
Marzili: Cliquen und nackte Haut
Der Sommer ist da. Der «Hauptstädter» macht sich auf, Berns Badeanstalten zu erkunden. Diesmal: das Marzili.
Der Bademeister traut seinen Augen kaum. Wagt sich doch tatsächlich ein Paar mit Hund, den Spazierweg der Aare entlang zu promenieren, mitten unter den Badenden. «Das chöit der hie nid», erklärt er ungehalten, während er die verhalten Protestierenden aus dem Marzili hinausspediert, «wär ja no schöner».
Nur weil ein Bad gratis ist, das lernt man im Marzilibad schnell, herrscht hier noch lange nicht Laisser-faire. Im Gegenteil. Neben den zahlreichen Verbotstafeln («velofahren verboten», «fischen verboten») sind es aber vor allem die ungeschriebenen Gesetze, die das Bad prägen.
Etwa, was die Liegeordnung betrifft. Selten hat man eine so gut sortierte Badi-Gesellschaft gesehen: Zwischen Männerbadi und Sportbecken die jungen Schönen, cliquenweise angeordnet, auf den Holzpaletten entlang der Aare die Sonnenölgesellschaft, die Halbwüchsigen rund um den Springturm, die Pingpong-Szene, die Familien zwischen Restaurant und Frauenbad, die Sportler zwischen Dampfzentrale und Monbijoubrücke. Es ist, als hätten sich die Marzilibesucherinnen und -besucher im stillen Einverständnis über diese Ordnung geeinigt. Oder sie haben sich insgeheim ein Vorbild genommen an den klaren Grenzziehungen zwischen den Parteifraktionen im Bundeshaus, das hier über der Liegewiese thront und seinen Kantönligeist versprüht.
Wo sich also hinlegen? Für Unentschlossene hat das Marzili eine Antwort parat. Es stellt nämlich die Chromosomenfrage. «Reservierte Frauenabteilung. Eintritt nur für Frauen», heisst es am Eingang des Frauenbads. Das «Paradiesli» – Adam ist verlustig gegangen – ist ein historisches Überbleibsel. Als das Bad im 18. Jahrhundert noch Eintritt kostete und «Füferweiher» genannt wurde, ging es im Bad nämlich noch freier zu und her. Oder besser: freizügiger. Im Männerbad machten sich die Männer nackig, im Frauenbad die Frauen.
Heute erfahren die Geschlechter im Marzili unfairerweise nicht mehr die gleiche Behandlung. Die Rechte der Männer sind beschnitten worden: Das Männerbad an der Nordspitze des Marzilis ist nicht mehr abgeschlossen, so dass potenzielle Nudisten den lüsternen Blicken der weiblichen Badegäste schutzlos ausgeliefert wären. Sie verlegen sich fürs Nacktsonnen lieber in die gemischte Nacktzone im Lorrainebad. Den Frauen hingegen hat man ihr Frauenbad gelassen. Es ist eine Festung geblieben, abgeriegelt vom Rest der Badigemeinde. Höchstens von oben lässt sich ein Blick hinter die Mauern werfen: Früher haben sich die jungen Männer Berns offenbar ein Gaudi daraus gemacht, von der Monbijoubrücke aus nach nackten Mädchen zu spähen. Mit dem Aufkommen des Internetpornos dürfte sich dieses Problem aber erledigt haben.
Hinter der schweren Holztüre lernt die FKK-Novizin: Hier wird ernst gemacht. Die so liberale Freikörperkultur enthält einen Zwang, und zwar den Zwang zum Nacktsein, Badehose anbehalten ist nicht. Und so liegt man denn da, ganz Frau, ganz nackt, aber ansonsten wahnsinnig unaufregend so in Abwesenheit der restlichen Gesellschaft. Rundherum die übrigen nackten Frauen, die meisten älter, manche jung, die einen lesend, die anderen schlafend, alle gesunde Hautfarbe, alle sehr bei sich. Friedlich ist es, wie da aus dem Übungsraum der Dampfzentrale ein Waldhorn hinüberweht, immer derselbe Lauf aus fünf Tönen, während man sanft der gleichmässigen Bräune entgegendämmert. Gar nicht so schlecht.
Aber auch ein bisschen ausgeschlossen kann man sich hier fühlen. Die nahtlose Bräune ist zwar nett, und Frauen sind oftmals sympathische Menschen – doch am Ende ist die Badi doch ein wuseliger Ort, ob man will oder nicht. Also schleunigst aufgestanden, Bikini übergezogen und ab auf den Aareweg. Hier treffen alle zusammen, die vorher noch so fein säuberlich segregiert waren, die Männer, die Frauen, die Familien, die Schönen, die Schmächtigen, ja sogar die Hündeler ab einem gewissen Streckenstück, um die grösste Sensation des Marzilis gemeinsam in Angriff zu nehmen: das Aarebad.
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