Versöhnung von Stadt und Land

Nichts für Normalos: Benno Pfyl wirft den 83,5 kg schweren Unspunnenstein am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest 2013 in Burgdorf. Foto: Urs Flüeler (Keystone)

«Fremde werden vielleicht ihre Reisen so einrichten, dass sie diesem Fest beywohnen können. Die Gegend von Interlaken bietet ihnen viele Gemächlichkeit …» Mit solchen Tourismus-Visionen versuchte der Stadtberner Patrizier Sigmund von Wagner sein neustes Projekt schmackhaft zu machen: das Unspunnenfest. Man schrieb das Jahr 1805, und Wagner war einer der Mitinitianten der Veranstaltung, die auf dem «Bödeli» bei Interlaken altes Brauchtum frisch beleben sollte.

Die vornehmen Städter organisierten also folkloristische Darbietungen und beriefen sich dabei auf ur-helvetische Traditionen wie das Steinewerfen in den Alpen, als ob in früheren Zeiten jemals irgendwer etwas von Steine werfenden Eidgenossen geschrieben hätte.

Identitätskrise nach Napoleon

Tatsächlich war das Unspunnenfest zu Beginn eine Propagandaveranstaltung mit der wirtschaftlichen Absicht, die darbenden Berner Oberländer touristisch zu stützen. Heute ist der unregelmässig stattfindende Anlass noch immer eine grosse Attraktion für auswärtige Besucher, so auch an diesem Wochenende und bis zum 3. September. Das Unspunnenfest bietet Jodel- und Trachtenvereinen eine grosse Plattform; und vor allem ist es eine Sportveranstaltung, bei der unter anderem 120 Schwinger gegeneinander antreten. Dazu kommen das legendäre Steinstossen sowie Schützenwettbewerbe, ein Trachtenumzug, Jodeln und Fahnenschwingen – alles, was das traditionell schlagende Herz begehrt.

Damals, 1805, erkannte Sigmund von Wagner zusammen mit anderen Bernburgern, dass sich mit einem «Hirten- und Älplerfest» nicht nur die bergige Randregion wirtschaftlich beleben liesse. Die Patrizier setzten auch auf die politische Dimension des gemeinschaftlichen Steinstossens. Denn die Schweizer Kantone steckten unmittelbar nach der napoleonischen Besetzung in einer Identitätskrise, wie der Volkskundler Max Matter schreibt: «Es galt, die Bevölkerung des Oberlandes, das während der Helvetischen Republik einen eigenen Kanton gebildet hatte, gefühlsmässig erneut an die Stadt zu binden und die Versöhnung von Stadt und Land in die Wege zu leiten.»

Zwei Feste, ein Jahrhundert Pause

Dies blieb allerdings ein frommer Wunsch; im Lauf des 19. Jahrhunderts entfremdeten sich Stadt und Land wie andernorts schwer. Die Oberländer waren nämlich schon damals eigensinnig. Sie liessen sich von den Stadtbernern zwar gerne ein Fest organisieren, wollten aber im Übrigen möglichst wenig mit ihnen zu tun haben, besonders, was die Abgaben anging. Nach den ersten beiden Festen kam es erst ein Jahrhundert später zu einem neuerlichen Unspunnentreffen, nämlich 1905. Das war zu einer Zeit, als der Nationalismus in Europa blühte und sich die Bürger nach einer gemeinsamen Identität sehnten.

Im Mittelpunkt der sportlichen Wettbewerbe steht der Unspunnenstein mit einem Gewicht von 83,5 Kilogramm, eine Last, die Normalos nicht zu stemmen vermögen. Doch es gehört zum Stolz der harten Kerle, dass der Stein doch mit einer beachtlichen Lockerheit geworfen wird; der Längenrekord liegt bei etwas mehr als 4,1 Metern: Den gilt es nun zu schlagen. Wer dabei denkt, diese Athleten hätten es nur in den Muskeln, könnte sich täuschen: Eine ausgefeilte Wurftechnik erspart viel Kraftaufwand.

Und plötzlich war der Stein weg

Beachtlich ist, dass die Inszenierung aus dem 19. Jahrhundert in der modernen Schweiz doch eine schöne symbolische Dimension erlangt hat. Greifbar wurde dies im Juni 1984, als der Unspunnenstein plötzlich weg war. Die jurassisch-separatistische Jugendbewegung Béliers hatte erkannt, dass der Brocken auch ein Sinnbild sein könnte für die stadtbernische Herrschaft über ländliche Untertanen. Sie klauten das Original, um Aufmerksamkeit für ihr Anliegen eines vereinigten Kantons Jura zu gewinnen.

Erst 17 Jahre später übergaben sie das Diebesgut an Shawne Fielding, die damals als Expo-Botschafterin in den Jura gereist war. Der Stein war allerdings zwei Kilo leichter, weil die Béliers ein Jurawappen und Europasterne eingemeisselt hatten. Das war witzig gemeint; weniger lustig war, dass sie ihn vier Jahre später noch einmal klauten. Da allerdings interessierte sich niemand mehr dafür, weil längst ein anderer Stein als Wurfobjekt diente. Keiner weiss heute mehr, wo sich das Original befindet, aber wenige kümmert es noch.

Lernen von den Schotten

Heute ist die Politik am Unspunnenfest völlig an den Rand gedrückt. Geblieben ist aber das touristische Gewicht. Das lernten übrigens die Weltmeister historischer Klischees, die Schotten, im vorletzten Jahrhundert ebenfalls zu schätzen. Um die Besucherzahl in ihren abgelegenen Bergregionen zu beleben, erfanden sie die Highland Games. Auch dort stossen urchige Männer bis heute schwere Gesteinsbrocken durch die Gegend, nur werfen die Schotten gleich noch Baumstrünke hinterher. Und vor allem verwandelten sie die Traditionsspiele, ähnlich dem Oktoberfest der Münchner, in ein folkloristisches Exportprodukt: Inzwischen gibt es sogar Highland Games in Brasilien, in Tschechien oder in Abtwil, Kanton St. Gallen. Da könnten die Berner, ob aus der Stadt oder vom Land, noch allerhand lernen.

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