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Arterien der Stadt, Pt. I

Vom Knotenpunkt Bahnhof bis zu den Endstationen, den letzten städtischen Enklaven vor der Agglomeration: Ein Reisebericht durchs Tramfenster. Zum Auftakt: Die Tramlinie 8 mit ihren ruppigen Kurven.

800 Meter. So lange sind sich Berns Trams einig. Zwischen Zytglogge und Hirschengraben nämlich. Dann aber gehen die Meinungen darüber, wos langgehen soll, ein erstes Mal auseinander: Am Zytglogge folgen die 8er-, 7-er und 6er-Linie dem Ruf des Ostens, und die 9er-Linie prescht gen Norden. Dasselbe am Hirschengraben: 8, 7 und 6 biegen scharf rechts ab, während die 9 sich von der Mehrheit nicht beirren lässt und ihrem exklusiven Schienenlauf folgt.

Unsereins biegt ab. Heute gilt es, nicht wie sonst immer die zentrumsnahen Stationen zu beherzigen, sondern bis zum Ende auszuharren. Eine Rundreise mit dem 8er-Tram von Brünnen Bahnhof Westside bis Saali steht an, das sind im Rundkurs stattliche 80 Minuten Fahrzeit, die nicht mit Gratiszeitungen kleingekriegt werden sollen, sondern bewusst abgefahren. Bis nach dem Loryplatz freilich hält sich die Spannung in Grenzen, ausserhalb der Fenster: das altbekannte Stadtgesicht.

Deshalb ein Rundblick im Tram: Ein Mann liest «Hürriyet», ein Kleinkind mit ernsthaftem Gesichtsausdruck saugt am Nuggi. Eine feine Reisegesellschaft. Wir passieren den BLS-Bahnhof Ausserholligen, das Weltkulturerbe Altstadt liegt weit hinter uns. Bümpliz zeigt seine zwei Gesichter, links blinken die blankgeputzten Fenster der zweigeschossigen Reihenhäuschen in der Sonne, rechts bäumt sich ein russgeschwärzter Wohnblock auf. Die Kirche Bethlehem zieht vorüber.

Irgendwo hier muss die Postfiliale liegen, die zur Weihnachtszeit besonders viel zu tun hat, weil sie den Geburtsort Jesu im Namen und auf dem Stempel trägt. Von Holenacker bis Gäbelbach ist die Tramspur grasbewachsen, was sehr schön aussieht. Und dann: die potentiell belebteste Endstation Berns, komplett mit Shoppingzentrum, Spassbad und Baumängeln. Allerdings ist an diesem Morgen nicht viel los. Der Gilberte-de-Courgenay-Platz ist menschenleer.

Als hätte sich das Tram auf seinem Weg in den Westen plötzlich anders besonnen, zieht es eine Schlaufe in die Gegenrichtung. Genug Agglo, es geht zurück in die Stadt. Der Rückweg ist ruppig, ab der Marktgasse häufen sich die Kurven, bevor das Tram auf der Thunstrasse eine Schneise durch das teure Bern zieht. Rechts wirbt ein Metzger mit «Super Kalbsleber frisch aus dem Emmental», doch was sonst verheissungsvoll wäre, kommt auf den kurvengeprüften Reisemagen gar nicht gut. Daher wird der Innenraum fixiert. Eine schwangere Mitreisende lässt sich vom Oktober nicht die Freude an kurze Hosen vermiesen.

Das Tram fährt nach dem Burgernziel direkt unter der Flugschneise. Und dann liegt da plötzlich kein Teer mehr unter den Geleisen, sondern Schotter, wie bei einem richtigen, echten Zug. Fast wähnte man sich auf dem Land, reihten sich linkerhand nicht die Hochhäuser von Wittigkofen aneinander. Just jene Skyline, die einem von der anderen Seite her kommend auf der Autobahn zum ersten Mal die Stadt verheisst. Endstation Saali. Wer nicht hier wohnt, der war noch nie hier. Ist es möglicherweise die schönste Endstation Berns? Vögel zwitschern, das Gras wächst hoch und die Sicht ist weit. 2 Franken 70 sind nicht alle Welt, man könnte glatt mal wieder kommen.

Hanna Jordi

Hanna Jordi lebt in Bern seit 1985. Etwas anderes hat sich bislang nicht aufgedrängt.


Publiziert am 24. Oktober 2012

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