Die sexuelle Evolution

Die wahre Revolution passierte bereits in den 50ern: Brigitte Bardot in Cannes, 1953. Foto: Mirrorpix, Getty Images
Man kann von den 68ern und ihren Che-Guevara-Fahnen ja halten, was man will, aber etwas Prickelndes verdanken wir ihrem Aufbruch immer noch gern: die sexuelle Revolution. Vom «Summer of Love» 1967 bis zum «Schulmädchen-Report» 1970 reichten offenbar wenige Monate, um die Betten von San Francisco bis Sankt Fiden durchzulüften.
So haben wir es gelernt, so war es doch. Die 1950er sind dagegen abgehakt als Zeitalter grausligster Prüderie, wo die nackten Schultern der Film-Kaiserin Sissi noch den erregendsten Anblick boten. Und davor war sowieso alles schwarz-weiss.
Doch der Fall zeigt wohl eher, wie wir schillernde Entwicklungen im historischen Rückspiegel verkürzen und dabei falsche Akzente setzen. Jedenfalls schreiben neuere Geschichtswerke die simple Vorher-nachher-Story um: Als 1968 kam, erfahren wir da, war die sexuelle Revolution längst angerollt. Und ausgerechnet die trüben Fünfziger erscheinen als Schaltjahre, wo eine wahre «emotional revolution» Europa erfasste.
«Welle von Ehebrüchen»
Dies berichtet beispielsweise «The English in Love», verfasst von der Historikerin Claire Langhamer aus Sussex. Damals, in den Fifties, habe sich die Idee durchgesetzt, dass die leidenschaftliche Liebe der Kern einer Ehe sei und dass, jawohl, heisse Sexnächte den Ofen einer Paarbeziehung bilden.
«Eine normale Frau sollte Spass haben am Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann», lehrte das Handbuch des britischen «Marriage Guidance Council» im Jahr 1953. Behörden fanden es sogar nötig, vor einer Überbewertung der Sexualität zu warnen: Das könne die Ehe allzu sehr belasten. Zugleich beklagte der Erzbischof von Canterbury 1959, dass eine «Welle von Ehebrüchen» das Land überschwemme.
All dies sind schöne Signale dafür, wie das Leben anstössiger wurde. In Frankreich dasselbe: Auch da begann man nach dem Weltkrieg, Sexualität zu leben, wie es kommt, sie als natürlich zu sehen, Haut zu zeigen. Das schildert die US-Historikerin Sarah Fishman in ihrem Buch übers Liebesleben in «Postwar France». Natürlich: Würdenträger und Briefkastentanten predigten weiter, dass wahre Liebe warte und dass es zwischen Mann und Frau um Tieferes gehe als um den Unterleib. Aber immer weniger interpretierten die Franzosen ihre Sexualität moralisch und religiös – umso stärker psychologisch und ganz praktisch. Autoren wie Simone de Beauvoir («Le deuxième sexe», 1949) und Sigmund Freud sowie der Kinsey-Report (Deutsch: 1958) lieferten dazu moderne Erkenntnisse. Und nach und nach sickerten diese Ideen durch die Gesellschaft.
1968 war es längst gelaufen: Französischer TV-Beitrag über Frauen im Minirock – und die Reaktionen, 1966.
Dass sich unverheiratete Mütter in Frankreich nun nicht mehr schämen mussten, sondern sogar staatliche Unterstützung erhielten: Dies war ein handfestes Beispiel für den Geisteswandel. Aber damit steht der Aufbruch der späten Sixties plötzlich in einem faderen Licht. Denn der damalige Ruf nach sexueller Offenheit wurde und wird ja stark dargestellt als Reaktion auf die Prüderie davor – und damit: als Befreiung. Als Revolution.
«…so zumindest angenehmen Mann»
Sowohl Langhamer wie Fishman sichten jedoch eher zwischen 1945 und 1955 eine Zeit aufblühender Leidenschaft. Vieles trug dazu bei: die Kaugummi-Charmeure der US-Truppen, ein frischeres Konsumklima – und der Massenmord davor. Denn im grossen Weltkrieg, im Angesicht dieser unfassbaren Dauerbedrohung, wurde die Liebe zu einem Anker im Chaos, vermutet Langhamer. Zugleich löste sich der Griff alter Konventionen. Wer täglich vor dem Tod steht, schert sich weniger um alte Zöpfe und sucht mehr Liebe; emotionale Intimität wird zum Ventil; und zu dieser Intimität gehört auch, dass man sich lustvoll angezogen fühlt zu jemandem.
Im Jahr 1930 verfasste eine junge Frau in England eine Kontaktanzeige: «Wünscht einen sauberen und wenn nicht gut aussehenden, so zumindest angenehmen Mann, der etwa 5 Pfund pro Woche verdient.» Schon zwei Jahrzehnte später wäre so ein Inserat undenkbar gewesen. Das war die stillere, die liebevolle Revolution.
- Sarah Fishman: «From Vichy to the Sexual Revolution. Gender and Family Life in Postwar France», Oxford University Press 2017.
- Claire Langhamer: «The English in Love: The Intimate Story of an Emotional Revolution», Oxford University Press 2013.
12 Kommentare zu «Die sexuelle Evolution»
Che-Guevara und Woodstock haben nicht viel miteinander zu tun. Hippies waren eher liberal-libertär. In Woodtsock entfernte Pete Townshend gar einen linken Politagitator von der Bühne. Eben „Peace and Love“ – und keine linke Polit-Show. Natürlich waren sich bei Anti-Vietnam (Bring back our Boys) alle einig.
Hätte man den Artikel nicht so schreiben können das statt der überwiegend Linken 68- iger Bewegung, die rechtsnationalen die sexuelle Revolution angestossen haben? …ich meine, Papier ist ha geduldig, Zeitungspapier allemal…das beweist die BAZ ja täglich… so gesehen, ansatz und idee gut, aber Ziel nicht erreicht. Schade!
So ein Blödsinn. Natürlich gab es schon vorher Sex und auch Elvis liess schon in den 50ern seine Hüften kreisen. Aber die Gesellschaft war nicht so weit. Erst 68 machte daraus eine öffentliche Bewegung.
Wohl keine Generation hat in dieser Hinsicht einen derartigen Bruch erlebt, wie jene, die nach dem 1. Weltkrieg in ihren aktivsten Jahren war.
Alleine die Berichte darüber, wie zuvor noch das Erblicken eines Knöchels für handfeste Erektionen sorgte und die Bilder der beinfreien Mode der 20er lässt erahnen, was da abging.
Für mich im Zusammenhang mit 68 hochinteressant:
Die Sache mit der Sexuellen Revolution (und der damit untrennbar verbundenen Befreiung der Frauen) ist eine zutiefst westliche Sichtweise.
Vor bald 20 Jahren wurde mir das erst anhand eines interessanten Gespräches bewusst, in welchem mir eine Dame, die 68 aus der CSSR geflohen war, erzählte, wie sehr sie sich im Westen wunderte, dass die hier alle in dieser Hinsicht noch derart hinter dem Mond lebten.
Es soll sogar schon vor dem 20. Jhrd. ausgiebige Lustwandeleien gegeben haben: Rauschende Feste und ausschweinden Sex gab es z. B. bereits im Barock. Wirft man einen Blick auf die Welt ausserhalb Europas, so springen einem sofort die Tempel aus dem Gebiet Khajuraho (Indien), ins Auge. Sie wurden zwischen dem 12. und 13. Jarhundert errichtet und enthalten z. T. explizite Darstellungen einer Sexualität, deren Grenzen offenbar sehr weit gesetzt wurden. Je nach Epoche und Kultur wird die Sexualität entweder freier oder prüder gelebt. Die 1968er kamen vor allem dank der Pille in den Genuss von sexuellen Freiheiten, die es nie zuvor gegenen hat. Die Antibabypille wurde 1960 eingeführt. Sie war die eigentliche Revolution, denke ich.
Die Führer der 68-er-Bewegung sollten endlich ihre unrühmliche Vergangenheit aufarbeiten ohne sich fremde Errungenschaften auf die eigene Fahne heften zu wollen.
Als Unterstützer des internationalen Terrorismus, als Verfechter der RAF, als offene Sympathisanten der damaligen kommunistischen Regime, gäbe es sicherlich genügend Gründe für eine Aufarbeitung und eine Entschuldigung.
Leider ist bis Dato nichts derartiges geschehen. Selbst die Kinderschänder dieser Tage wurden, genau wie diejenigen der katholischen Kirche, nie wirklöich verfolgt.
Flemings Entdeckung des Penicillins 1928 führte Anfang der 1940er-Jahre zum klinischen Einsatz von Antibiotika, mit denen sich die Syphilis erstmals effektiv bekämpfen ließ.
„Es ist eine verbreitete Annahme, dass die sexuelle Revolution mit der freizügigeren Haltung der 60er-Jahre und der Entwicklung der Antibabypille begonnen habe“ „Die Sachlage deutet jedoch klar darauf hin, dass bereits der verbreitete Gebrauch von Penicillin und der dadurch bedingte Rückgang der Syphilis-Erkrankungen während der 50er die moderne sexuelle Ära startete.“
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1939 auf dem Höhepunkt der Syphilis Welle in den USA starben über 20’000 Menschen daran.
Von 1947 bis 1957 sank die Zahl der Syphilis-Fälle um 95 Prozent, die Zahl der Todesfälle um 75 Prozent.
Es ist wohl kaum zu bestreiten, dass es schon vor 1968 Sex gab. Und es gab auch schon seit sehr langer Zeit Prositution, Seitensprünge etc. (auch schon vor 1950). Aber bis in die 60er Jahre war nackte Haut nur in Zeitschriften und im Kino zu sehen. Erst Ende der 60er Jahre getraute sich die breite Bevölkerung, so in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Die sexuelle Revolution fand eben doch Ende der 60er Jahre statt.
David Bowie:
„I, I will be king
And you, you will be queen
Though nothing, will drive them away
We can be heroes, just for one day
We can be us, just for one day“
Bis zum Zusammenbruch der UDSSR lebte die Menschheit mit der konstanten, akuten Bedrohung eines nuklearen Overkills. Die „lebe jeden Tag, als könnte es dein letzter sein“ Einstellung resultierte nicht aus den Erfahrungen des vergangenen Weltkrieg, hier bin ich anderer Meinung als der Beitrag, sondern aus dem bestehenden kalten Krieg. Jeder Tag hätte der letzte sein können. Kein Zufall dass, Bowie als er „heroes“ schrieb, im Epizentrum des kalten Krieges lebte, in Berlin.
Fluchten waren angesagt, mit Sex & Drogen & R&R, weil da war, wie die Doors wussten, das Ende immer nah:
Doors: roadhouse blues:
„Well, I woke up this morning,
and I got myself a beer
The future’s uncertain,
and the end is always near
Let it roll, baby, roll
all night long!“
Ahn: Die Weltuntergangsuhr wurde neulich wieder um dreissig Sekunden vorgestellt und steht jetzt zwei Minuten vor dem grossen Lichterlöschen – so nahe wie noch nie seit die nach dem 2. WK eingeführt wurde.
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Jim Morrison mit:
The future’s uncertain,
and the end is always near
aktueller denn je zuvor….
Also die Weltuntergangsuhr die ich gefunden habe, zeigte genau auch 2 Minuten von 1953 (Wasserstoffbombe) – 1960. Die Kuba Krise sieht man da nicht, da stand es wohl eher zumindest für kurze Zeit, ein paar Sekunden vor 12.
Ich sehe mich keineswegs als Leugner des Klimawandels, aber die Gefahr des Endes der gesamten Menschheit morgen oder übermorgen sehe ich darin nicht. Nicht mal, dass wir uns deswegen alle die Köpfe einschlagen.
Meines Erachtens stand die Menschheit insgesamt noch nie so nahe am Abgrund, wie in der Zeit zwischen dem Mauerbau und dem Fall der Mauer. Daher diese Euphorie, nicht nur in Deutschland, als die Mauer fiel. Und eine Uhr spendete keinen Trost, dachte man darüber nach, konnten die Knöpfe bereits gedrückt worden sein.