letzten Sommer bekannt, und auch wenn die Beschriftung auf den Nazi-Doktor verweise, müsse nicht alles kriminellen Ursprungs sein.
Nebulös blieb auch, was mit August Hirt geschah. Laut der anerkanntesten Version brachte sich der SS-Arzt 1945 im Schwarzwald um: Er hatte wohl geplant, über den Rhein in die Schweiz zu fliehen. Die Bundesanwaltschaft in Bern schrieb ihn aber 1950 noch zur Fahndung aus, nachdem offenbar glaubwürdige Quellen gemeldet hatten, er sei in Genf gesichtet worden. Als einigen Mittätern 1970 in Frankfurt der Prozess gemacht wurde, galt Institutsdirektor Hirt als «verschollen».
Rolf Hochhuth machte ihn in seinem berühmten Drama «Der Stellvertreter» zur Nebenfigur – und erklärte dazu: «Er wurde nie gefunden, wahrscheinlich auch nie gesucht, obwohl seine wissenschaftlich gepflegte Idiotie und Grausamkeit selbst noch das branchenübliche Mass vieler prominenter Mediziner übertraf.»
15 Kommentare zu «Der grässliche Schweizer»
> Wussten die damaligen Schweizer ?
Die Frage des Rudolf Kupper beschäftigt mich schon lange und sie hat mir schon mehrfach Aerger eingetragen, wenn ich sie im Kreis meiner Freunde gestellt habe. Heute gibt es ein Land, das der Guten, das Tag für Tag irgendwo Bomben wirft oder Drohnen einsetzt. Seit 1945 wurden nahezu die Hälfte der 150 UNO Mitglieder vom Weltpolizisten militärisch angegriffen. Die Schweiz ist auf der Seite der Guten, viel mehr, als unbedingt nötig wäre. Ich denke jetzt an Finanzgeschäfte: Würde man die Geschichtsprofessoren (Prof Bergier etwa) ernst nehmen, müsste man halt da und dort auf ein Geschäft verzichten. Will man die Geschäfte machen, dann könnte man sich die moralische Empörung über die Vorfahren einsparen. Sie scheinheilig.
An den Fakten gibt es nichts zu rütteln, nur sind sie – abgesehen von der schweizerischen Abstammung Hirts – schon 2010 im Spiegel veröffentlicht worden. Bei Google gibt es im übrigen zum Stichwort August Hirt eine sehr grosse Zahl von Treffern. Sollte es sich bei diesem Artikel um ein Plagiat handeln?
Und? Was wollen Sie uns mitteilen? Für mich ist diese Geschichte neu und aufschlussreich.
Vielleicht ist für Sie auch die Geschichte des früheren deutschen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg „neu und aufschlussreich“: Dieser musste bekanntlich seinen Sessel räumen, weil seine Dissertation weitgehend ein Plagiat, das heisst bei anderen abgeschrieben war. Beim obigen Artikel wird mit dem Hinweis, der Autor habe Geschichte studiert und sei Assistent am Historischen Seminar der Uni Zürich gewesen, der Eindruck erweckt, es handle sich da um eine von ihm erarbeitete Leistung, dabei ist alles nur bei anderen abgeschrieben – und solches galt seinerzeit schon in der Primarschule als unstatthaft. A ja, die Tatsache, dass Hirt schweizerische Wurzeln hatte, findet sich bei Wikipedia. Ralph Pöhner hat also aus ZWEI öffentlich zugänglichen Artikeln abgeschrieben. Chapeau!
Im Artikel ist die Schrift an etwa acht Stellen grün verfärbt: Das sind Links. Wenn Sie dort draufklicken, stossen Sie auf weitere Quellen. Es stimmt: Der Beitrag fusst auf einer ganzen Reihe von öffentlich zugänglichen Quellen. Das ist ganz normal.
Ob es nun ein Plagiat ist oder nicht…es ist erschuetternd zu lesen und tut uns SChweizern gut wieder einmal zu bedenken dass unser Land nicht soooooooooo unschuldig in allem war das damals geschah…wie wir uns oft so gerne einbilden…Es gibt in jedem Land gute und schlechte Menschen. Dieser Mann hat abscheuliche Taten vollbracht und ich kann nur hoffen dass er in der tiefsten Hoelle am verrotten ist mit seinen SS Kumpanen…fuer immer und ewig.
Wenn wir bei allem, was HEUTE geschieht, „soooooooooo unschuldig“ wären, wie wir es uns „gerne einbilden“, dann würde ich Ihre Kritik sofort unterschreiben. Nur: Wir leben heute frei und hätten die Möglichkeit, besser zu handeln, als wir es tun. War die damalige Schweiz frei, nach ihrem Gewissen besser zu handeln? Wussten die damaligen Schweizer – im Gegensatz zu unseren im Nachhinein allwissenden Historikern – wie der Krieg ausgehen würde? Wussten sie dies? Bitte, noch im letzten Kriegswinter gab’s die von niemandem mehr erwartete Ardennen-Offensive! Die Deutschen stellten für uns bis zuletzt eine Gefahr dar, und als Helden sterben… Jeder kann’s einmal selber versuchen, und ich ziehe den Hut vor ihm. Unseren Vorfahren Vorwürfe zu machen, ist einfach billig.
Der Betreffende würde in Deutschland geboren und erzogen, zog freiwillig für Deutschland in einen Krieg an dem die Schweiz sich bewusst nicht beteiligte, zog es vor, nach dem Krieg im kriegsversehrten Deutschland zu bleiben, obwohl er in die Schweiz hätte zurückkehren können, sondern liess sich in Deutschland einbürgern, zog es vor, in Deutschland für eine in der Schweiz verpönte Partei politisch aktiv zu werden, und sich in Deutschland freiwillig einer notorisch gewalttätigen paramilitärischen Organisation anzuschliessen, und, und, und, und trotzdem identifiziert dieser Artikel diesen Typen mit der Schweiz. Ich finde es wirklich ekelhaft, und nicht besonders ehrlich.
Auslandschweizer oder schweizerabstammung wären deutlich präziser.
Gegenbeispiel: General Wille prahlte im Ersten Weltkrieg mit seiner deutschen Abstammung. Trotzdem hat er das Verhalten der Schweiz geprägt.
Wille galt als deutschlandfreundlich, aber nicht als Deutscher. Zudem studierte er in Deutschland und heiratete eine geborene Bismarck. Die Fälle sind schlichtweg nicht vergleichbar.
Ist es abwegig zu glauben, dass Schweizer Beamte, wie z.B. ein Herr Rothmund ihm sicher zur Flucht verholfen haben. Sie haben auch den scheusslichen KZ-Arzt Mengele immer über die Schweiz reisen lassen, wenn er seine Familie in Bayern besuchte.
Auch nach 1945 war es dem damaligen Bundespolizei-Chef noch möglich die Einbürgerung von ETH-Professor und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli zu hintertreiben, mit dem Argument: Verjudung (!) der Schweiz…
Es gäbe (gibt!!) noch viele solch grässliche Schweizer:
– Jene Fabrikanten welche zu dieser Zeit Waffen, Kanonen en masse nach Nazi-Deutschland lieferten und dabei Milliarden verdienten..
– Jene top seriösen Banker die gestohlenes Edelmetall, z.T. den Toten aus Zähnen gerissen, eben diesen Bankern zum Einschmelzen und „weiss-waschen“ lieferten..
– Jene Kunsthändler welche wissentlich geraubtes Kunstgut in viel Millionenhöhe „vermittelten“, verkauften und dabei ebenfalls stolz Millionäre wurden..
Die Liste ist bei Gott noch lange nicht vollständig. Zu hoffen, dass auch hier endlich mal genauer recherchiert und Namen genannt werden und nicht nur bei diesem einen Arzt Dr. August Hirt.
Bin voellig Ihrer Meinung!
Wurde dieser Arzt nicht in einem Roman von Dürrenmatt erwähnt (Der Verdacht)?
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„Kommissär Hans Bärlach, am Ende seiner Polizeikarriere angekommen und an Krebs leidend, erholt sich im Krankenhaus. Dort wird er Zeuge, wie sein Freund, der Arzt Samuel Hungertobel, beim Anblick eines Fotos im Magazin Life erbleicht und leicht nervös wird. Der Abgebildete soll der deutsche Arzt Nehle sein, der im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig grausame Operationen an Häftlingen vorgenommen hatte, ohne sie zu narkotisieren, und sich 1945 umgebracht hat. Hungertobel erklärt schließlich, eine große Ähnlichkeit zwischen Nehle und seinem Studienkollegen Fritz Emmenberger festgestellt zu haben, der während des Krieges angeblich in Chile weilte…“
Sehr schöne Beobachtung, vielen Dank! Dürrenmatt verfasste den „Verdacht“ 1951/52 – und die Bundesanwaltschaft schrieb Hirt 1950 neu zur Fahndung aus. So auf die Schnelle würde man also vermuten, dass die Sache in die Presse kam, so dass Dürrenmatt davon erfuhr.