Materialschlacht in den Bergen

Im Frühstadium meines Lebens hielt ich es für pädagogisch vertretbar, die Sommerferien möglichst vor dem Fernseher zu verbringen. Meine Erziehungsberechtigten standen dieser Ansicht diametral gegenüber. Um meine Vorstellungen von erholsamem Urlaub zu beerdigen, verschleppten sie mich deswegen während mehrerer Sommer auf ein Hochplateau in einem mir unbekannten Gebirge.
Es war ein merkwürdiger Ort. Die Eingeborenen ernährten sich ausschliesslich von geschmolzenem Käse und kurbelten bereits kurz nach Tagesanbruch die Deckel von ihren Fendantflaschen. Sie redeten in einer schrulligen Sprache, die wohl dadurch entstanden war, dass die dortigen Erziehungsberechtigten über mehrere Generationen vergessen hatten, ihre Kinder in die Logopädie zu schicken.
Der Ort hiess Bettmeralp und war eine Art Gulag für Kinder. Die Tage waren lang und streng. Ich wurde dazu genötigt, lange Strecken über steinige Wege zurückzulegen, nur um bei Sonnenuntergang wieder dort anzukommen, wo ich gestartet war – wohl ein perfider Versuch, meinen widerspenstigen Willen zu brechen.
Die Mahlzeiten bestanden aus karger Kost. Es gab sonnengewärmtes Wasser, das mir aus verbeulten Feldflaschen eingetrichtert wurde, und eine absonderliche Salamivariante, der vor Verzehr eine weissgräuliche Haut abgezogen werden musste. Meine Beine ächzten unter der Last des Marsches, während mich die eisige Fratze des Aletschgletschers verhöhnte. Ich vermisste die wohlige Wärme des heimischen Röhrenfernsehers.
Diese Geschehnisse liegen mittlerweile ein gutes Vierteljahrhundert zurück. Inzwischen ist mir Seltsames widerfahren. Einen Röhrenfernseher habe ich nicht mehr, und trotz meiner traumatischen Erlebnisse im Kindergulag verspüre ich gelegentlich das starke Bedürfnis, in die entlegene Welt der Berge zu reisen.
Wie in einem Bann eines verspäteten Stockholmsyndroms bin ich dieses Jahr auf diverse Gipfel gestiegen. Dabei musste ich feststellen, dass die mir bekannte Art des Wanderns anscheinend nicht mehr zeitgemäss ist. Ich wurde damals von meinen Peinigern in kratzige Wollsocken gesteckt, die in Wanderschuhen verschwanden, welche wie Betonklötze an den Füssen hingen. Auch der Rest meiner Ausrüstung verfügte in keiner Weise über technische Finessen.
Heute scheint es dem Menschen nicht mehr möglich zu sein, jegliche Höhenmeter zurückzulegen, ohne dabei Equipment im Wert von zwei Wochen Südseeferien auf sich zu tragen. Da sind zum Beispiel Hosen zu sehen, die mehr aus Reissverschlüssen als aus Stoff bestehen und zu deren korrekter Anwendung wohl höhere Schulbildung sowie eine mehrseitige Anleitung benötigt werden.
Und dies zu einem Preis, für den alternativ auch ein Abendkleid von Coco Chanel erworben werden könnte. Selbst Berggänger, deren Route aus den wenigen Metern von der Bergstation der Sörenberg-Gondel zur Rothornbahn besteht, sind für schweres Schneegestöber im Himalaja ausgerüstet und stapfen mit erhobenem Kinn ihres Weges, als stünden sie mit Reinhold Messner in derselben Blutlinie.
Hat die Evolution den Menschen dermassen verweichlicht, dass er den Eigenheiten der Natur nicht mehr ohne Hilfsmittel gewachsen ist? Was, wenn wir uns zu immer unpraktikableren Wesen weiterentwickeln? Schnallen wir uns für den Weg in den Quartierladen bald Knieschoner um? Sind wir für den Aufstieg durch das Treppenhaus demnächst auf Seil und Karabiner angewiesen?
Verbringen wir die Wartezeit an der Tramhaltestelle künftig in einem feuchtigkeitsresistenten Schlafsack aus Mikrofasern? All dieseexistenziellen Fragen wären mir erspart geblieben, wenn mich meine Erziehungsberechtigten in den Sommerferien einfach hätten fernsehen lassen.
9 Kommentare zu «Materialschlacht in den Bergen»
Herrlicher Text! Auch ich erinnere mich an diesen Kindergulag. Ich wurde mit dem Auto dort hin transportiert. Immer wenn mir von der Fahrt endlich nicht mehr schlecht war und ich es mir auf dem Rücksitz bequem gemacht hatte und endlich eingeschlafen war, musste ich raus um unzählige Höhenmeter zu absolvieren, obwohl es doch eine Bergbahn nach oben gehabt hätte. – Inzwischen nähe ich die Abendgarderobe selbst und sicher könnte meine Outdoor-Bekleidung Extremtemperaturen standhalten.
Naja, habe schon bessere Stories gelesen. Das Adjektiv diametral macht den Artikel nicht wertvoller….
herrlich!
Der Postillon berichtete neulich über die guten Seiten dieser Entwicklung; man gogle nach „postillon survival of the fittest“.
Pups.
Was will ich denn in einem Abendkleid von Coco Chanel auf dem Sörenberg?
Wunderbarer Artikel, ich lebe im Engadin & die Beschreibung des Autors trifft 100% zu, was die Ausrüstung anbelangt!
Solange man nicht deutlich über tausend Franken für die Ausrüstung verpulvert hat, ist es bekanntlich nicht ein Hobby sondern peinliches Amateurgetue. Beim Wandern und Spazieren bedeutet das, dass zwangsläufig die teuersten Bergsteigerschuhe gekauft werden müssen, sonst kommt man unmöglich auf die nötigen Beträge.
Beim Laufen ist die Problematik ähnlich gelagert. Ich erinnere mich an einen Beitrag in einer NZZ-Beilage der diese Thematik bearbeitet hat. Der Lösungsvorschlag war dort nachts und im Winter rennen zu gehen um neben Superschuhen und Smartwatch auch noch eine teure Lampe und eine Hightech-Cagoule einkaufen zu können. Die tausend Franken waren in der Zusammenstellung dann schnell erreicht.
Man muss mit Allem rechnen;
auch mit dem Guten.