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Verlorene Orte (III): Das Känzli

Der Hauptstädter ist auf der Suche nach versteckten Plätzen. Heute: das Lorraine-Känzli.

Es gibt Orte in dieser Stadt, die drängen sich nicht auf. Verborgen hinter Bäumen oder Mauern, versteckt in Winkeln, fristen sie ihr Dasein. Zugänglich die einen, abweisend die anderen – einen Besuch wert sind diese Orte aber sowieso. Wir haben uns auf die Socken gemacht.

Wenn ein Ort für jedermann sichtbar und quasi am Wegrand liegt, aber trotzdem nicht wahrgenommen wird, dann muss ein schwerer Fall von Verlorenheit vorliegen. Ein solcher Ort ist das Lorraine-Känzli. Das ist dieser längliche Parkplatz, der stadtauswärts am Brückenkopf der Lorraine-Brücke sein unscheinbares Dasein fristet. «Känzli» heisst es, weil es einer Kanzel gleich über der Aare thront (es ist denn auch nicht das einzige in Bern – auch die Elfenau und die Kleine Schanze haben ihr Känzli).

Abgesehen vom Namen freilich lässt sich hier nicht viel Glanz ausmachen. Ganz anders als der Botanische Garten, der genau gegenüber liegt, ist das Känzli kein Aufenthaltsort, sondern ein Verrichtungsort. Bewohner der Lorraine entsorgen hier im Schatten der Platanen ihr Altglas, Drogenabhängige entziehen sich auf der aarewärts führenden Treppe den Blicken der Öffentlichkeit, es dient als Einfallsschneise für vorbeiziehende Nachtschwärmer und während der «Schütz» als Schausteller-Camping.

Ein Ort, um zu kommen und schnell wieder zu gehen: Das wird sich auch die Berner Stadtregierung gedacht haben, als es ihr 2008 zur Euro 08 in den Sinn kam, das Känzli kurzerhand zur Prostitutionsmeile auszurufen. Die gestiegene Nachfrage nach Bezahlsex müsse, so der Gedanke, von Frauen und Männern in Campern auf dem Känzli befriedigt werden können. Gross war das Erstaunen im Lorraine-Quartier, der Leist probte den Aufstand, und die Stadt krebste schliesslich zurück. Es habe gar nie wirklich ein Gemeinderatsbeschluss vorgelegen. Die Euro 08 kam dann sogar ohne eigene Sexmeile aus.

Damit war die kurze Aufregung um das Känzli auch schon vorbei. Seither lässt es sich wieder in gepflegter Langeweile über den Platz schlendern.

Hanna Jordi

Hanna Jordi lebt in Bern seit 1985. Etwas anderes hat sich bislang nicht aufgedrängt.


Publiziert am 16. November 2015

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