Auf dem Schneeberg erscheint plötzlich Wladiwostok
Ein Schriftsteller beschrieb eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn. Ihm fiel auf, dass die Mitreisenden schon vier Stunden vor Wladiwostok begannen, ihre Siebensachen zu ordnen. Wer bedenkt, dass der Passagier von Moskau bis zur Endstation über 166 Stunden unterwegs ist, versteht, dass Russen die letzten zweieinhalb Prozent der Reise als kurze Phase empfinden.
Bei einem Kurztrip schrumpft natürlich auch diese. Nehmen wir einen Sessellift im Oberland. Der 6er-Sessel schwebt dank raffinierter Kupplungstechnik langsam heran. Man setzt sich drauf, holt den Sicherheitsbügel herunter und stellt die Ski drauf. Neben einem sitzen Leute, die Züritütsch oder Holländisch sprechen. Nach einigen Minuten taucht in der Ferne die Bergstation auf, das hochalpine Wladiwostok. Sofort stirbt die Konversation, die ersten nehmen die Latten von der Stütze und lassen sie über dem Nichts baumeln, um für den Ausstieg bereit zu sein. Wer im Zirkus schon beobachtet hat, wie komplex sich ein ruhendes Kamel beim Aufstehen auseinanderfaltet, hält das Wegnehmen der Ski im Vergleich dazu für eine simple Sache von zwei Sekunden. Offenbar zu Unrecht. Darum nimmt die Dramatik zu, als die Bergstation näher rückt. Schon versuchen die Ersten, den Bügel hochzudrücken, obwohl noch Füsse draufstehen. Wollen sie, dass ich den Rückwärtssalto mache und im Fangnetz lande? Bitte nicht.
Heutige Bahnen sind benutzerfreundlich. Sie reduzieren auch bei der Ankunft das Tempo, sodass genügend Zeit bleibt, um vom Sessel zu steigen. Das war früher anders. Sessellifte waren fix am Seil befestigt. Wenn der Sessel um das Drehrad schoss, konnte ihn der Liftmann mit einem Handgriff für einen Moment verzögern. Dann liess er los, und man startete schaukelnd ins Abenteuer. Oben war wieder ein Bähnler, der den Sitz packte, so dass ein Zeitfensterchen für den Absprung entstand. Bei schwerfälligen Ankömmlingen musste die ganze Bahn kurz angehalten werden, da diese sonst Zeter und Mordio schrien.
Doch es war noch schlimmer. Ein Skilift war meist ein Schlepplift. Der Zweierbügel schoss um das Rad, ein Wärter riss ihn herunter und legte ihn dem Sportlerduo hinters Füdli. Mit einem Ruck gings los. Manche Skilifte führten fast senkrecht die Bergwand hoch. Falls jemand stürzte, zog er neben der Spur ein Alarmseil, worauf der Wärter die Bahn für Sekunden stoppte, damit man die Gliedmassen sortieren konnte. Kaum war die Wand geschafft, stand am flachen Zielpunkt ein Bergbauer mit Zipfelmütze und Rössli-Stumpen. Laut Anweisung sollte man ihm den Bügel geordnet in die Hand drücken. Viele Skifahrer liessen aber einfach los, sodass der Holzbügel wie ein Bumerang umherspickte, von wüsten Flüchen des Bauern begleitet. Jetzt, wo Sie das wissen, wird Ihnen allmählich klar, weshalb ich meine Ski immer etwas länger auf der Querstange verweilen lasse.
Markus Dütschler
Der «Bund»-Redaktor entschuldigt sich bei allen Mitpassagieren, denen er auf dem Sessellift den letzten Nerv ausgerissen hat.
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