Ist es wirklich nötig, dass es dich gibt?

Das Freche bleibt derzeit auf der Strecke. Kolumnist Dieter Stamm bedauert das.

Es ist wichtig, dass ich was vorwegschicke. Sonst wird mir das Ganze als unerhörte und unstatthafte Frechheit ausgelegt.

Also: Nichts gegen die Ernsthaftigkeit, die die Welt ergriffen hat. Sie ist berechtigt, auf jeden Fall liest und hört man das überall. Und tatsächlich gibt es ja immer mal wieder persönliche Gründe, weshalb einem das Lachen vergehen kann. Wenn man krank ist zum Beispiel, wenn man Angst um jemanden hat, oder weil die Buchhandlung geschlossen ist. Da darf man seinen Mitmenschen auch ein bisschen missmutig begegnen, das ist kein Problem.

Aber zurzeit macht es den Anschein, als habe sich die Welt wegen Corona eine Schwere verordnet, die über das Persönliche hinausgehen soll, die sozusagen kollektiv zu sein hat. Wir beglücken einander zwar mit Massen von Bildchen und Videos, die signalisieren sollen: Seht alle her, wir werden den Schrecken mit Spass vertreiben. Dass diese Bildchen und Videos nur selten überraschenden Humor oder wenigstens guten Witz beinhalten, spielt dabei gar keine Rolle. Der springende Punkt ist: Sie gehen mich nichts an, sie sind so unpersönlich wie Werbung im Briefkasten.

Sobald der Umgang zwischen Fremden persönlich wird, gibt es derzeit vor allem zweierlei. Das besorgte, dankbare, verständnisvolle Gegenüber, das mir sagen will: Wir sind alle Menschen, wir sitzen alle im gleichen Boot, wir müssen Sorge zueinander tragen. Oder aber dieses Mürrische, dieser Blick, der mir sagt: Warum bist du nicht zu Hause geblieben? Und ist es wirklich nötig, dass es auch dich noch gibt? Ersteres ist etwas tranig, aber rührend, Letzteres war in milderer Form schon vorher verbreitet.

Nur eines scheint ganz und gar ausser Mode geraten zu sein: das Freche, das Kesse, das Unehrerbietige. Ein bisschen so, als ob wir uns schämen müssten, in diesen Zeiten auch hin und wieder mal etwas übermütig oder unangebracht zu sein. Da gesellt sich zu den besorgten und mürrischen Blicken dann schnell der tadelnde, der sagt: Hör mal zu, es ist nun wirklich nicht die Zeit für solchen Unsinn. Schick doch ein schönes Bildchen oder ein lustiges Video in die Welt hinaus, wenn du es nicht sein lassen kannst. Die muss niemand persönlich nehmen.

Sie glauben mir nicht? Dann gebe ich Ihnen ein Beispiel: Ein Freund von mir traf letzte Woche in einem Lebensmittelgeschäft zufällig seine Freundin. Die beiden gehören nicht zur Sorte Pärchen, die jetzt nur noch im Wald miteinander spazieren gehen, bloss weil sie keine gemeinsame Wohnung haben. Mit anderen Worten: Sie haben tatsächlich immer noch Sex miteinander. Er stand da also in der Warteschlange vor der Kasse, sie trat hinzu, gab ihm einen fetten, feuchten Kuss auf die Wange und sagte laut, auch wenn es nicht stimmte: «Oh wie schön, lange nicht mehr gesehen!» Er war ziemlich perplex, was dem Schauspiel wohl gut bekommen ist, und es dauerte einen Augenblick, ehe er begriff: Seine Freundin trieb nur ein wenig Schabernack mit den Leuten, sie ist nun mal ein kleiner Kindskopf. Aber als er sich umsah, blickte er in lauter empörte Gesichter. Ein Einziger nur habe still vor sich hin gegrinst.

Der Autor war letztes Jahr in Sofia und hatte festgestellt, dass die Leute dort nie bei Rot über die Strasse gehen. Auch nicht, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist. Vermutlich, weil sie es – noch aus der Zeit des Kommunismus – gewohnt sind, folgsam zu sein. Der Autor war deshalb ein wenig stolz, Schweizer zu sein. Bis Corona kam. Denn jetzt sind auch wir sehr folgsam geworden. Aber mehr über den neuen zivilen Gehorsam in einer nächsten Kolumne. Garantiert ernsthaft.

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