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Sitzen am Samstag

Am Samstagabend wurde in Bern viel gesessen. Dabei gab es einen Trade-off zwischen «Augmented Reality» und Normalität.

Die Kantonspolizei Bern teilte mit, dass sie in der Nacht auf Sonntag dauerhaft im Einsatz gewesen sei. Neben den Streitereien und Schlägereien, die die Polizei in der Bundesstadt auf Trab hielten, gab es aber noch eine Parallelwelt – nämlich die des Homo Sedens: Eine beträchtliche Anzahl Menschen verbrachte am Samstagabend viel Zeit mit Herumsitzen.

Die Teilnehmenden des Berner Sitzabends lassen sich in zwei Hauptgruppen unterteilen: Die erste Gruppe schwimmt auf der Trendwelle der «Augmented Reality». Die zweite Gruppe nicht.

«Augmented Reality» bedeutet, dass die normale Welt mit computergenerierten Elementen «verbessert» wird. Das grosse Versprechen der Zukunft: Sich auf dem Smartphone-Display durch Ergänzen und Weglassen eine Welt ganz nach persönlichem Gusto erschaffen! Die «Augmented Reality» ist eine digitale Wahrnehmungsveränderung, die Droge der Digital Natives also. Wäre Timothy Leary ein Fan davon gewesen? Schwierig zu beantworten (ungefähr so schwierig wie das Beantworten der Frage, ob Immanuel Kant getwittert hätte, #KategorischerImperativ).

Vorerst fokussiert sich die «Augmented Reality» aber auf Pikachu und Co. Damit kommen wir zur ersten Hauptgruppe des Samstagabend-Gesitzes.

1. Pokémon Go: Lockmodule und Kommunikationsblockaden

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Vor dem Kulturcasino in Bern sitzt Gruppe Nr. 1. Einige von ihnen haben Campingstühle mitgebracht. Wer sich jetzt noch fragt, warum die Heerscharen von jungen Leuten dort sitzen und eifrig auf ihre Handy-Displays starren, hat den Medienhype des Jahres verpasst: Pokémon Go! Der Release des «Augmented Reality»-Spieles liegt gerade mal zwei Wochen zurück. Weltweit haben sich aber schon Millionen von Menschen mit Hilfe ihrer Smartphones auf die Suche nach den seltsamen Viechern aus Japan begeben.

Also auch am Samstagabend in Bern. Jetzt stehen die Leute nicht mehr auf dem Reitschulvorplatz sondern sitzen in der Innenstadt herum. Auf dem Casino-Platz kann man nämlich spezielle Module installieren und damit Pokémons anlocken – deshalb gilt der Ort in eingeweihten Kreisen als «Pokémon-Himmel».

Die Szene vor dem Kulturcasino offenbart relativ rasch den Nachteil der «Augmented Reality»: Direkte zwischenmenschliche Kommunikation ist rar und findet höchstens im Rahmen von Fachsimpeleien über Meowth und Zubats statt. Ansonsten ist die digital veränderte Realität ein Ego-Projekt, die sich in feingliedriger Pixelei auf Smartphone-Bildschirmen abspielt.

2. Punto Minifestival: Essen und Trinken mit Digital Immigrants

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Die Sitzgruppe Nr. 2 hat sich am Punto-Minifestival im Tramdepot Burgernziel niedergelassen. Hier gibt es orientalisch gewürztes Fleisch mit Sesambrot und Bier und die Realität ist gänzlich unaugmentiert. Im Gegensatz zu den Digital Natives scheint die Generation der Digital Immigrants die Pokémons aus ihrer Freizeit zu verbannen. Und das erstaunliche: die sitzen nicht nur da, die reden miteinander!

Fazit: Beide Gruppen der Berner Homo Sedens-Fraktion haben etwas gemeinsam: Sie waren wohl nicht für die zahlreichen Sachbeschädigungen, Streitereien und Schlägereien in der Stadt Bern verantwortlich, die die besorgte Kantonspolizei am Sonntag meldete. Trotzdem kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass eine digitale Verbesserung der Realität für einen gelungenen Samstagabend nicht notwendig ist.

Julia Richter


Publiziert am 25. Juli 2016

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