Mehlwürmer aus dem Breitsch
Das Projekt «Kreislauf.bio» und die Erlebnisdesignerin Andrea Staudacher bringen den Bernerinnen und Bernern Mehlwürmer als Nahrungsmittel näher. Ein Besuch in der alten Feuerwehrkaserne Viktoria.

Insekten sind protein- und vitaminreich, verbrauchen weniger Futter als Rinder und können wegen der ungesättigten Fettsäuren mit Fisch, Avocado und Nüssen mithalten. So werden Grillen, Mehlwürmer und Co. angepriesen, ja es wird eine eigentliche Insekten-Revolution ausgerufen. Auch die Bernerin Andrea Staudacher findet sie faszinierend, doch sie sieht in ihnen nicht das ultimative Mittel für Ernährungssicherheit. «Insekten können nicht die einzige Lösung sein, es gibt auch Alternativen, Mikroalgen zum Beispiel», weiss die 28-Jährige.
Während viele Menschen Insekten zum ersten Mal probieren, ist für Andrea Staudacher der Hype schon vorbei. Die Erlebnisdesignerin beschäftigt sich seit sechs Jahren damit; bereits ist die dritte Auflage ihres Kochbuchs «Ento» vergriffen. Für das Schweizer Fernsehen hat sie im «Future Food Lab» das Essen der Zukunft unter die Lupe genommen; sie hat beispielsweise mit einem Metzger eine Insektenwurst produziert und an einem Schwingfest unter die Leute gebracht.
Insekten als Nahrungsmittel bei Mitmenschen hat sie auch anderswo getestet: «Am Swiss Economic Forum in Interlaken waren die Leute sehr skeptisch, am Schwingfest hingegen haben viel mehr Personen probiert», erinnert sie sich. Im Berner Naturhistorischen Museum war sie Gast bei der experimentellen Essensreihe «Durch die Gänge». Und im Restaurant Löscher in der alten Feuerwehrkaserne Viktoria hat sie ein Insektendinner und Kochkurse veranstaltet.
24’000 Mehlwürmer im Keller

In ihren Kochkursen will Andrea Staudacher zeigen, wie man die Insekten ins Menü integrieren kann, sei es frittiert, gebacken oder karamellisiert. Die Hälfte der Teilnehmer kocht mit ihr in der Löscher-Küche drei bis vier Gänge, die andere Hälfte schaut sich die Mehlwurmzucht im Untergeschoss an. Diese wird von «Kreislauf.bio» geführt, gegründet von Damian Rihs und Kaspar Ramseier. Mit ihnen arbeiten weitere 10 Personen am Projekt.
Im 30 Quadratmeter grossen Lager leben über 24 000 Mehlwürmer. Der Lebenszyklus eines Mehlwurms dauert je nach Bedingungen etwa vier Monate. Zuerst legen die Weibchen 70 bis 500 Eier, die sich innert acht bis zehn Wochen zu einem Mehlwurm entwickeln, woraus eine Puppe entsteht und aus ihr innert sieben Tagen ein Käfer. Derzeit hat «Kreislauf» die dritte Generation im Keller.

Nicht erst seit der Legalisierung im Mai (siehe Box) interessieren sich die beiden Freunde aus Kindergartentagen für Mehlwürmer: Im Oktober 2015 starteten sie in einer Wohnung mit 80 Gramm Würmern. «Wir wollten wissen, was das überhaupt für ein Tier ist», erinnern sich die 24-Jährigen. Seit November 2016 haben sie ihre Zucht in den Keller der ehemaligen Feuerwehrkaserne umgesiedelt und arbeiten mit den anderen Projektmitgliedern als «Kreislauf.bio» zusammen.
Hier versuchen sie, optimale Bedingungen zu schaffen; die Tierchen mögen 25 Grad und Dunkelheit, eine konstante Luftfeuchtigkeit und eine gute Luftqualität. «Damit wir sie weniger stören, wollen wir längerfristig mit Rotlicht arbeiten», erklärt Ramseier.
Gefüttert mit Paniermehl und Karotten

Die Arbeit gleicht derjenigen eines Bauern, der im Stall für Futternachschub und ein sauberes Umfeld sorgt. Täglich während anderthalb Stunden beschäftigt sich jemand von «Kreislauf» mit den Tieren. Verfüttert werden nicht verkauftes Brot, zu Paniermehl verarbeitet, und Karotten. Wasser brauchen die Würmer nicht; sie beziehen dieses aus der Luftfeuchtigkeit und den Rüebli. Ein Augenschein in der Zucht zeigt: Wenn Ramseier einige Karottenscheiben in der Plastikschale verteilt, bewegen sich alle Würmchen schnell in diese Richtung, um sich beim feuchten Futter zu bedienen. «Mir sind sie ans Herz gewachsen, und mir ist wichtig, dass sie sich wohlfühlen», sagt Ramseier.
Er ist fast täglich vor Ort, anders als Rihs: Dieser hat sein Jurastudium abgebrochen und steht nun in der Ausbildung zum Landwirt mit Fachrichtung Bio. Ein erstes Lehrjahr auf einem Hof im Berner Jura hat er abgeschlossen und findet kaum Zeit, sich neben der langen Woche auf dem Hof auch noch um die Würmer zu kümmern.
«Was wir bräuchten, um effizient zu arbeiten, wäre eine bessere Klimaanlage und maschinelle Lösungen für einige Arbeitsschritte», geben sie zu. Zurzeit ist vieles Handarbeit: «Wir entnehmen die toten Würmer, sieben den Kot raus und starten den Kreislauf mit den Käfern neu.» Für Maschinen fehle das Geld, ausserdem wollen sie finanziell unabhängig bleiben. Bei der kleinen Produktionsmenge – jährlich, so schätzen sie, können sie maximal eine Tonne Mehlwürmer züchten – können sie auch keine Verträge mit Detailhändlern abschliessen.
Die Richtlinien zum Verkaufsstart am 1. Mai tangierten das Berner Start-up wenig. «Erstens waren wir mengenmässig nicht bereit dafür, und zweitens ist unsere Infrastruktur nicht auf grosse Mengen ausgelegt. Wir bessern unsere Prozesse langsam nach», sagt Rihs.
«Gagi» als Dünger

Nebenbei interessieren sie sich auch – wie ihr Name sagt – für den Kreislauf. «Beispielsweise können die Exkremente als Vollwertdünger eingesetzt werden», so Ramseier. Diese trocknen sie und verkaufen kleine Mengen auf Märkten. Laut ihren Angaben sind die Gehalte an Nährstoffen beachtlich. So könnte man beispielsweise eine Pilzzucht aufziehen, die im «Gagi» – wie ihr Düngeprodukt heisst – alle wertvollen Stoffe findet. Die beiden haben viel Zeit investiert, um ein Netzwerk aufzubauen und Beziehungen zu knüpfen wie jene zu Andrea Staudacher.
Mit den Kursen, einem neuen Kochbuch und einer Ausstellung in Hamburg geht es bei Andrea Staudacher im Herbst weiter. Und auch bei «Kreislauf» wird es in dieser Zeit Neuigkeiten geben. «Wir schätzen, dass wir bis dahin die vierte Generation herangezüchtet haben. Sobald wir eine genügend grosse Menge haben, alle Richtlinien einhalten können und die Qualität stimmt, starten wir mit dem Verkauf», sagt Rihs. Anfragen aus der Region hätten sie genug: von Bauern, die sich für den Dünger interessieren, und von Restaurants, die Mehlwürmer in ihre Menüs aufnehmen wollen.
Mehlwurm, Grille, Heuschrecke
Das revidierte Schweizer Lebensmittelgesetz hat per 1. Mai drei Insekten als neuartige Lebensmittel legalisiert: den Mehlwurm, die Grille und die Europäische Wanderheuschrecke. In einem 9-seitigen Informationsschreiben veröffentlichte das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) im April die Richtlinien, nach denen sie produziert werden müssen. Auf Anfrage präzisiert Stefan Kunfermann, BLV-Mediensprecher, dass das Amt bereits seit drei Jahren mit den grösseren Produzenten in Kontakt stehe. «Lebensmittelproduzenten müssen sich in die Materie einarbeiten und Kenntnisse erwerben. Das geht nicht von heute auf morgen.» Per Anfang Mai wollte Coop einen Mehlwurmburger auf den Markt bringen, jedoch fehlten die Zutaten, da der Hersteller Essento noch nicht liefern kann. Coop werde informieren, sobald die Produkte verfügbar seien, heisst es auf Anfrage. Auch die Migros interessiere sich für neue Lebensmittelkonzepte, schreibt deren Medienstelle. Man verfolge Projekte, welche die Ernährung auf längere Frist verändern könnten. Private können Insekten zum Eigengebrauch unter gourmetbugs.ch oder insekten-shop.ch bestellen.
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