Keine Geschichte ohne Frauen
Kürzlich wurden Sie hier dazu aufgerufen, unter dreissig bedeutenden «Figuren» der Schweizer Geschichte Ihre Favoriten zu küren. Wenig überraschend figurierten auf der Liste – abgesehen von drei Frauen – lediglich Männer. Das Argument des Autors und Historikers? Er mache keine Geschichte, sondern vermittle sie nur. Eine Replik von 30 Historikerinnen.
Erstens gab es in der Vergangenheit durchaus «mächtige» und «einflussreiche» Frauen. Nur galten diese in der Geschichtsschreibung für sehr lange Zeit schlicht als nicht relevant und wurden darum ignoriert. Oder kennen Sie etwa Katharina von Zimmern (1478–1547) oder Mileva Marić (1875–1948)? Nein? Die erste war die letzte Äbtissin von Zürich. Während der Reformation verzichtete sie freiwillig auf all ihre Macht und bewahrte damit die Stadt vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Die zweite war als Wissenschaftlerin und erste Ehefrau von Albert Einstein wohl massgeblich an dessen Theorieentwürfen beteiligt. Gewürdigt wurde sie kaum.
Es hat sich so einiges geändert
Dies führt zum zweiten Punkt: Der Ausschluss von Frauen aus der Geschichte hat auf einer weiteren Ebene Tradition. Geschichtsmächtig waren bis weit ins 20. Jahrhundert vor allem «grosse» Männer und ihre «grossen» Taten. Bekannterweise scherten sich die damaligen Herren Historiker keinen Deut um die Geschichtsmächtigkeit von Frauen; es sei denn, diese waren Familienmitglieder oder Verwandte von wichtigen Männern oder übten ausnahmsweise Rollen aus, die üblicherweise Männern vorbehalten waren. Als sich im 19. Jahrhundert die Geschichtswissenschaft an den Universitäten etablierte, waren Frauen in unserer Gesellschaft den Männern klar untergeordnet. Ihr Platz war im Haus und in der Reproduktion. Für die Historiker uninteressant.
Seither hat sich glücklicherweise so einiges geändert. Mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie der Geschlechter- und Alltagsgeschichte sind die verschiedensten Bevölkerungsteile sowie Akteure und Akteurinnen in den Fokus der Forschung gerückt, sodass Historikerinnen und Historiker heute nicht nur über den weissen, reichen und erfolgreichen Mann schreiben, sondern auch über Arbeiterinnen und Arbeiter, Menschen mit Migrationshintergrund, Dienstmädchen oder sozial engagierte Bürgersfrauen. Geschichte von unten heisst das Stichwort.
Unsere Geschichte und das Werden unserer heutigen Gesellschaft sind nicht zu verstehen, ohne die Bevölkerung in ihrer Vielfalt zu berücksichtigen. Schliesslich hat kein Mann alleine die Gesellschaft von heute geschaffen.
Nehmen wir Anny Klawa-Morf, nehmen wir Rosa Bloch
Letztlich geht es darum, welche und wessen Geschichte wir uns heute erzählen wollen. Nehmen wir etwa die Arbeiterin Anny Klawa-Morf (1894–1993). Mit ihr werden die Kämpfe der Arbeiterschaft um die Jahrhundertwende sichtbar, denen wir massgeblich unsere heutigen «humanen» Arbeitsbedingungen verdanken. Wegen ihres politischen Einsatzes wurde sie immer wieder beruflich schikaniert, auch eingesperrt – und gab doch nie auf. Oder nehmen wir die Sozialdemokratin Rosa Bloch (1880–1922), die während des 1. Weltkriegs lauthals gegen Hunger und Nahrungsmittelknappheit protestierte und schliesslich die Herabsetzung des Milchpreises erzwang. Es gäbe unzählige weitere solche Beispiele.
Wer hat also die Macht zu definieren, welche Personen und Leistungen als erinnerungswürdig gelten und welche nicht?
Die Art und Weise, wie über Geschichte geschrieben wird, wer als erwähnenswert gilt und welche Interessensschwerpunkte gewählt werden, ist nicht in Stein gemeisselt, sondern von der Perspektive der Historikerin oder des Historikers abhängig. Allen Forschungen zum Trotz wird in den Medien noch immer das Narrativ des weissen, reichen und erfolgreichen Mannes aufrechterhalten und unreflektiert fortgeschrieben. Unter dem Deckmantel «objektiver» Geschichtsschreibung zu behaupten, fünfzig Prozent der Bevölkerung seien in der «Geschichte» nicht wichtig gewesen, reproduziert genau jene misogyne Haltung des 19. Jahrhunderts, die sich wie ein roter Faden durch unsere Geschichte zieht und unser Denken bis heute prägt.
Insofern ist es wenig erstaunlich, dass der imaginierte «Urvater» der Schweiz, Wilhelm Tell, Platz auf einer solchen Liste findet, nicht aber Mileva Marić oder Rosa Bloch.
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5 Kommentare zu «Keine Geschichte ohne Frauen»
Warum ist BR Ogi nicht auf der Liste? Als Vertreter der schweizerischen Intelligenzija gehört er drauf.
„Man kann seine eigene Meinung haben, aber nicht seine eigenen Tatsachen.“
Dieses Bonmot gilt letztendlich auch für die Geschichtsschreibung. Selbstredend gab es unzählige verdienstvolle Frauen in der Schweizer Geschichte. Nur bereitet es offensichtlich auch den Kritikerinnen der ursprünglichen Liste Mühe, eine ähnlich geartete Liste mit 30 Frauen aufzuführen, die ebenso unbestrittene Verdienste aufweisen wie Persönlichkeiten der ursprüngliche Liste. Ob da ein „massgeblich an den Theorieentwürfen“ des Ehemannes ausreicht, wäre noch zu diskutieren, insbesondere da diese Massgeblichkeit wohl nicht belegbar sein dürfte. Und ob eine Milchpreisreduktion dieselbe historische Bedeutung beikommt wie z.b. die aufklärerische Rolle von Rousseau, ist wohl ebenfalls Ansichtssache.
Etwas bösartiges. Warum sind heute so sehr linke und grüne Politikerinnen so vehement für den Islam und verteidigen diese Frauen, die nicht nur Kopftuch tragen, sondern sogar mit Vollverschleierung, nur mit Augen-Schlitz, sich in der Öffentlichkeit bewegen, als Frauen des Fortschritts und der Toleranz.
Wahrscheinlich wollen sie für sich und alle anderen Frauen ein Fortschritt mit Rückschritt ins 19. Jahrhundert. Da haben wir dann die Gleichstellung der Frauen wieder in beiden Kulturen. Das ist echt Multi-Kulti!
Danke für die Replik zu jener Historische-Figuren-Liste. Ich hab darüber nur gegähnt und mich an die SRF-Serie letztes Jahr (?) erinnert, welche derselben Kritik ausgesetzt war. Der Blog-Autor hat aus jener Diskussion scheinbar nichts gelernt. Und jene, die den Blog-Beitrag durchgewunken haben, auch nicht. Traurig.
’sondern von der Perspektive der Historikerin oder des Historikers abhängig.‘
Was ist der Unterschied zwischen der Perspektive eines Historikers und der einer Historikerin? Wo z.B. finde ich in der 4- bändigen Geschichte des Westens das ‚Narrativ des weissen, reichen und erfolgreichen Mannes‘?
Es ist doch eher so, dass das Gros der Historiker beider Geschlechter und aller sexuellen Ausrichtungen davon ausgeht, Geschichte sei objektiv und nicht von Menschen gemacht wird. Die Geschichte umgekehrt erst macht die Menschen und nimmt dabei auf das unbedeutende Geschlecht nicht die geringste Rücksicht.
Vergleichen Sie nur einmal, in welchem historischen Kontext die grossartige Berta von Suttner Friedensnobelpreisträgerin wurde und in welchem der erbärmliche Obama.