
Der dreiste Ticket-Trick macht die Runde
Fiese Masche: Ein Mann erhält ein unverhofftes Geschenk und wird ausgeraubt. Der «Hauptstädter» hat sich an die Fersen einer unglaublichen Geschichte geheftet.
Es klingt sagenhaft: Ein Mann kehrt zu seiner Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in der Lorraine zurück und macht eine unangenehme Entdeckung: Sein Velo ist weg, weggestohlen aus dem Unterstand. Er ärgert sich, selbst als er am nächsten Morgen aufwacht, ärgert er sich noch. Doch dann die wunderbare Überraschung: Beim Verlassen des Hauses stellt er fest, dass sein Velo zurück am Platz ist. Am Rahmen hängt ein Couvert, und im Couvert finden sich zwei Tickets für das «Ewigi Liebi»-Musical sowie ein Brief mit den Worten: «Bitte entschuldigen Sie vielmals, dass ich mir Ihr Velo ausgeliehen habe. Ich hatte einen Notfall in der Familie und wusste mir nicht anders zu helfen. Ihr Velo hat mich gerettet. Als Wiedergutmachung finden Sie anbei zwei Tickets für eine Musicalvorstellung. Viel Vergnügen!» Der Mann findet die Geste nett. Er lädt seine Freundin zum Musical ein. Und als sie nach der Vorstellung in die heimische Wohnung zurückkehren, stellen sie fest: In ihrer Abwesenheit hat jemand die ganze Wohnung leergeräumt. Also nicht nur den Flachbildfernseher entwendet, sondern auch das Goldvreneli aus der Erinnerungsschatulle geklaut.
Dreiste Diebe! Gute Geschichte! Klingt sie vertraut? Gut möglich. Sie macht seit einer Weile die Runde. Und wird weiterverbreitet an bierseligen WG-Abenden, beim freundlichen Trimm-Dich-Schwatz im Fitness-Studio, bei der Rauchpause im Büro. Das Problem ist nur, die redlichsten Bemühungen, der Quelle der Geschichte auf die Spur zu kommen, müssen scheitern. Immer dann, wenn man glaubt, das leibhaftige Opfer des Einbruchs identifiziert zu haben, gerät die Erzählung ins Stocken: Also gerade persönlich kenne der Erzähler den Mann nun nicht, es handle sich dabei lediglich um den Schwager des ehemaligen Arbeitskollegen oder um dessen angeheiratete Tante.
Offensichtlich werden wir Zeugen, wie eine urbane Legende eingebernert wird. Und dabei hatte alles so schön realistisch geklungen. Die Lorraine! «Ewigi Liebi»! Die Polizei jedenfalls lässt das alles nicht gelten. Sie habe keine konkreten Hinweise, dass das geschilderte Tatvorgehen bei Einbruchdiebstählen im Kanton Bern zur Anwendung gekommen sei, lässt sie verlauten. Abseits der Polizeidatenbank führt die Geschichte ein quietschfideles Dasein im Internet: In allerlei Konsumentenforen und Bürgerschutzblogs wird die Anekdote herumgereicht, natürlich mit wechselnden Details: «Ewigi Liebi»-Tickets sind selten involviert, dafür allerlei andere Billette für Kleinkunst, Kino und Kabarett. Auch der Wortlaut des Briefs ist variabel.
Sollte sich das echte (!) Berner Ticket-Trick-Opfer unter den Lesern dieses Blogs befinden: Bitte melden! Nur zu gerne liessen wir uns davon überzeugen, dass die Realität manchmal ebenso schillernd ist wie die Fiktion. Inzwischen zehren wir von den Erinnerungen an bewährte Berner Mythen, die den Schritt zum harten Faktum ebenfalls nicht geschafft haben. Oder kennt jemand die beiden Schüler persönlich, die vor bald zehn Jahren im Dählhölzli einen Pinguin in den Rucksack gepackt und entwendet haben? Und hat jemand das Krokodil in der Aare mit eigenen Augen gesehen? Demjenigen Schüler des Gymnasiums Kirchenfeld die Hand geschüttelt, der einen Aufsatz zum Thema «Mut» schreiben sollte und ein Blatt abgab, auf dem stand: «Das ist Mut»? Wir lassen uns gern belehren. Und verinnerlichen uns inzwischen zur Sicherheit die Moral von der Geschicht: Musicals besucht man nicht.
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