Frieda und der Wert eines Menschenlebens

Dank einer älteren Dame erfährt «Poller»-Kolumnist Dieter Stamm endlich, wie man den Wert eines Lebens ausrechnet.

Frieda ist die Mutter eines alten Freundes. Sie traute schon vor Corona keinem über den Weg, und Menschen hat sie nie besonders gemocht. Ich hatte sie sehr vermisst diese ganze Zeit, jetzt durfte ich sie endlich wieder besuchen.

Sie schloss die Tür auf, schaute mich an, als hätte sie mich noch am Abend zuvor gesehen, sagte wie immer kein Wort und schlurfte davon. Im Wohnzimmer, auf dem Tisch, lagen – ebenfalls wie immer – ihr Strickzeug und ein Stapel mit Zeitungsartikeln, die sie nie lesen würde.

Frieda kam mit einer Flasche Holunderlikör aus der Küche zurück und goss ein. «Kein Mensch ist so viel wert», sagte sie. «So ein Blödsinn!»

Zuoberst lag dieser Bericht, in dem steht, wie viel ein Menschenleben in der Schweiz wert ist: 6,7 Millionen Franken. Mit diesem Betrag rechnet der Bund, wenn es gilt, Kosten zu berechnen, wenn man Todesfälle verhindern will.

Frieda sagte, sie könne ihre Enkel jetzt wieder sehen. Aber sie mache sich nichts vor: Ab zwölf hätten die jungen Leute Besseres zu tun, als die Grossmutter zu besuchen, selbst wenn sie sie drei Monate lang nicht gesehen hätten. Und das sei auch völlig in Ordnung so, dieses Gejammere der Alten gehe ihr auf die Nerven.

Ich erinnerte mich schwach, dass ich schon andere Zahlen gelesen hatte. Also googelte ich. Zunächst kam der Bericht einer italienischen Zeitung, in dem eine Studie zitiert wurde. Junge gesunde Frauen, die oft genug Eizellen spenden, und junge gesunde Männer, die oft genug Samen spenden, sind laut dieser Studie 44 Millionen Euro wert. Später reduziere sich der Wert auf 1,4 Millionen für Frauen und 1,7 Millionen für Männer.

Warum Frauen, die ja immerhin Enkel hüten, weniger wert sein sollen als Männer, werde leider nicht ausgeführt, sagte ich in entschuldigendem Ton, als wäre es mein Fehler. – «Lass mal», erwiderte Frieda, «ich nehme das nicht persönlich. Und so toll ist Enkel hüten auch wieder nicht.»
Na ja, wenn sie das sagt, dachte ich. Ich war froh, keine Diskussion führen zu müssen. Irgendwie war ja auch alles gesagt. Ich las ihr ein paar Satzfetzen vor. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer: Wir retten Menschen, die möglicherweise in einem halben Jahr tot wären. Samih Sawiris: In der Schweiz gehen Milliarden verloren, damit es einige Hundert weniger Tote gibt. Bundesrichterin Brigitte Pfiffner: Menschenleben in Franken umzurechnen, ist legitim.

Frieda winkte ab. «Schon Kant hat ja gesagt: Was einen Wert hat, hat auch einen Preis.»

Ich war perplex. Nicht, dass Frieda für Kant zu einfach gestrickt wäre. Überhaupt nicht. Aber es war sonst einfach nicht ihre Art, andere Leute zu zitieren; sie mochte keine anderen Leute, schon gar keine berühmten. Erst zu Hause beim Nachgoogeln fiel mir auf, dass sie einen nicht ganz unwichtigen zweiten Teil von Kants Aussage unterschlagen hatte: Der Mensch aber hat keinen Wert, er hat Würde.

«Der Wert eines Menschen lässt sich doch ganz einfach berechnen», sagte Frieda. «Ich zum Beispiel stricke meinen Enkeln Socken zu Weihnachten und zu den Geburtstagen. Das ist praktisch wertlos, weil meine Schwiegertochter gar keine Wollsocken kaufen würde. Mein Mann hingegen legte noch 100 Franken dazu, als er noch lebte. Bei drei Enkeln war er für die Familie meines Sohnes also jährlich 600 Franken wert. So einfach ist das.»

Der Schreibende möchte jetzt auch ein wertvollerer Mensch werden. Und zwar, sagen wir, 100 Prozent wertvoller. Das klingt eindrücklich. Er wird dem nächsten Bettler also zwei Franken geben, wenn dieser einen Stutz verlangt.

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