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Revolutionäres Schlangestehen

An Abstimmungssonntagen bildet sich im Bahnhof Bern jeweils eine lange Schlange aus Abstimmungswilligen. Dies hat seine Tücken und birgt Frustpotential – auch für einen gefühlten Vorzeigebürger.

In der Schweiz ist das politische Mitspracherecht der Bürgerinnen und Bürger umfassend und gut verankert. Dass der Weg zur Ausübung der Bürgerrechte dennoch beschwerlich und weit sein kann, zeigt sich an Abstimmungssonntagen im Hauptbahnhof Bern. Kurz bevor die Wahlurnen am Mittag plombiert werden, wächst die Kolonne vor dem zum Abstimmungslokal umfunktionierten Tourismusbüro jeweils auf gegen hundert Meter an.

In der Schlange, die sich um mehrere Ecken windet, herrscht Torschlusspanik – im wahrsten Sinn des Wortes: Keiner möchte vor den verschlossenen Türen des Lokals stehen, schliesslich geht es um politische Entscheidungen mit teils weitreichenden Folgen. Zudem dürfte so mancher eigens für die Wahl auf ein ausgiebiges Ausschlafen verzichtet haben, während sich andere darüber aufregen, zu spät aufgestanden zu sein.

Ich dagegen vertraue an jenem Sonntag im vergangenen November auf den zivilen Ungehorsam der Abstimmungshelfer, das Abstimmungslokal falls nötig auch einige Minuten länger geöffnet zu lassen und stelle mich artig und entspannt zuhinterst in die wartende Menschenkolonne. In Gedanken sinniere ich über die Odyssee meines Wahlcouverts, das frankiert und in meiner Tasche verstaut eine längere Reise hinter sich hat: Von Zuhause ins Büro, wieder nach Hause, wiederum ins Büro und so weiter, und so fort – drei Wochen lang. Einzig den Weg in den gelben Briefkasten fand die – in der Stadt Bern selbst zu frankierende – amtliche Antwortsendung dabei nie.

Musik dringt aus meinen Ohrstöpseln: «Useless Game», sinnloses Spiel, singt Danny Lee Blackwell von der amerikanischen Psy-Rock-Band Night Beats. Gedanken, ob der eigene Gang an die Urne in Anbetracht der Vielzahl der Stimmberechtigen nutzlos ist, verflüchtigen sich schnell: Ich bin in diesem Moment ein selbstzufriedener Bürger bei der Ausübung seiner Bürgerpflicht, werde dabei von der mich umgebenden Menschenschlange schrittchenweise vorwärtsgetragen.

Doch dann mischen sich ungewohnte Geräusche in die nicht immer gänzlich sauber getroffenen Töne der Night Beats. Sie sind schrill und sie gelten mir, wie ich alsbald merke. «Sie wollten sich vordrängen», sagt die rund 60-jährige Frau vor mir böse. Widerrede scheint zwecklos, denn auch die Frau eine Reihe weiter vorne will meine Unartigkeit genau gesehen haben. Eben noch Vorzeigebürger, nun ein Vordrängler – obwohl ich mir keiner Schuld bewusst bin, gerät mein kurz zuvor entstandenes Selbstbild bereits ins Wanken. Grummelnd setzte ich die Stöpsel zurück in meine Ohrmuscheln und hantiere kurz am Abspielgerät. Wenn Johnny Rotten nun «I wanna be an anarchy» singt, ja kreischt, bin ich so stark einig mit ihm als jemals zuvor.

Kurz nach zwölf Uhr – das Abstimmungslokal macht noch keine Anstalten zu schliessen – befinde ich mich fast zuvorderst in der Schlange, die noch immer weit in die Galerie der Bahnhofshalle hineinreicht. Da dreht sich die Frau mit der schrillen Stimme zu mir um. Ich schenke ihr einen grimmigen Blick. Doch auch ein grimmiger Blick scheint dann und wann Mitleid auszulösen: Die Frau entschuldigt sich bei mir, «ich wollte ihnen nicht den Tag verderben» und reicht mir versöhnlich die Hand. Und so müssen Johnny und die Revolution vorerst noch etwas warten: Ich werde auch weiterhin an den behördlichen Abstimmungen und Wahlen teilnehmen – künftig aber wieder ausschliesslich per Briefwahl.

Basil Weingartner

Als Basil Weingartner vor 12 Jahren nach Bern zog, erhielt er als Begrüssungsgeschenk eine Packung exquisiter Jodtabletten.


Publiziert am 7. Februar 2014

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