Darum ist mir dieses Kronen-Dings doch noch am liebsten
Zuerst wusste man nicht, was im April 1986 los war. Die Messgeräte einiger Stationen in Westeuropa stellten eine erhöhte Radioaktivität fest. Aber weshalb? Dann kam aus Moskau ein verlegenes Hüsteln, richtig herausrücken wollten die Genossen nicht. Gorbatschows frenetisch beklatschte Glasnost-Doktrin schien noch nicht richtig zu funktionieren.
Doch dann gings los. Radioaktivität im Salat, in der Milch, überall! Die Hysterie nahm zu. Was darf man essen? Ist Muttermilch o.k.? Dürfen Kinder im Sandkasten spielen? Ist dies das Ende von allem? Das wars nicht. Heute gibt es in der gesperrten Havarie-Zone rund um das verlassene Werk wieder viel Natur und seltene Tierarten. Was die Causa Tschernobyl noch nicht zu einem positiven Ereignis befördert.
Jetzt, mit dem Coronavirus, ist die Verunsicherung ähnlich. Dürfen Grenzgänger zur Arbeit fahren? Sollte man sich besser nicht mehr küssen, auch nicht die Hand geben? Findet die Zirkuspremiere statt? Ab wann müssen Kolumnisten ihre Zeilen im stillen Kämmerlein absondern? (Wofür gibts denn diese Homeoffice-Möglichkeiten?)
Doch das Virus ist anders als Tschernobyl. Die Strahlung konnte man weder sehen noch riechen oder schmecken. Das kleine C-Kügelchen mit Beinchen und Ärmchen sieht man auch nicht, aber es ist ein reales Ding. Es wird beim Händedruck übertragen, fliegt beim Niesen zum Mitmenschen wie eine Rakete. Nur wer sich einschliesst und alle Kontakte meidet, ist nicht betroffen, denn strahlen kann das kleine Ding dann doch nicht.
Wenn die Hysterie über uns kommt, und das tut sie gerade, ist es ratsam, sich an die Zeit der Pest zu erinnern. Ihr Erreger war ein Bakterium, das im Europa des 14. Jahrhunderts grassierte und 25 Millionen Menschen dahinraffte. Ganze Landstriche entleerten sich. Als diese Geissel der Menschheit aufhörte, florierte die Wirtschaft. Die Bevölkerungszahl stieg, die Leute brauchten Nahrung, Werkzeuge, Kleider, einfach alles. Die zwei Drittel, die noch da waren, versteht sich. Was dem Schwarzen Tod natürlich nichts von seinem Schrecken nimmt.
Wahrscheinlich würden sich Menschen aus jenem Jahrhundert wundern, wenn sie sähen, dass heute über jede Ansteckung und jeden Todesfall einzeln berichtet wird – so bedauerlich er für die Betroffenen ist. Damals wurden die Leichen wagenweise in Massengräber gekippt.
Die Pest war übrigens ein Auslöser für Antijudaismus. Da Juden stärker unter sich blieben und nach strengen Speise- und Hygienevorschriften lebten, waren sie weniger von der Krankheit betroffen als die Mehrheit, die in einem furchtbaren Dreck lebte. Das verleitete zum Umkehrschluss, die Juden hätten die Pest verbreitet, die Brunnen vergiftet. Pogrome waren die Folge.
Wie viel weiter sind wir doch heute: hygienisch, aufgeklärt und modern. Anders als die Leute im finsteren Mittelalter kämen wir nie auf die Idee, dass ein Beizer, dessen Gesicht weder Rundaugen noch eine Langnase aufweist, wegen des asiatischen Aussehens automatisch ein Virusträger sei. Nicht einmal im Traum würden wir das denken.
Der «Bund»-Redaktor fühlt sich gesund, hat diese Zeilen aber dennoch zu Hause verfasst – ohne Anflug von Paranoia.
Kommentarfunktion deaktiviert.