
Küchennotizen
Was ist eine «Suprême au fromage»? Und was versteckt sich hinter dem simplen Rezept «Sehr guter Kuchen! Mit Obst»? Nicolette Kretz steht für den «Hauptstädter» am Herd und erforscht die Rezepte ihrer Grossmutter.
In der Wohnung meiner Grosseltern spielte sich das Leben an drei Orten ab: Es gab ein schmuckes Tischchen am Fenster mit zwei Ohrensesseln. Dort trank man mit Grossmutter Tee und ass Bricelets oder Choux à la Crème oder, wenn es etwas zu feiern gab (oder sie irgendwas dazu erklärte), ein Stückli vom Tschirren. Die übrige Zeit verbrachte man meistens am Tisch, einer riesigen Tafel aus dunklem Holz, von der ich mir immer vorstellte, sie könnte auch in einem Rittersaal stehen. Dreimal täglich wurden grössere Mahlzeiten aufgetischt, sonst sass man oft in einem dem Tisch abgewandten Winkel in Richtung Fernseher. In dieser Position schaute man mit Grossvater Tour de France, weniger wegen dem Sport, sondern wegen den dicken Scheiben Mostmöckli, die er abschnitt und einem reichte. «Chätschifleisch» zogen wir einem Hubba Bubba jederzeit vor.
Der dritte Hauptort der Wohnung war eine absurd grosse Küche. Zwar bleiben einem die Orte der Kindheit immer grösser in Erinnerung, als sie es wirklich waren, aber diese Küche war tatsächlich gross. Der Länge nach schaffte man damals etwa sieben Pirouetten, heute wären es wohl knapp vier. Hier waltete meine Grossmutter, von den meisten Grossmami genannt, von ihrem Mann «mis Chäffi», was seine welsch-angehauchte Art war, «mein Käferchen» auszusprechen. Sie fabrizierte hier Tausende von Litern Gemüsesuppe, Änischräbeli, Quarktorten, Fleischpasteten, Gulaschs, Hackbraten und kiloweise vom besten Kartoffelstock der Welt und liess einen von einer Tafel Crémant naschen, die in der Speisekammer neben dem Balkon stets vorrätig war.
Ich hatte das Glück, oft in den Genuss dieser Gerüche und Geschmäcker zu kommen. Die Sonntagstafel von Grossmami war ein Fixpunkt in der Woche und auch sonst durften mein Bruder und ich viel Zeit mit den Grosseltern verbringen. Egal, ob wir in den Dählhölzliwald schlitteln gingen oder sie in die Stadt zu irgendwelchen Kommissionen (am liebsten bei Gadzdag oder Ferrari) begleiteten, immer freuten wir uns gespannt darauf, was es danach am Fenstertischchen oder an der grossen Tafel zu mämpfeln gab.
Vor 16 Jahren starb Grossmami und hinterliess neben vielen schönen Erinnerungen zwei Notizhefte. Darin sammelte sie von den 30er- bis in die späten 80er-Jahre Rezepte in einer wilden Collage aus Zeitungsausschnitten, Hand- und Maschinengeschriebenem. Einiges ist unverkennbar ihre Schrift, anderes beginnt mit Sätzen wie «Liebe Marlies, In aller Eile sende ich Ihnen hier das Quarkkuchenrezept». Einige Rezepte wurden wahrscheinlich von meinem Grossvater auf der Maschine abgetippt oder nach ihren Vorgaben aufgeschrieben, oft auf Französisch, manchmal mit einer kurzen Quellenangabe: «d’aprèstélévisionfrançaise, octobre 1978» oder «Rezept aus der Teestube auf der Halligen Hooge (16.9.86)» – was mich besonders freut, weil es darauf hinweist, dass die beiden meinen neunten Geburtstag auf ihrer Norddeutschland-Reise mit einem Butterkuchen und wahrscheinlich einer Toten Tante (heisse Schokolade, brauner Rum, Schlagrahm) gefeiert haben.
Die Sammlung widerspiegelt das Leben und die Leidenschaften des Ehepaars: Marlies wurde 1909 in Deutschland geboren, wuchs im Kanton Zürich auf, zog in jungen Jahren nach Genf, wo sie den Genfer Charles (aka Grosspapi) kennenlernte und heiratete. Während des Krieges wohnten sie in Basel und zogen 1947 nach Bern, dann nochmals für ein Jahr nach Genf und wieder nach Bern, wo sie bis zu ihrem Tod lebten. Sie reisten gerne und viel, unter anderem dank Charles‘ Stelle bei der Oberzolldirektion, durch die er fast überall auf der Welt Bekannte hatte. Sie gönnten sich (und ihrer Tochter und den beiden Enkel) viel, lebten aber nicht im Luxus.
So stehen die Berner Haselnussleckerli in den Heften neben dem Lemon-Meringue-Pie und der Charlotte aucassis. Man findet eine Weihnachtspastete mit Sulz, aber auch das simple Rezept «Sehr guter Kuchen! Mit Obst». An vieles erinnere ich mich, anderes konnte ich entweder nie kosten oder hinterliess wenig Eindruck. Alles klingt unverkennbar nach Grossmami.
Ich werde mich so unsystematisch, wie die beiden Hefte selbst sind, ans Erforschen dieser Rezepte machen. Welche Rezepte sind zeitlos, welche nur noch nostalgisch zu geniessen? Was ist eine «Suprême au fromage» (mit der Anmerkung: «Excellentcommeentrée (il ne faut pas que ce la soit fade) , et chez les personnes de condition modeste, cela fait une bonne sortie !!! pour les jours maigeres !»)? Und welches der zig Quarktortenrezepte ergibt diejenige, an die ich mich erinnere?
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