Die beste Geschichte des Jahres
Das Schöne an der Geschichte ist, dass sie hervorragenden Lesestoff bietet: 2017 brachte einen Wust an Werken, die unsere Vergangenheit frisch erweckten – spannend, berührend, erhellend. Hier eine kleine Auswahl von Büchern, die wir Ihnen besonders gern ans Herz legen.

Douglas Preston, «Die Stadt des Affengottes: Eine unbekannte Zivilisation, ein mysteriöser Fluch, eine wahre Geschichte», DVA
In Zentralamerika kursiert seit Jahrhunderten die Legende von einer «Weissen Stadt», die ein vergessenes Volk im Dschungel angelegt haben soll und die heute noch dort liegt, mit all ihren Reichtümern. Der Thrillerautor Douglas Preston begleitete 2015 eine Expedition, die in die unwegsamsten Urwälder der Miskitoküste von Honduras aufbrach: Flugaufnahmen mit einer neuen Fototechnologie hatten tatsächlich gezeigt, dass dort eine grosse Stadt gewesen sein muss – ja, gleich ein ganzes Netz von Siedlungen. Prestons Reportage zeigt, wie packend die Suche nach unseren Vergangenheiten bis heute ist.

Laura Cumming, «Der verschwundene Velázquez. Ein besessener Sammler, ein verschollenes Gemälde und der grösste Maler aller Zeiten», S. Fischer
Man weiss, dass das spanische Malergenie Diego Velázquez im Jahr 1632 ein Porträt des Königs von England, Charles I., anfertigte. Irgendwann in den Jahrhunderten danach verschwand das Bild. Aber 1845 sah ein kleiner Buchhändler aus Reading, England, bei einer Verramsch-Auktion ein Gemälde und war sicher: Dies ist der legendäre Velázquez. Er kaufte das Werk für 8 Pfund – und es zerstörte sein Leben. Die Kunstkritikerin Laura Cumming erzählt einen lebenslangen Kampf – eine packende Detektivstory über einen einsamen Liebhaber, über den genialen Velázquez, über dessen Wirkung und das Bild, von dem wir bis heute nicht wissen, ob es wirklich das richtige war.

Timothy Snyder, «Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand», C. H. Beck
Etwas haben wir Erdogan, Putin, vielleicht auch Trump zu verdanken: Sie lassen uns ahnen, wie zerbrechlich die Demokratie sein kann. Denn die Rechte des Volkes werden nicht mit einem Paukenschlag zertrümmert, meistens bauen machtbewusste Männer sie schleichend ab, verkleiden sie, verraten sie. Unter dem Eindruck aktueller Entwicklungen hat Timothy Snyder, Geschichtsprofessor in Yale und ein Kenner von Kommunismus und Faschismus, ein kleines Manifest veröffentlicht: Zwanzig Lektionen für uns alle. Zwanzig Schritte, die jeder einzelne ergreifen kann, um die Demokratie zu stützen und die Tyrannei aufzuhalten: «Verteidige Institutionen», «Achte auf gefährliche Wörter», aber auch: «Sei patriotisch.» Wir haben diese Liste hier bereits vorgestellt, inzwischen ist sie aber auch als Buch erschienen – unterfüttert mit historischen Fällen. Natürlich kann man sich in der soliddemokratischen Schweiz entspannt fragen: Was geht es uns an? Nichts direkt. Aber diese 125 Seiten bieten auch elegante Lektionen in den Mechanismen der Macht.

Julian Barnes, «Der Lärm der Zeit», Kiepenheuer & Witsch
Kein Geschichtsbuch, ein Roman. Und eigentlich ein Roman, der ein Leben erzählt: das Leben von Dmitri Schostakowitsch (1906–1975), dem grossen Komponisten der Sowjetunion. Barnes’ Geschichte dreht sich um die Zerstörung und Aufspaltung eines Geistes, der ab 1937 jahrelang darauf wartet, dass ihn die Henker des kommunistischen Diktators Stalin abholen, Nacht für Nacht. Und so erfahren wir mehr über die Perfidie der Macht als aus mancher Geschichtsanalyse.

J. D. Vance, «Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise», Ullstein
Kein Geschichtsbuch, eine Autobiografie: Es gibt nicht die Vereinigten Staaten, sondern es gibt viele Amerikas – diese alte Lektion erteilt uns J. D. Vance, indem er seine eigene Geschichte erzählt. Er wuchs auf bei typischen Hillbillys in Ohio und Kentucky, Nachfahren von Einwanderern aus Irland und Schottland. Das sind Menschen, denen die Idee des Fortschritts, des Aufstiegs, des Kapitalismus, ja der ganze amerikanische Traum völlig fremd ist. Sie neigten traditionell den Demokraten zu, aber jetzt wechselten sie ins Trump-Lager. Und zwar nicht, weil sie abgestiegen waren, nicht wegen Arbeitslosigkeit, nicht aus Rassismus und gewiss nicht wegen Verlustängsten: Mausarm waren die Hillbillys nämlich schon immer. Aber die Welt der – protestantischen – Elite ist ihnen vollends fremd geworden. Warum, erzählt diese grosse Geschichte in einem kleinen Familienleben.

Thomas Buomberger, «Die Schweiz im Kalten Krieg 1945–1990», Hier & Jetzt
Ein grosses Thema, das noch keiner en bloc aufgegriffen hat: In einem gescheiten Übersichtswerk stellt Thomas Buomberger die Frage in den Raum, weshalb die neutrale, kleine Schweiz den Antikommunismus eifriger kultivierte als andere westeuropäische Staaten. Die Erklärungen führen zurück in den Zweiten Weltkrieg und die mächtige Ideologie der «Geistigen Landesverteidigung» – und sie leiten weiter bis in Denkweisen von heute. Ein Buch über einen Ausschnitt, das viel darüber hinaus erklärt.

Konrad Stamm, «Minger – Bauer – Bundesrat. Die aussergewöhnliche Karriere des Rudolf Minger aus Mülchi im Limpachtal», NZZ Libro
Was hat uns das Leben eines Bundesrates aus dem frühen 20. Jahrhundert noch zu sagen? Im Fall von Rudolf Minger (1881–1955) noch allerhand. Das zeigt die Biografie von Konrad Stamm über das Urbild eines bodenständigen Politikers. Minger spielte die interessante Rolle eines Oppositionellen, der sich wunderbar mit dem Staat arrangierte, eines Volkstümlichen, der Macht errang, eines Bauern auch, der das Militär als Kern des Landes verstand. Wir lernen den Stammvater der heutigen SVP als die archetypische Figur der Schweizer Politik kennen, mit Zügen, die in ähnlicher Form bis heute immer wieder im Politikbetrieb aufscheinen.

Ute Frevert, «Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht», S. Fischer
Dieses Buch verfolgt ein machtvolles Gefühl: die Scham – und wie die Menschen dieses Gefühl immer wieder eiskalt benutzt haben, durch Demütigung, durch Akte der Entehrung, durch Beschämung. Diese Waffen gehören bis heute zum Alltag, ob an Medienprangern, beim Cybermobbing, im «Dschungelcamp» oder beim Gerangel zwischen Nordkoreanern und Amerikanern. Kleinste Ausrutscher können tödliche Folgen haben. Die Untersuchung der Neuzeit-Historikerin Ute Frevert zeigt sehr lange Entwicklungen auf. Und vor allem weckt sie das Bewusstsein und das Verständnis für eine unheimliche Kraft, die überall schlummert, ohne dass wir sie je richtig beachten.

Yuval Noah Harari, «Homo Deus. Eine kurze Geschichte von Morgen», C. H. Beck
Ein Geschichtsbuch ist das nicht, eher eine Utopie – aber sie wurzelt, wie andere Utopien auch, in einer Analyse der Vergangenheit. Die Menschheit hat die drei Hauptprobleme weitgehend besiegt, stellt der israelische Historiker Yuval Noah Harari fest: Hunger, Seuchen, Krieg. Das mag übertrieben wirken angesichts von dem, was uns jede «Tagesschau» bietet. Aber schon die Begründung dieser Feststellung ist interessant und glaubwürdig. Harari denkt nun aber weiter – und er folgert, dass wir uns neuen Hauptsorgen zuwenden werden, zum Beispiel: dem Glück, dem ewigen Leben, dem Umbau des Menschen. Am Ende könnte der Homo sapiens zu einem Übermenschen werden, zum «Homo Deus». Wie gesagt: Die präsentierten Aussichten sind diskutabel, wie stets bei solchen Werken. Die reichhaltige Herleitung aber führt uns wirklich weiter.

Daniel Schönpflug, «Kometenjahre. 1918: Die Welt im Aufbruch», S. Fischer.
Seit Florian Illies’ Bestseller «1913» häufen sich die Versuche, Geschichte zu greifen, indem man ein einzelnes Jahr herauspickt. Ein gelungener, ja schöner Fall ist «Kometenjahre» von Daniel Schönpflug. Der Geschichtsprofessor an der FU Berlin wählt das Scharnier des letzten Kriegsjahres 1918, und er nimmt dabei die Berichte und Lebenszeugnisse einer bunten Mischung von Menschen zur Hand, kleine und grosse, bekannte wie «Lawrence of Arabia», wie der spätere Ho Chi Minh oder der spätere US-Präsident Harry Truman, auch eine Bildhauerin wie Käthe Kollwitz oder die Kosakin Marina Jurlowa. Die vielen Ausschnitte, fein geschrieben, ergeben zusammen ein sehr klärendes Panoptikum.
13 Kommentare zu «Die beste Geschichte des Jahres»
„Drachenwand“ von Arno Geiger will ich hier auch erwähnen.
Ich hab zuvor nicht von ihm gehört, vernahm im ORF nur, dass er sich mit dem Buch auch einer Frage widmen wollte, die mich ebenfalls schon seit langem umtreibt: Wie haben es Länder wie A und D geschafft, nach derart brutalen Diktaturen ansatzlos den Weg zu rechtsstaatlichen Demokratien zu schaffen (während jene Länder weiter östlich bis heute Probleme damit bekunden)?
So bin ich zur Lesung ins Volkstheater und hab nur staunen können. Oft war´s fast unangenehm, die wohlformulierten Gedanken nicht gleich nochmal durchlesen zu können, um sie zu erfassen, weil er im Lesefluss natürlich schon viel weiter war.
… Jedenfalls: Ein gutes Buch, das die Erkenntnis seines Protagonisten 1944 sehr glaubhaft nachvollzieht.
Könnten Sie bitte allenfalls noch weitere solcher Listen erstellen, oder darauf verweisen? Wäre sehr spannend!
z.B. Lieblingswerke, die besten Werke aus dem 21. Jahrhundert, etc
„…Etwas haben wir Erdogan, Putin, vielleicht auch Trump zu verdanken: Sie lassen uns ahnen, wie zerbrechlich die Demokratie sein kann. Denn die Rechte des Volkes werden nicht mit einem Paukenschlag zertrümmert, meistens bauen machtbewusste Männer sie schleichend ab, verkleiden sie, verraten sie….“
Ich würde es so schreiben:
Etwas haben wir der EU, dem Bundeshaus, Erdogan, Putin, usw. zu verdanken: Sie lassen uns ahnen, wie zerbrechlich die Demokratie sein kann. Denn die Rechte des Volkes werden nicht mit einem Paukenschlag zertrümmert, meistens bauen machtbewusste Institutionen/Männer sie schleichend ab, verkleiden sie, verraten sie.
„…Natürlich kann man sich in der soliddemokratischen Schweiz entspannt fragen: Was geht es uns an? Nichts direkt…“
Gruss vom 1. April!
Haben Sie ein einziges konkretes Beispiel, wo die Rechte des Volkes in der EU und in der Schweiz abgebaut wurden?
Waffenbesitz
Pasci: Waffenbesitz ist doch nach wie vor erlaubt in der Schweiz! Und irgendwelche kranken Amiverhältnisse müssen wir hierzulande definitiv nicht haben!
«Haben Sie ein einziges konkretes Beispiel, wo die Rechte des Volkes in der EU und in der Schweiz abgebaut wurden?» Freie Wahl der Kleidung .. zumindest in einigen Kantonen, und bei Annahme der SVP-Initiative vielleicht bald überall.
Die Verfassung wird nicht eingehalten.
Abstimmungsergebnisse werden nicht umgesetzt.
Ralph Pöhner liefert termingerecht die ‚politisch-korrekte‘ Bücherliste für all diejenigen, die Angst haben man könnte sie des ‚Populismus‘ beschuldigen. Kurz: Die wirklich spannenden Bücher findet man anderswo.
„Die wirklich spannenden Bücher findet man anderswo.“
Zum Beispiel?
Im Buchladen und in Bibliotheken. Wo sonst. Falls Sie Bestsellerlisten suchen, da helfen Spiegel und SWR und das halbe Dutzend deutschsprachige Literatursendungen/ Monat im TV.
Schrader: Wenn hier der Zweistein schon völlig zusammenhang-, grund- und inhaltslos mit Spiesserschreckbegriffen wie „politisch korrekt“ und „Populismus“ um sich wirft, soll er gefälligst seine eigene Liste der „wirklich spannenden Bücher“ preisgeben. Bis jetzt jedenfalls sieht das eher nach Nullstein aus…