Lieber falsch als alt

Der Shabby Chic hat derzeit Hochkonjunktur. Foto: iStock

Was Geschichte wert ist, lässt sich auf Ebay oder Ricardo nachschauen. Dort können Sie beispielsweise einen Kleiderschrank ersteigern, der mit Schlagworten wie «Vintage» und «Shabby Chic» angepriesen wird. Mit seinen abgeraspelten Holzlatten sieht er tatsächlich aus wie von Vater Abraham gezimmert; Kostenpunkt: 650 Franken. Oder aber Sie können einen Bauernschrank in ähnlichem Format erwerben, zum Preis von 500 Franken. Er stammt, echt jetzt, aus dem frühen 19. Jahrhundert.

Solche Ziffern zeigen, dass die Preise für Antiquitäten – also für echte Stücke aus früheren Generationen – eingebrochen sind. 500 Jahre alte Kupferstiche mit Ansichten von Städten der Lutherzeit? Werden für eine Handvoll Franken verramscht. Zigarrenkisten aus dem 19. Jahrhundert, Ölbilder aus der Zeit der Französischen Revolution? Harren in Online-Auktionen, bis die Sache mangels Bietern abgebrochen werden muss. Und dies, nachdem die Besitzer – oder ihre Eltern – die Stücke einst für Hunderte oder Tausende Franken angeschafft hatten. Im Glauben, es seien Werte für die Ewigkeit.

Vom Auktionshaus ins Hagenholz

Das Phänomen lässt sich durchaus erklären: Eine Generation, die in der guten Stube noch Investments in Form von Silberbesteck, Porzellan, Kommoden oder antiken Perserteppichen hortete, tritt ab. Und eine neue Generation will mit dem alten Krempel nichts mehr zu tun haben. Sodass ein Barockschrank, der vor 50 Jahren noch im renommierten Auktionshaus und vor 25 Jahren wenigstens im Antikmöbel-Fachgeschäft angepriesen worden wäre, heute manchmal im Brockenhaus landet. Wenn nicht gar im Recyclinghof Hagenholz.

Hinein spielt auch, dass sich das Interesse an alten Stücken zeitlich mitverlagert. Fifties- und Sixties-Möbel haben schon wieder Patina; Entwürfen der klassischen Moderne haftet bereits eine gewisse Zeitlosigkeit an; und allesamt passen sie eher zu den geltenden Looks unserer Flachdachhäuser: Max Bill statt Louis XVI., Eames statt Empire.

Café aus «Wuthering Heights»

Skurril wird die Sache trotzdem. Denn auf der anderen Seite boomt der Retro- oder Vintage-Möbelstil, und dies mittlerweile seit gut zehn Jahren. Er durchdringt nicht nur unsere vier Wände und privaten Wohnvorstellungen, sondern auch Bürolofts oder die Gastronomie – wo jedes Café so tut, als sei es ein Landhaus aus «Wuthering Heights». Der Kunst- und Architektur-Historiker Hanno Rauterberg versuchte das Phänomen unlängst in «Die Zeit» zu deuten: Er vermutete, dass wir mit den abgewetzten Möbeln eine Gegenwelt bauen zur Digitalwelt – eine bewohnbare Identität, «die jene Schrammen trägt, die im Makellos-Design ihres virtuellen Daseins nicht vorgesehen sind».

Wichtig dabei: Die Gegenstände sind traditionslos. Sie tun zwar irgendwie alt, aber sie lassen sich gerade nicht einer bestimmten Epoche zuordnen (ein Trick, der ja auch bei «Game of Thrones» ganz gut klappt). Die teuren, alten und echten Stücke der Eltern- und Grosselterngeneration hingegen setzten sich – und damit ihre Besitzer – ganz bewusst in eine zeitliche Linie und einen gesellschaftlichen Rahmen, von Biedermeier bis Belle Epoque, mit dem Adel, der Landed Gentry oder dem etablierten Grossbürgertum.

Hätte man damals diese Möbel verändert, so hätte man sie ruiniert und das eigene Prestige gleich mit. Die Shabby-Chic-Dinge hingegen wirken nur vergangen, weil sie handwerklich nicht perfekt sind, und so können sie leichterdings auch wieder geschliffen und frisch lackiert werden, kein Problem. Und sonst schmeisst man sie halt einfach weg.

Das Leben ist instabil

Alt ja – aber alt unter eigener Kontrolle. «Mehr als nach allem anderen sehnt sich die Gegenwart nach Selbstbestimmtheit», schliesst Hanno Rauterberg. «Darum kann sie mit Antiquitäten im herkömmlichen Sinn so wenig anfangen, sind diese doch von einer unverfügbaren Vergangenheit bestimmt.»

Keiner richtet sich heute eine Wohnung für die nächsten Jahrzehnte ein. Das Leben ist instabil geworden, zu instabil für schwere Barockkommoden; und wenn die Gästevorlieben ändern, muss man «Wuthering Heights» halt wieder rausschmeissen. Aber wir suchen trotzdem Halt. Und der findet sich in einer gemütlicheren Vergangenheit, im Früher. Egal, wann genau.

2 Kommentare zu «Lieber falsch als alt»

  • Barbara sagt:

    Wie wahr! Trotzdem sollte man versuchen, die echten Antiquitäten aufzubewahren – auch ihre Zeit wird wieder kommen, vermutlich schneller als gedacht.

    • Margrit sagt:

      Einverstanden ,aber wo soll man den antiken Schiefertisch aufbewahren? Spaetestens beim Umzug ins Altersheim wird er zum Problem. Und erst die geliebten Buecher….kein Platz dafuer und niemand will sie haben. Wir mussten mehr als zweitausend Buecher wegwerfen ,das tut weh. Buecher bestellt man per download, und zum Entsorgen drueckt man auf den Knopf….

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