schliessen

Wohnungsnot im Turm

Er ist Berns höchster Wolkenkratzer und zudem derjenige mit der höchsten Leerwohnungsziffer: Der Münsterturm. Eine Spezialreportage von Berns wohl exklusivster Wohnlage.

Die Fahrt ist nichts für Menschen mit Höhenangst. Im Zeitlupentempo rattert der Baustellenlift hoch über der Altstadt langsam seinem Ziel entgegen. Jeder Windstoss schüttelt die Kabine gehörig durch und die dünne Zahnradstange veranlasst einen besorgten Blick nach oben, Richtung Münsterturmspitze. Hält dieses Konstrukt tatsächlich? Ich klammere mich ans schützende Gitter.

Dann das Aufatmen. In fünfzig Metern über dem Boden und gefühlten hundert Metern über dem Aarespiegel erreichen wir die rettende Baustellenplattform. Von dort geht es über eine letzte Treppe zur wohl exklusivsten Wohnung auf Berns Stadtboden: Der Münsterturmwohnung.

Was nach einer kalten, windgeplagten Sandsteinhöhle klingt, entpuppt sich beim Betreten als durchaus gemütliche Unterkunft. Die Wände sind mit edlem Holz getäfelt, die Räume geräumig, dank der grossen Fenster hell und durch die 360º Aussicht zu jeder Tageszeit besonnt. Sogar eine Nasszelle und Küche, inklusive Warmwasserboiler findet man bei genauerem Hinsehen.

Wie aber geht diese doch ziemlich luxuriöse Stadtwohnung zusammen mit einem spätgotischen Gotteshaus? Verfiel der Münsterbaumeister beim Turmbau auf halber Höhe dem spleenigen Gedanken, sich hier eine ewige Bleibe zu errichten? Quasi als Gegenstück zur Villa mit Pool eine Wohnung mit geringstmöglicher Distanz zum Allmächtigen?

Mein Guide, Architekt Hermann Häberli beschwichtigt. Die Realität sieht auch hier um einiges weniger spektakulär aus als erhofft: Bis kurz vor der Wende ins gottlose 20.Jahrhundert gab es diese Räume gar nicht – aus bis heute nicht ganz geklärten Gründen wurde der Turmbau 1588 genau unterhalb der Münsterwohnung beendet. Erst dreihundert Jahre später, 1889, wurde der Bau wieder aufgenommen und vier Jahre später auf einer Höhe von 100 Metern abgeschlossen.

Es ist eine Geschichte, die doch gar nicht so unpassend ist für diese Stadt: während in Paris mit dem Eiffelturm und der höchsten Stahlkonstruktion der Welt der Übergang in ein neues Zeitalter gefeiert wurde, baute man sich in Bern mit einem neogotischen Turmhelm ein Stück Vergangenheit nach. Nichts von Nietzsche und «Gott ist tot» – in Bern wurde er durchaus noch als Argument für den Hochhausbau verstanden.

Und die Turmwohnung? Die wurde mit Stahlträgern in die Aussenhülle gehängt, um dem Turmwart den Arbeitsweg zu verkürzen. Immerhin zeigt sich hier das damalige Bern auf der Höhe der Zeit. Für die Träger wurde modernster Schweissstahl verwendet. Es ist derselbe wie bei der Kirchenfeldbrücke – und er hält ebenso zuverlässig bis heute.

Wer sich nun durch die zugegebenerweise attraktive Beschreibung der Wohnung Gedanken machen sollte, sich bei der Kirchgemeinde für einen Mietvertrag zu erkundigen, muss leider enttäuscht werden. Denn obwohl bis heute intakt, ist die Wohnung heute nicht mehr bewohnt. Und auch die weitere Nutzung als solche ist mehr als fraglich.

Zurzeit dient die Wohnung als Aufenthaltsraum für die Handwerker der Turmsanierung. Und was danach kommt, ist noch nicht klar. Sicher ist: Durch das verbaute Holz ist die Wohnung ein nicht zu kalkulierendes Brandrisiko. Candlelight-Dinner, Fondue mit Freunden – zu gefährlich. Somit kann es als durchaus wahrscheinlich angesehen werden, dass Berns grösstes Hochhaus auch in Zukunft nicht zur Linderung der Wohnungsnot beitragen wird.

David Streit

David Streit begibt sich auf Entdeckungsreisen in seiner Heimatstadt: Hinter den verschlossenen Türen der Bundesstadt erforscht er Winkel, die der Öffentlichkeit normalerweise verborgen bleiben.


Publiziert am 12. September 2014

Schlagworte

1 Kommentar

Alle Kommentare zeigen

Verbleibende Anzahl Zeichen:

Die Redaktion behält sich vor, Kommentare nicht zu publizieren. Dies gilt insbesondere für ehrverletzende, rassistische, unsachliche, themenfremde Kommentare oder solche in Mundart oder Fremdsprachen. Kommentare mit Fantasienamen oder mit ganz offensichtlich falschen Namen werden ebenfalls nicht veröffentlicht. Über die Entscheide der Redaktion wird keine Korrespondenz geführt.